Artikel 13 – Regressansprüche

In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen. 

1    Art. 13 VO schafft ein Gegengewicht dafür, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen nach Art. 7 VO auf Ausgleichszahlungen bzw. nach Art. 8 VO auf Erstattung von Ticketkosten und anderweitige Beförderung bzw. nach Art. 9 VO auf Betreuungsleistungen für Störungen bei der Flugabwicklung in Anspruch genommen werden kann, obwohl diese möglicherweise vom ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht verschuldet sind. Diese Haftungsfolgen gelten nach Art. 4 VO für die Nichtbeförderung, nach Art. 5 VO für die Annullierung und nach Art. 6 VO für die Verspätung, insbesondere für die große (Ankunfts-)Verspätung von mehr als 3 Stunden.

2    Die Regressansprüche des ausführenden Luftfahrtunternehmens für Leistungen nach der Verordnung sind ausdrücklich nicht beschränkt. Dies gilt insbesondere für den Regress gegenüber einem Reiseveranstalter, mit dem ein Chartervertrag geschlossen worden ist, oder mit einem sonstigen Vertragspartner (z.B. einem Flughafenbetreiber und dessen Abfertigungsbetrieb) oder beauftragten Dritten, wenn nicht genügend Enteisungsmittel vorgehalten wird. Sind diese Vertragspartner die Schadensverursacher, ist der Weg für den Regress nach Art. 13 VO frei (allgemein dazu: BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.)

3    Dabei begründet Art. 13 VO keinen eigenen Regressanspruch, sondern setzt diesen vielmehr voraus. Ein solcher Regressanspruch kann sich entweder aus dem zugrunde liegenden Vertrag (z.B. dem „Chartervertrag“) ergeben oder nach den Grundsätzen einer Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677, 683 BGB). So etwa, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast bei einer Flugpauschalreise einen Teil des Flugpreises erstattet, obwohl dies eigentlich eine Verpflichtung des Reiseveranstalters gewesen wäre. Das ausführende Luftfahrtunternehmen handelt insoweit ohne Auftrag, aber im Geschäftsinteresse des Reiseveranstalters, der den Pauschalreisevertrag mit dem Reisenden abgeschlossen hat.

4    Den Beschwerden der Luftfahrtbranche gegen die Belastungen aus der Fluggastrechte-Verordnung hält der EuGH regelmäßig entgegen, dass die Verpflichtungen gemäß der Verordnung unbeschadet des Rechts der Luftfahrtunternehmen zu erfüllen sind, bei anderen Schadensverursachern, auch Dritten, Regress zu nehmen, wie es Art. 13 VO vorsieht (allgemein dazu: BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.). Ein solcher Regress kann daher die Belastung dieser Beförderungsunternehmen aus den Verpflichtungen der Verordnung mildern oder sogar beseitigen. Wegen des Regressanspruchs können die Luftfahrtunternehmen damit belastet werden, den betroffenen Fluggästen einen Anspruch auf einen weder annullierten noch verspäteten Flug zu verschaffen (EuGH, Urt. v. 19.11.2009, verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck u.a. ./. Air France, Rn. 68, Slg I-2009 I-10923 = RRa 2009, 282 f., 289; so schon EuGH, Urt. v. 10.01.2006 – IATA und ELFAA ./. Department of Transport, Rs. C-344/04, Rn. 90, Slg. 2006, I-403 = RRa 2006,127).

5    Für den umgekehrten Fall der Regressnahme des Reiseveranstalters gegenüber der Fluggesellschaft folgt dessen Regressanspruch aus einem sogenannten Gruppenbeförderungsvertrag zwischen Reiseveranstalter und Fluggesellschaft. Soweit der Reiseveranstalter von den Reiseteilnehmern bei einer von ihm veranstalteten Flugpauschalreise wegen Flugannullierung oder sehr großer Verspätung bzw. Nichtbeförderung auf Gewährleistung aus Pauschalreisevertrag in Anspruch genommen wird, ergibt sich der Regressanspruch aus Gruppenbeförderungsvertrag i.V.m. §§ 631 ff, 278, 280 Abs. 2, 286 Abs. 1 BGB. Der Reiseveranstalter ist ansonsten zwar kein Anspruchsgegner für die Ansprüche aus der Verordnung, kann sich diese jedoch von dem einzelnen Fluggast im Sinne einer einheitlichen Regulierung des Schadensfalles abtreten lassen. Dann ergibt sich der Anspruch des Reiseveranstalters gegen den ausführenden Luftfahrtunternehmer z.B. wegen Ausgleichszahlungen aus Art. 7 Abs. 1 VO i.V.m. § 398 BGB aus abgetretenem Recht.

6    Dem steht das Montrealer Übereinkommen nicht entgegen, denn im Verhältnis zwischen Reiseveranstalter und Fluggesellschaft findet das Montrealer Übereinkommen keine Anwendung (so: OLG Frankfurt, Urt. v. 23.08.2007 − 3 U 207/06, RRa 2008, 38 f.; Urt. v. 15.11.2011 – 16 U 39/11, RRa 2012, 119 f.; LG Frankfurt, Urt. v. 21.07.2006 – 2-19 U 349/05, RRa 2008, 34 f.).

Artikel 12 – Weiter gehender Schadensersatz

(1) Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.

(2) Unbeschadet der einschlägigen Grundsätze und Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, einschließlich der Rechtsprechung, gilt Absatz 1 nicht für Fluggäste, die nach Artikel 4 Absatz 1 freiwillig auf eine Buchung verzichtet haben.

I. Allgemeines

1   Art. 12 VO regelt, dass diese Verordnung trotz eines weiter gehenden Schadens des Fluggastes gilt (Abs. 1 Satz 1) und bestimmt, dass eine „gewährte Ausgleichsleistung auf einen Schadensersatzanspruch“ angerechnet werden kann (Abs. 1 Satz 2). In der Praxis spielt diese Vorschrift u. a. bei Flugpauschalreisen eine Rolle, weil der Fluggast bei Ankunftsverspätungen nicht nur Ansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung gegenüber dem Luftfahrtunternehmen, sondern auch reisevertragliche Ansprüche (Minderung des Reisepreises) gegenüber dem Reiseveranstalter geltend machen kann. Aber auch in den Fällen, in denen der Fluggast wegen der verspäteten Ankunft am Flughafen Mehrkosten zur Beförderung zum Wohnsitz aufbringen muss, ist die Verrechnungsvorschrift zu beachten.

2   Die Verordnung regelt erkennbar nur das Rechtsverhältnis zwischen dem Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und insbesondere die Ansprüche eines Fluggasts gegen ein Luftfahrtunternehmen im Falle der Nichtbeförderung, Annullierung oder großen Verspätung.  Art. 3 Abs. 6 Satz 1 VO bestimmt ausdrücklich, dass diese Verordnung „die aufgrund der Richtlinie 90/314/EWG bestehenden (Fluggast-)Rechte unberührt“ lässt. Daraus lässt sich ableiten, dass Ansprüche, die ein Fluggast gegen einen Dritten (aus einem anderen Rechtsgrund) hat, unberücksichtigt bleiben müssen. Aus diesem Grund können z.B. Rückzahlungsansprüche eines Flugreisenden gegen einen Reiseveranstalter nach kraft Gesetzes eingetretener Minderung des Reisepreises wegen der erheblichen Verspätung eines Fluges nicht nach Art. 12 VO auf die Ansprüche auf Ausgleichszahlung angerechnet werden(umstr., siehe hierzu vertiefend unter IV.)

II. Die Anrechnung der gewährten Ausgleichsleistung auf einen Schadenersatz(Art. 12 Abs. 1 S.2)

1. Allgemeines

3   Das Montrealer Übereinkommen, die Fluggastrechte-Verordnung und die Regelungen des nationalen Rechts stehen als selbständige Regelwerke nebeneinander und ergänzen sich. Der EuGH hat entschieden, dass sich die in der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 getroffenen Regelungen als solche nicht ausschließen, dass Fluggäste, denen ein Schaden entsteht, der einen Ausgleichsanspruch auslöst, auch unter den im Montrealer Übereinkommen vorgesehenen Voraussetzungen (Art. 19, 22 und 29 MÜ) Klage auf Ersatz dieses Schadens erheben können (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA, Rn. 47, Slg. 2006, I-403, RRa 2006, 127 = NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112 = ZLW 2006, 582). So sei es nationalen Gerichten möglich, ein Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des den Fluggästen wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schadens auch auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Verordnung Nr. 261/2004 zu verurteilen, d. h. insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodríguez ./. Air France, Rn. 37, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916). Aus Art. 12 VO geht hervor, dass die den Fluggästen gewährte Ausgleichsleistung die Durchführung der in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen ergänzen soll, so dass den Fluggästen der gesamte Schaden, der ihnen durch die Verletzung der vertraglichen Pflichten des Luftfahrtunternehmens entstanden ist, zu ersetzen ist.

4   Der BGH hat in seinem Urteil vom 25.03.2010 (Xa ZR 96/09, RRa 2010, 221 = ZLW 2011, 133) die zutreffende Auffassung vertreten, dass sich aus Art. 12 VO selbst kein Schadensersatzanspruch ergibt; die Grundlage für einen nach dieser Vorschrift vorausgesetzten Anspruch müsse daher im nationalen Recht verankert sein. Bei Anwendung deutschen Rechts schulde ein Luftfahrtunternehmen dem Passagier Schadensersatz gemäß §§ 631 ff, 280 ff Abs. 1 BGB, wenn es schuldhaft gegen Verpflichtungen (z.B. aus dem Luftbeförderungsvertrag) verstoße.

Der Anspruch auf einen weiter gehenden Verspätungsschaden setzt aber stets voraus, dass ein konkreter Verspätungsschaden dargelegt und bewiesen wird (LG Darmstadt, Urt. v. 07.11.2007 – 7 S 89/07).

2. Der „weiter gehende Schadensersatz (Abs.1 S.1)

6    Der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ in Art. 12 Abs. 1 S. 1 VO ist nach Meinung des EuGH dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht ermöglicht, unter den Voraussetzungen des Montrealer Übereinkommens oder des nationalen Rechts Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schaden, einschließlich des immateriellen Schadens, zu gewähren. Dagegen könne der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ dem nationalen Gericht nicht als Rechtsgrundlage dafür dienen, ein Luftfahrtunternehmen zu verurteilen, den Fluggästen, deren Flug verspätet war oder annulliert wurde, die Kosten zu erstatten, die ihnen durch die Verletzung der diesem Unternehmen nach den Art. 8 und 9 VO obliegenden Unterstützungs- und Betreuungspflichten entstanden sind.

Daher drängt sich die Frage auf, ob eine geleistete Ausgleichszahlung auf einen reisevertraglicher Anspruch nach kraft Gesetzes eingetretener Minderung des Reisepreises (§ 651d BGB) der sich gegen einen Dritten richtet, auf diesen angerechnet werden kann. Schließlich soll mit der Minderung das Äquivalenzverhältnis des jeweiligen Vertrages wiederhergestellt werden und im Gegensatz hierzu dient der Schadensersatz der Befriedigung des Integritätsinteresses.

8     Stimmen in Literatur und Rechtsprechung verweisen zur Begründung der Gleichstellung von Minderungs- und Schadenersatzansprüchen im Rahmen der Anrechnung darauf, dass der Begriff des Schadensersatzes aus dem Sekundärrechtsakt autonom in einem umfassenden Sinne ausgelegt werden muss (siehe dazu Bollweg, RRa 2009, 10, 13; Leffers, RRa 2008, 258, 259 f.; Tonner VuR 2009, 212; Weise/Schubert, TranspR 2006, 340 (343); LG Frankfurt a.M. 29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222; AG Rostock 14.1.2013, RRa 2013, 92; zum Konkurrenzverhältnis von Schadensersatz- und Ausgleichsansprüchen siehe auch Staudinger BGB/Staudinger, § 651d Rn.8; § 651f, Rn. 7 f.).

9       Zu berücksichtigen ist aber, dass die Verordnung grundsätzlich nur das Rechtsverhältnis zwischen einem Fluggast und einem ausführenden Luftfahrtunternehmen regelt; andere Rechtsverhältnisse will es nicht regeln, auch wenn in Art. 2 VO die Begriffe „Reiseunternehmen“ (lit. d) und „Pauschalreise“ (lit. e) erläutert werden. Wäre dem nicht so,  wäre es für den europäischen Gesetzgeber ein Leichtes gewesen, in Art. 12 VO neben den weiter gehenden Schadensersatzansprüchen auch „Ansprüche gegen einen Reiseveranstalter“ aufzunehmen. Da dies nicht geschehen ist, muss im Rahmen der gebotenen engen Auslegung davon ausgegangen werden, dass mit „weiter gehenden Schadensersatzansprüchen“ nur solche Ansprüche gemeint sein sollen, die sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen Fluggast und Luftfahrtunternehmen ergeben (aA LG Frankfurt a.M. 29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222). Ansprüche des Fluggastes gegen einen Reiseveranstalter auf Minderung haben daher unberücksichtigt zu bleiben (aA LG Frankfurt a.M. aaO; siehe dazu auch →Art. 2 Rn. 38 ff.).

10    Ob mit dem Begriff „Schadensersatzansprüche“ in Art. 12 Abs. 1 VO nur materielle oder auch immaterielle Schadensersatzansprüche gemeint sind, ist unklar. Bollweg (RRa 2009, 10,11) sieht beide Ansprüche als erfasst an, da die Vorschrift keine Unterscheidung trifft und auch Art. 7 Abs. 1 VO nicht differenziert (siehe auch Leffers, RRa 2008, 258, 259). Der EuGH hat aber ausgeführt, dass die pauschale Ausgleichszahlung dem Ausgleich eines von den Fluggästen erlittenen Zeitverlusts dient (EuGH, Urt. v. 23.10.2012, verb. Rs C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und Rs. C-629/10 – TUI Travel u.a. ./. CAA, Rn. 74, RRa 2012, 272). Sähe man die Ausgleichszahlung als Ausgleich nur immaterieller Schäden an, schiede bei Beurteilung nach deutschem Recht eine Anrechnung aus, wenn der Fluggast auch einen materiellen Schaden (z.B. die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten, die wegen Annullierung eines gebuchten Fluges angefallen sind) geltend macht. Der BGH hat diese Frage wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung mit Beschl. v. 30.07.2013 (X ZR 111/12 und X ZR 113/12, RRa 2013, 233 = TranspR 2013, 447 = BeckRS 2013, 14698) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dabei hat er deutlich gemacht, dass für den Fall, dass über die Anrechnung nach nationalem Recht zu entscheiden sein sollte, es schließlich darauf ankomme, welche Beeinträchtigung die Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO kompensieren soll. Denn nach deutschem Recht könnten Ersatzleistungen für den materiellen Schaden nicht auf immaterielle Nachteile angerechnet werden und umgekehrt. Daher schiede eine Anrechnung aus, wenn die Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO nur dem Ausgleich immaterieller Schäden diente, da im Anlassstreit die Kläger Schadenersatzansprüche (Erstattung der Kosten für einen Ersatzflug, den Weitertransport zum Fährhafen, Übernachtungskosten und Verpflegung) geltend gemacht haben. (Ausführlich zu den Überlegungen im Einzelnen: Schuster RRa 2014, 2 [5 f.]). Da die Ausgleichszahlung aber (nur, zumindest aber überwiegend) eine Kompensation für durch die Flugzeitverlängerung erlittenen Unannehmlichkeiten sein soll (so EuGH 23.10.2012 verb Rs C-581/10 – Nelson und C-629/10 – TUI; ausführlich dazu Vorb →Rn 18), kommt eine Anrechnung nicht in Betracht.

11    Unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 06.05.2010 (Rs. C-63/09 – Walz ./. Clickair, Slg. 2010, I-4239 = RRa 2010, 180 = NJW 2010, 2113 = EuZW 264, Rn. 29), in dem er entschieden hat, dass die Begriffe „préjudice“ und „dommage“ in Kapitel III des französischen Textes des Montrealer Übereinkommens sowohl materielle als auch immaterielle Schäden umfassen, hat der EuGH in der Rodriguez-Entscheidung aber bereits klargestellt, dass der nach Art. 12 VO ersatzfähige Schaden nicht nur ein materieller, sondern auch ein immaterieller Schaden sein kann (Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, Rn. 41, RRa 2011, 282).

12    Entgegen der bislang ständig vertretenen Ansicht des LG Darmstadt (z.B. 2.3.2011 – 7 S 95/10, RRa 2011, 134 (137) = BeckRS 2011, 17043) sind  sind Forderungen auf Aufwendungsersatz wegen unterbliebener Unterstützungs- und Betreuungsleistungen (Art. 8 und Art. 9 VO) nicht „weiter gehender Schadensersatz“ im Sinne der Art 12 Abs. 1 Satz 1 VO. Die Ansprüche auf Ausgleichszahlung und solche auf Betreuungs- und Unterstützungsleistungen bestehen nebeneinander und sind daher unabhängig voneinander zu erfüllen. Das hat nunmehr der EuGH in der Rechtssache Sousa Rodríguez ./. Air France (Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776) zutreffend klargestellt (zuvor schon AG Frankfurt, Urt. v. 09.05.2006 – 31 C 2820705-74, RRa 2006, 181; AG Frankfurt, Urt. v. 10.05.2010 – 31 C 2339/10-74, RRa 2011, 193; AG Rüsselsheim, Urt. v. 21.09.2011 – 3 C 12/11 – 36; Wahl, RRa 2013, 262 ff.; a.A.: AG Köln, Urt. v. 18.08.2006 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44). Diese Ansicht ist auch rechtspolitisch die einzig vernünftige, weil andernfalls dasjenige Luftfahrtunternehmen begünstigt würde, das sich weigert, Unterstützungs- und Betreuungsleistungen zu gewähren. (Vgl. dazu auch die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 28.06.2011 in der Rs. C-83/10 – Sousa Rodríguez ./. Air France, Rn. 57 ff., RRa 2011, 185, (187 f.)).

13    Das AG Dortmund (04.03.2008 − 431 C 11621/07, RRa 2008, 188) urteilte zutreffend, dass ein Aufwendungsersatzanspruch wegen der Nichtgewährung einer Hotelübernachtung aus Art. 9 VO nicht auf eine Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO angerechnet werden darf. Gleiches gilt für den Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die Verpflegung, wenn das Luftfahrtunternhmen diese verweigert hat (AG Frankfurt a.M. 10.5.2010 – 31 C 2339/10-74, RRa 2011, 193).

14   Dagegen kann ein vorgerichtlich übergebener, aber nicht eingelöster Scheck nach Ansicht des AG Rüsselsheim (16.9.2010 – 3 C 732/10-32, RRa 2011, 53 = LSK 2011, 410236) auf eine zu zahlende Ausgleichsleistung angerechnet werden.

15    Verzugsschäden, die sich dadurch ergeben, dass ein Luftfahrtunternehmen seiner Verpflichtung zur Zahlung der Ausgleichsleistung nicht nachkommt, stellen keinen „weiter gehenden Schadensersatz“ dar, weil sie nicht aufgrund der Annullierung, Verspätung oder Nichtbeförderung entstanden sind (LG Frankfurt, Beschl. v. 15.03.2011 – 2-24 S 1/11, RRa 2011, 134; AG Frankfurt, Urt. v. 17.01.20114 – 30 C 2462/13-68). Wenn also ein Luftfahrtunternehmen die berechtigten Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung dem Fluggast gegenüber abgelehnt hat, kann dieser einen Rechtsanwalt nochmals mit der außergerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche beauftragen und die Kosten der anwaltlichen Tätigkeit als Verzugsschäden ersetzt verlangen (AG Frankfurt, Urt. v. 10.05.2010 – 31 C 2339/10-74; AG Rüsselsheim 24.6.2010 − 3 C 320/10-32, RRa 2010, 232, BeckRS 2014, 17980; 10.8.2011 − 3 C 237/11-36, RRa 2011, 247; 5.7.2013 – 3 C 145/13-27; AG Frankfurt a.M. 6.12.12 – 31 C 2553/12-78, RRa 2013,138 = BeckRS 2013, 02560; AG Frankfurt a.M. 17.1.2014 – 30 C 2462/13-68, RRa 2014, 254).

16       Ein Anspruch auf Ersatz der infolge einer verspäteten Ankunft eines Fluges zusätzlich angefallenen Kosten für die Bahnfahrt vom Flughafen zum Wohnort des Reisenden kann nach Ansicht des LG Frankfurt (Urt. v. 05.12.2014 – 2-24 S 66/14, RRa 2015, 27) nach Art.12 Abs. 1 S.2 VO angerechnet werden.

17  Der als Minderung gewährte Rückerstattungsanspruch hinsichtlich verwendeter Bonusmeilen stellt nach einem Urteil des AG Köln vom 26.07.2011 – 126 C 96/09, RRa 2011, 56 keinen Anspruch dar, der nach Art. 12 Abs. 1 VO anzurechnen wäre.

III. Anrechnung von geleisteten Ausgleichszahlungen auf Forderungen gegen Dritte

18    Fraglich ist, wie nach geleisteter Ausgleichszahlung mit Forderungen gegen Dritte (z.B. Reiseveranstaltern) umzugehen ist. Das LG Frankfurt a.M. (29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222) hat entschieden, dass die vom Luftfahrtunternehmen gewährte Ausgleichszahlung auf einen danach gegenüber dem Reiseveranstalter geltend gemachten Anspruch auf Rückzahlung des (vollen oder anteiligen) Reisepreises nach eingetretener Minderung anzurechnen ist. Die Kammer vertritt die Auffassung, dass Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO auch für solche Ansprüche gilt, die gegenüber einem anderen Anspruchsgegner geltend gemacht werden und die auf einer Minderung beruhen. Der Bundesgerichtshof (30.9.2014 – X ZR 126/13, RRa 2015, 17 = NJW 2015, 553 = BeckRS 2014, 21087) vertritt die Ansicht, dass es sich bei einem Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises wegen Minderung aufgrund großer Verspätung um einen weitergehenden Schadensersatzanspruch nach Art. 12 Abs. 1 VO handelt und dass die nach der Fluggastrechte Verordnung allein wegen der großen Verspätung gewährte Ausgleichsleistung auf den Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises wegen Minderung nach § 651d BGB aufgrund derselben großen Verspätung anzurechnen ist. Der X. Zivilsenat hat hervorgehoben, dass die Anrechnung auch nicht im Hinblick darauf ausgeschlossen ist, dass Schuldner des Ausgleichsanspruchs nach der Fluggastrechte-Verordnung das ausführende Luftfahrtunternehmen und Schuldner des Anspruchs auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises nach § 651d BGB der Reiseveranstalter, also ein Dritter ist. Das Gericht hat unterstellt, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen bei Erfüllung der ihm aus der Fluggastrechte-Verordnung erwachsenden Verpflichtungen mit Wirkung für und gegen den Reiseveranstalter handelt. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung anklingen ließ, dass die Anrechnung einer bereits gewährten Ausgleichsleistung dann anzunehmen ist, wenn und soweit das Minderungsrecht allein auf dem Umstand der Flugverspätung gestützt wird. Da es sich bei dem verspäteten Flug um den Rückflug handelte, kann ausgeschlossen werden, dass ein Verlust von bezahlten Reiseleistungen nicht eingetreten ist. Hieraus ist im Umkehrschluss anzunehmen, dass bei einem erheblich verspäteten Hinflug und daraus resultierender Folge, dass bezahlte Leistungen im Zielgebiet nicht in Anspruch genommen werden können (z.B. eine Hotelübernachtung oder Kreuzfahrt), die Anrechnung nicht erfolgen kann, da die Minderung nicht nur auf den Umstand der Flugverspätung, sondern auf den Umstand des Eingriffs in das Äquivalenzverhältnis gestützt wird. Auf einen (weitergehenden) Anspruch auf Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit nach § 651f Abs. 2 BGB ist die gewährte Ausgleichszahlung aus diesem Grund anzurechnen.

18a       Fordert der Fluggast Ersatz für die durch die Ankunftsverspätung zusätzlich entstandenen Kosten für die Weiterbeförderung oder eine ungeplante Hotelübernachtung, ist auf diesen weitergehenden Schaden die Ausgleichszahlung nicht anzurechnen. Die u. a. von Bollweg (Fundstelle RRa) geäußerte Besorgnis der Überkompensation ist unbegründet, da nach der Ansicht des EuGH (Rs. 581/10 – Nelson ./. Lufthansa) unter Bezugnahme auf das Sturgeon-Urteil die Verordnung darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder von einer Annullierung oder großen Verspätung eines Fluges betroffen sind, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind. Es soll mit der Ausgleichszahlung nur der von den Fluggästen erlittene Zeitverlust kompensiert werden. Wenn durch die große Verspätung ein weiterer materieller Schaden eingetreten ist, kann die Ausgleichszahlung nicht hierauf angerechnet werden. Würde man das zulassen, wären die Fluggäste, die neben dem Zeitverlust eine Vermögenseinbuße erleiden, gegenüber den Fluggästen ohne materiellen Schaden benachteiligt.

1. Anrechnung von Zahlungen Dritter auf den Ausgleichsanspruch

19    Dem Wortlaut nach hat der europäische Gesetzgeber nur den Fall geregelt, bei dem zunächst eine Ausgleichsleistung gefordert und geleistet wurde und danach ein weitergehender Schadensersatz verlangt wird. In der Rechtsprechung und der Literatur wird dennoch die Frage diskutiert, ob umgekehrt auch ein geleisteter Schadensersatz auf eine danach geforderte Ausgleichsleistung angerechnet werden kann.

20   Nach einer Entscheidung des AG Rüsselsheim (10.08. 2011 − 3 C 237/11-36, RRa 2011, 244; aA AG Rüsselsheim 10.08.2010 − 3 C 1528/09-32, RRa 2010, 290) kann auch die Zahlung eines Dritten auf den geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlung angerechnet werden. Auch das AG Köln hat eine Anrechnung eines geleisteten Schadensersatzes auf einen Anspruch auf Ausgleichsleistung vorgenommen, ohne aber auf den entgegenstehenden Wortlaut der Verordnung einzugehen (18.08.2013 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44 = LSK 2007, 240214 = juris).

21   Demgegenüber rechnet das LG Darmstadt (1.12. 2010 − 7 S 66/10, RRa 2011, 89 = BeckRS 2011, 08685 = juris; 6.4.2011 − 7 S 122/10, RRa 2011, 290) nur gewährte Ausgleichsleistungen auf weiter gehende Schadensersatzansprüche an und schließt eine umgekehrte Anrechnung aus (ebenso: AG Frankfurt a.M. 4.12.2013 – 31 C 2243/13-17).

22    Der BGH hat im Urt. v. 18.02.2010 (Xa ZR 164/07, RRa 2010, 151) einen vom Berufungsgericht (unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Minderung des Flugpreises) anerkannten Teilbetrag als Teilerfüllung des Ausgleichsanspruchs aus Art. 7 VO berücksichtigt, dabei aber darauf hingewiesen, dass in der Verspätung des Fluges regelmäßig kein Mangel der Flugleistung gesehen werden könne, der einen zusätzlichen Minderungsanspruch begründen könnte (BGH, a.a.O, Rn. 19; so schon im Urt. v. 28.05.2009 – Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 = NJW 2009, 2743). Im Urteil vom 30.09.2014 (X ZR 126/13, Rn. 10, RRa 2015, 17) hat er dann aber entschieden, dass ein Anspruch auf teilweise Rückzahlung des Reisepreises wegen Minderung einen weitergehenden Schadenersatzanspruch darstellt, auf den eine Ausgleichsleistung nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO angerechnet werden kann (siehe dazu auch Schuster, RRa 2015, 2, (5 f)).

23     In einem weiteren Rechtsstreit hat das LG Frankfurt das Verfahren ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen am 31. Juli 2013 (ABl. EG Nr. C 325, S.13) an den EuGH gerichtet. In diesem Verfahren ging es um die Beantwortung der Frage, ob einem Fluggast eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO wegen großer Verspätung in voller Höhe auch dann zusteht, wenn zuvor ein nicht zu den Fluggästen zählender Dritter wegen der Verspätung dem Fluggast zum Ausgleich eine Zahlung geleistet hat. Für den Fall, dass die Anrechnung bejaht wird, hat das Landgericht die Frage gestellt, ob dies nur für Schadensersatzansprüche im Sinne der nationalen deutschen Rechtsordnung oder auch für Ansprüche auf Minderung gilt. Mit der Entscheidung in dieser Rechtssache C-431/13 – Vietnam Airlines ./. Voss hätten einige bislang noch ungeklärte Fragen einer Beantwortung zugeführt werden können. Leider ist das Verfahren zuvor beendet und am 05.06.2014 wieder aus dem Register beim EuGH gestrichen worden (ECLI:EU:C2014:2019).

24       Nachdem der BGH die Frage der Anrechnung zweimal zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte (Beschl. v. 30.07.2013 – X ZR 111/12, RRa 2013, 233; Beschl. v. 30.07.2013 – X ZR 113/12) hätte der EuGH zu dieser Rechtsfrage Stellung nehmen können, hätten sich nicht beide Verfahren zuvor erledigt Schuster, a.a.O., Fn. 21).

25     Auch das AG Hannover (13.08.2015 – 518 C 3469/15) hatte sich mit dieser Rechtsfrage zu befassen. Der Reiseveranstalter zahlte den Fluggästen aufgrund der Flugverspätung vorprozessual 450,- €. Die Fluggäste verlangten vom Luftfahrtunternehmen weiterhin die volle Ausgleichszahlung nach der Verordnung. Das Amtsgericht hat dem Luftfahrtunternehmen die Anrechnung des geleisteten Minderungsbetrages auf den im Prozess geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlung versagt. Es hat diese Entscheidung allein mit dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 S 2 VO begründet. Das LG Hannover erteilte in der Berufungsinstanz den Hinweis, dass auch Leistungen eines Reiseveranstalters auf einen Ausgleichsanspruch anzurechnen sind.

26    In der Literatur wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass nicht nur gewährte Ausgleichszahlungen auf weitergehende Schadensersatzansprüche, sondern auch Zahlungen Dritter auf den Anspruch auf Ausgleichszahlung anzurechnen sind (siehe Bollweg RRa 2009, 10 (11 f); Leffers RRa 2008, 258 (261); Staudinger/Schürmann NJW 2011, 2769, 2774; Hausmann S. 486 ff.; StaudBGB/Staudinger § 651f Rn.8; Wahl RRa 2013, 262 ff.; aA Wagner VuR 2006, 337, 339).

27     Bollweg (aaO) stellt darauf ab, dass es zu einer Überkompensation komme, wenn eine Anrechnung von Schadensersatzansprüchen auf Ausgleichsansprüche abgelehnt würde (so wohl auch BGH Beschl 30.07.2013 – X ZR 111/12, RRa 2013, 233 und X ZR 113/12; siehe dazu auch Schuster RRa2014, 2 [5]. Zudem dürfe die Anrechnung nicht von der Zufälligkeit abhängen, ob sich der Fluggast zunächst mit Ansprüchen aus der Verordnung an das ausführende Luftfahrtunternehmen wendet und danach weiter gehende Forderungen an den Reiseveranstalter bzw. bei einem Nur-Flug wiederum an das vertragliche Luftfahrtunternehmen stellt oder seine Rechte in umgekehrter Reihenfolge geltend macht. Die Verfahren wurden beim EuGH als verb Rechtssachen C-475/13 – 1 Rubin ./. easyJet und C-47613 – Wetzlaff ./. easyJet geführt, aber am 21.04.2014 nach Anerkenntnis der Forderungen durch das Luftfahrtunternehmen wieder aus dem Register gestrichen (ECLI:EU:C:2014:1386).

28   Hausmann  Kap 5 C II folgt Bollweg (aaO) und gibt der wechselseitigen Berücksichtigung der Leistungen den Vorzug (ihm folgend: StaudBGB/Staudinger § 651f Rn.8). Er geht davon aus, dass die ausdrückliche Normierung nur einer einzigen Konstellation in Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO darauf beruhe, dass die Verfasser der Verordnung diese als den Regelfall angesehen haben, weil der pauschalierte Ausgleichsbetrag schneller und einfacher zu erlangen sei als ein konkret nachzuweisender Schadensersatz auf anderer Rechtsgrundlage. Das ist aber reine Spekulation. Es ist nicht ausreichend, darauf hinzuweisen, es sei nicht erkennbar, dass der Unionsgesetzgeber die spiegelbildliche Anrechnungsmöglichkeit ausschließen wollte. Denn auch der gegenteilige Wille ist nicht auszuschließen.

29    Die Kommission hat schon 2003 in einer Stellungnahme zu einem Änderungsvorschlag des EU-Parlaments die Ansicht vertreten, dass Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO beibehalten werden müsse, um zu verhindern, dass ein Luftfahrtunternehmen einem doppelten Schadensersatz (Ausgleichsleistung und Schadensersatz aus anderem Rechtsgrund) auferlegt werde (siehe Stellungnahme vom 11.08.2003 zu den Abänderungen des Europäischen Parlaments betreffend den Vorschlag für die Verordnung [COD (2001)0305, dort unter 4.2, betreffend Abänderung 15). Auch wenn das nicht ausdrücklich gesagt wird, spricht das dafür, dass es auf die „Anrechnungsrichtung“ nicht ankommen soll.

30    Einer Anrechnung eines geleisteten Schadensersatzes auf einen Anspruch auf Ausgleichsleistung steht aber der Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO entgegen, der lediglich die erste Konstellation erfasst. Daher ist der engen, am Wortlaut orientierten Auslegung der Vorzug zu geben.

31         Auch wenn man Bollweg (a.a.O.) und Hausmann (a.a.O.)   folgt und von einer wechselseitigen Anrechnungsmöglichkeit ausgeht, darf bei einer Flugpauschalreise weder ein Luftfahrtunternehmen noch ein Reiseveranstalter einen Fluggast darauf verweisen, zunächst Ansprüche bei dem jeweils anderen Anspruchsgegner geltend zu machen, um dann nur noch den überschießenden Teil der eigenen Verpflichtung erfüllen zu müssen (so zutreffend: Hausmann S. 489; Tonner, VuR 2009, 209, 212; ders., in : Gebauer/Wiedmann, Rn. 131).

V. Die Berechtigung zur Anrechnung

32      Die Anrechnung ist nicht zwingend. Sie kann, muss aber nicht erfolgen.

33     Unklar ist,  an wen sich die Formulierung „kann“ richtet.

34         In der Literatur wird die Meinung vertreten, dass das Luftfahrtunternehmen Adressat dieser Vorschrift sei und deshalb die Anrechnung von diesem erklärt werden muss (Führich Reiserecht § 42 Rn. 37; ders. MDR 7/2007, Sonderbeilage S. 11); ein Gericht soll die Anrechnung nicht ohne Antrag des Luftfahrtunternehmens vornehmen können (Hausmann S. 489; Wahl RRa 203, 262 [268], offen lassend: StaudBGB/Staudinger, § 651f Rn. 9). Auch das AG Köln (18.5.2006 – 121 C 502/05, RRa 2017, 44) hat dem Luftfahrtunternehmen die Befugnis eingeräumt, sich auf die Anrechnung zu berufen, wenn der Fluggast neben dem vom Luftfahrtunternehmen anerkannten Ausgleichsanspruch weitergehenden Schadensersatz verlangt. In diesen Fällen soll das Gericht gebunden sein (so Staudinger/Keiler, HK FluggR/Bollweg, Art. 12 Rn. 96; Führich Rn. 37).

34a       Dagegen vertritt das LG Köln (09.04.2013 – 11 S 241/12) die zutreffende Auffassung, dass den Gerichten keine zwingende Anrechnung vorgeschrieben sei; vielmehr sei es Sache des Gerichts, zu entscheiden, ob eine Anrechnung unter den gegebenen Umständen des Einzelfalles angemessen ist. Das Gericht beruft sich dabei auf die Ausführungen der Generalanwältin beim EuGH Sharpston (28.06.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, Rn. 63 f., RRa 2011, 185 (188) Diese hat in Rn 64 ihrer Schlussanträge darauf hingewiesen, dass „keine Anrechnungspflicht“ bestehe und die Ansicht vertreten, dass es „stets“ Sache des zuständigen Gerichts sei, zu entscheiden hat, ob eine Anrechnung unter den Umständen des Einzelfalls angemessen ist oder nicht. Es bestehen keine Zweifel, dass sie als Adressaten des Art. 12 VO die nationalen Instanzgerichte sieht.

34b      Der EuGH hat in der Sousa Rodriguez-Entscheidung (13.10.2011, Rs. C-83/10, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916) in seinem Urteilsgründen zwar nicht ausdrücklich und klar Stellung genommen. Doch weist er in Rn 38 darauf hin, dass Art. 12 VO es dem nationalen Gericht ermögliche, „das Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des den Fluggästen wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrages entstandenen Schaden auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu verurteilen, d.h. insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal.“ Diesen Ausführungen kann man nur entnehmen, dass das Gericht der Rechtsansicht der Generalanwältin folgt.

35     Nach Art. 12 Abs. 2 VO gelten für einen Fluggast, der auf einem überbuchten Flug gebucht war und gemäß Art. 4 Abs. 1 VO als „Freiwilliger“ auf seine Buchung verzichtet und dafür aufgrund einer besonderen Vereinbarung mit dem Luftfahrtunternehmen als Äquivalent für den Ausgleichsanspruch eine Kompensation („entsprechende Gegenleistung“) erhalten hat, die Regelungen des Art. 12 Abs. 1 VO nicht. Das bedeutet zum Einem, dass die Anrechnungsregel des Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO (Anrechnung einer gewährten Ausgleichsleistung auf einen weitergehenden Schadensersatzanspruch) ausgeschlossen ist.

36    Zum anderen bedeutet die Regel des Art. 12 Abs. 2 VO auch, dass einem nach Art. 4 Abs. 1 VO freiwillig zurücktretenden Fluggast die Möglichkeit der Geltendmachung eines weiter gehenden Schadensersatzanspruch versperrt ist (so auch Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss [2. Aufl. 2010], Kap. 15, Rn. 132). Wer also als „Freiwilliger“ auf seinen Beförderungsanspruch verzichtet, muss dies bei der Verhandlung über die Höhe der Kompensation berücksichtigen und prüfen, ob ihm durch die Nichtbeförderung ein ersatzfähiger weiter gehender Schaden entstanden ist (z.B. Kosten für ein Hotelzimmer oder einen Mietwagen, die er am Zielort wegen der verspäteten Ankunft des Ersatzfluges nicht in Anspruch nehmen kann), der durch die Kompensation nicht abgedeckt ist. Tonner (a.a.O.) weist zu Recht darauf hin, dass bei einem freiwilligen Verzicht auf die gebuchte Beförderung das Luftfahrtunternehmen auch darauf hinweisen muss, dass ein „Freiwilliger“ i.S.d. Art. 4 VO von der Geltendmachung einer weiteren Schadensersatzleistung ausgeschlossen ist. Kommt das Luftfahrtunternehmen dieser Pflicht nicht nach, kann es sich nicht auf Art. 12 Abs. 2 VO berufen.

Artikel 11 – Personen mit eingeschränkter Mobilität oder mit besonderen Bedürfnissen

(1) Die ausführenden Luftfahrtunternehmen geben Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen oder Begleithunden mit entsprechender Bescheinigung sowie Kindern ohne Begleitung bei der Beförderung Vorrang.

(2) Im Fall einer Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung von beliebiger Dauer haben Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen sowie Kinder ohne Begleitung Anspruch auf baldmögliche Betreuung gemäß Artikel 9.

1    In Art. 11 VO hat der europäische Gesetzgeber für „Personen mit eingeschränkter Mobilität“ oder besonderen Bedürfnissen eine Vorrangregel aufgestellt. Das betrifft zum einen Personen, deren Mobilität bei der Benutzung von Beförderungsmitteln aufgrund einer körperlichen Behinderung (sensorischer oder motorischer Art, dauerhaft oder vorübergehend), einer geistigen Beeinträchtigung, ihres Alters oder aufgrund anderer Behinderungen eingeschränkt ist und deren Zustand besondere Unterstützung und eine Anpassung der allen Fluggästen bereitgestellten Dienstleistungen an die Bedürfnisse dieser Person erfordert (Art. 2 lit. i VO). Zu den Personen mit besonderen Bedürfnissen zählen Kinder, die ohne Begleitung (sog. UM = unaccompanied minors) fliegen.

2    Diese Personen haben Anspruch auf vorrangige Beförderung. Bei Personen mit eingeschränkter Mobilität bezieht sich das auch auf deren Begleitpersonen (Betreuer) oder Begleithunde.

3    Darüber hinaus können diese Personen die Betreuungsleistungen aus Art. 9 VO bereits dann in Anspruch nehmen, wenn die Fristen, die für eine Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen gelten, noch nicht abgelaufen sind. Dies hat vor allem Bedeutung bei der Nichtbeförderung und der Verspätung von Flügen.

4    Weitere Rechte sind behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität durch die Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 vom 05.07.2006 (ABl. EG 2006 L 204, 1) eingeräumt worden.

Artikel 10 – Höherstufung und Herabstufung

(1) Verlegt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast in eine höhere Klasse als die, für die der Flugschein erworben wurde, so darf es dafür keinerlei Aufschlag oder Zuzahlung erheben.

(2) Verlegt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast in eine niedrigere Klasse als die, für die der Flugschein erworben wurde, so erstattet es binnen sieben Tagen nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten

a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger 30 % des Preises des Flugscheins oder

b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km, mit Ausnahme von Flügen zwischen dem europäischen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und den französischen überseeischen Departements, und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km 50 % des Preises des Flugscheins oder

c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen, einschließlich Flügen zwischen dem europäischen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und den französischen überseeischen Departements, 75% des Preises des Flugscheins.

I. Allgemeines

1    In Art. 10 VO wird die Verlegung eines Fluggastes in eine andere als der gebuchten „Klasse“ geregelt. Dies kann sich z.B. ergeben, wenn der Flug in der gebuchten Klasse überbucht wurde oder wenn einem Fluggast nach Art. 8 Abs. 1 VO eine „anderweitige Beförderung zum Endziel“ angeboten wird, und auf diesem Flug kein Sitzplatz in der gebuchten Beförderungsklasse mehr frei ist. In solchen Fällen dürfen dem Fluggast durch eine Verlegung in eine andere Klasse aber keine finanziellen Nachteile entstehen. Anders verhält es sich aber, wenn die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 lit. a VO nicht vorliegen, z.B. wenn sich der Passagier nicht rechtzeitig zur Abfertigung einfindet. Wird dieser dann doch noch als Passagier angenommen, aber nur noch in einer niedrigeren als der gebuchten Klasse, weil (nach Annahme von auf der Warteliste stehenden Fluggästen) in der gebuchten Beförderungsklasse kein Sitzplatz mehr frei ist, kann er sich nicht auf Art. 10 VO berufen (so auch: Hausmann, Europäische Fluggastrechte, S. 334).

2    Mit dem Begriff „Klasse“ ist die Beförderungsklasse (First Class, Business Class, Comfort Class oder Economy Class) gemeint, nicht die (i.d.R. mit Buchstaben gekennzeichnete) „Buchungsklasse“ (Tarifklasse) innerhalb einer Beförderungsklasse, an die bestimmte Bedingungen wie Vorausbuchungsfrist, Mindestaufenthalt, Umbuchungsmöglichkeit etc. geknüpft sind (z.B. A = Discount First, C = Business Full Fare, D = Discount Business, F= Full fare First, J = Full Fare Business, interlinefähig, N = PAD, P = Economy, S = Discount Eco, usw.).

II. Höherstufung (upgrade)

3    Gemäß Art. 10 Abs. 1 VO darf für eine Verlegung in eine höhere Klasse kein Aufschlag verlangt werden, obwohl eigentlich eine Vertragsänderung vorliegt, sobald der Fluggast einer Beförderung in der höheren Beförderungsklasse zustimmt.

III. Herabstufung (downgrade)

4    Art. 10 Abs. 2 VO erfasst den Fall der Herabstufung in eine niedrigere Beförderungsklasse als gebucht. In einem solchen Fall entsteht dem Fluggast ein entfernungsabhängig gestaffelter Anspruch auf teilweise Erstattung des Flugpreises. Diese orientiert sich an den Entfernungsstaffeln des Art. 7 Abs. 1 VO, so dass je nach Flugentfernung 30 % des Preises des Flugscheines, 50 % oder 75 % des Preises des Flugscheines von dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zurückzuzahlen sind, je nachdem, ob es sich um einen Flug über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger, um einen Flug zwischen 1.500 km und 3.500 km oder um einen Flug über 3.500 km hinaus handelt. Damit ist nicht die Preisdifferenz zwischen der gebuchten und der niedrigeren (tatsächlichen) Beförderungsklasse zu zahlen (so auch: Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2. Aufl. 2010), Rn. 19; Hausmann, Europäische Fluggastrechte [2012], S. 340).

IV. Die Berechnung des zu erstattenden Flugpreises

5       Für den Fall der Herabstufung eines Fluggasts auf einem Flug hat der EuGH am 22.06.2016 (Rs. C-255/15 – Mennens ./. Emirates, RRa 2016, 181) entschieden, dass für die Ermittlung der dem betroffenen Fluggast geschuldeten Erstattung der Preis des Fluges zugrunde zu legen ist, auf dem der Fluggast herabgestuft wurde. Ist ein solcher Preis auf dem (den Fluggast zur Beförderung auf diesem Flug berechtigenden) Flugschein nicht angegeben, soll auf den Teil des Flugscheinpreises abgestellt werden, der dem Quotienten aus der Länge der betroffenen Flugstrecke und der der Gesamtstrecke der Beförderung entspricht, auf die der Fluggast einen Anspruch hat (Leitsatz).

6       Weiter ungeklärt ist die Frage, wie der Erstattungsbetrag zu berechnen ist, wenn der Flugscheinpreis dem Fluggast überhaupt nicht bekannt ist. Die Antwort auf diese Frage ist aber wichtig, wenn das Downgrading auf einem Flug stattfindet, der im Rahmen einer Flugpauschalreise durchgeführt wird. In diesen Fällen wird dem Fluggast in aller Regel nicht mitgeteilt, welchen Anteil des Pauschalreisepreises auf die Luftbeförderung entfällt. In solchen Fällen wird dem Fluggast nichts anderes übrig bleiben als im Wege einer vorgeschalteten Auskunftsklage das ausführende Luftfahrtunternehmen zu zwingen, ihm mitzuteilen, welchen Preis es vom Reiseveranstalter für die Durchführung des Fluges bezahlt hat. Ein solcher Auskunftsanspruch dürfte allerdings dann ins Leere gehen, wenn das Luftfahrtunternehmen, das ursprünglich mit der Durchführung der Luftbeförderung betraut wurde, ein andereLuftfahrtunternehmen im Wege des Subcharters mit der tatsächlichen Durchführung beauftragt.

 7       Der EuGH (a.a.O.) hat ferner entschieden, dass für die Ermittlung der einem Fluggast im Fall einer Herabstufung auf einem Flug nach Abs. 2 geschuldeten Erstattung nur der Preis des reinen Fluges ohne die auf dem Flugschein ausgewiesenen Steuern und Gebühren zu berücksichtigen ist (Leitsatz 2). Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Steuern und Gebühren weder dem Grunde noch der Höhe nach von der Klasse abhängen, für die der Flugschein erworben wurde. Da viele Fluggesellschaften aber zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit mit sog. Billig-carriern häufig „Steuern“ oder „Gebühren“ angeben, die rechtlich gesehen keine sind (z.B. eine „Administrationsgebühr“ oder eine „261-Gebühr“) oder die in der angegebenen Höhe nicht angefallen (und an den Gebührengläubiger nicht abgeführt worden) sind, wird der Fluggast die vom Gesamtflugpreis in Abzug gebrachten (echten) „Steuern und Gebühren“ genau prüfen müssen, ob diese dem Grunde nach oder in der behaupteten Höhe angefallen und gezahlt worden sind. Sobald auch nur ernsthafte Zweifel an der richtigen Berechnung bestehen, sollte der Fluggast die Fluggesellschaft auffordern, diese »Steuern und Gebühren« dem Grunde und/oder der Höhe nach zu belegen. Wird das verweigert, ist eine vorgeschaltete Auskunftsklage geboten. Entstehen die Zweifel erst im Laufe eines Gerichtsverfahrens, dürfte es ausreichen, wenn der Fluggast, die von der Fluggesellschaft in Abzug gebrachten Steuern und Gebühren dem Grunde und/oder der Höhe nach bestreitet. Dann muss das Luftfahrtunternehmen konkret darlegen und beweisen, dass diese a) auf den konkreten Flug, b) in der geltend gemachten Höhe tatsächlich vom Gebührengläubiger erhoben und c) vom Luftfahrtunternehmen auch tatsächlich an den jeweiligen Gebührengläubiger abgeführt worden sind.

8       Da der EuGH sich nur mit den konkreten Vorlagefragen befassen muss, ergibt sich aus dem Urteil des EuGH leider auch kein Hinweis, wie der (Netto-) Flugpreis ermittelt werden soll, wenn dieser dem Fluggast gar nicht bekannt ist. Dieses Problem entsteht insbesondere bei Flügen, die im Rahmen einer Flugpauschalreise durchgeführt werden, bei der der Flugpreis Teil des Gesamt-Reisepreises ist und dem Fluggast vom Reiseveranstalter bewusst nicht offen gelegt wird.

Denkbar ist zwar grundsätzlich auch hier eine Auskunftsklage gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, das so gezwungen werden kann, den Flugpreis, den der Reiseveranstalter bezahlt hat, offenzulegen und Auskunft darüber zu geben, welchen (echten) Steuern und Gebühren abgeführt wurden.

Dieser Weg ist aber wohl nicht möglich, wenn das vom Reiseveranstalter beauftragte Luftfahrtunternehmen die Luftbeförderung im Wege des Subcharters durch ein anderen Unternehmen hat durchführen lassen. Dieses dürfte im Regelfall den zwischen dem Reiseveranstalter und dem ursprünglichen Luftfahrtunternehmen ausgehandelten Flugpreis nicht kennen und schon gar nicht den Anteil, den der Netto-Flugpreis am Gesamt-Flugpreis ausmacht. Das Subcharter-Unternehmen wird allenfalls mitteilen können, welchen Preis es von beauftragenden Luftfahrtunternehmen für die Ersatz-Beförderung erhalten hat. Dieser Preis dürfte aber in aller Regel nicht identisch sein mit dem Flugpreis, den der Reiseveranstalter an das von ihm beauftragte Luftfahrtunternehmen gezahlt hat. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis der BGH oder der EuGH sich auch mit dieser Frage befassen werden.

9    Für die Rückerstattung setzt die Verordnung eine Frist von 7 Tagen, wobei die in Art. 7 Abs. 3 VO bezeichneten Zahlungswege genutzt werden müssen. Letzten Endes regelt die Verordnung insoweit eine prozentuale Minderung, gerechnet auf den Preis des Flugscheins.

Artikel 9 – Anspruch auf Betreuungsleistungen

1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so sind Fluggästen folgende Leistungen unentgeltlich anzubieten:

  1. a) Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit,
  2. b) Hotelunterbringung, falls 

–   ein Aufenthalt von einer Nacht oder mehreren Nächten notwendig ist oder 

–   ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig ist,

  1. c) Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel oder Sonstiges).

(2) Außerdem wird den Fluggästen angeboten, unentgeltlich zwei Telefongespräche zu führen oder zwei Telexe oder Telefaxe oder E-Mails zu versenden.

(3) Bei der Anwendung dieses Artikels hat das ausführende Luftfahrtunternehmen besonders auf die Bedürfnisse von Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen sowie auf die Bedürfnisse von Kindern ohne Begleitung zu achten. 

1           Wie die Ereignisse um tagelange Streiks an europäischen Flughäfen oder die Folgen der Sperrung des europäischen Luftraums wegen der verschiedenen isländischen Vulkanaschewolken gezeigt haben, hat der Anspruch auf Betreuungsleistungen gemäß Art. 9 VO seine besondere Berechtigung. Im Vordergrund der allgemeinen Diskussion mag zwar der Ausgleichsanspruch auf pauschalen Schadensersatz (Art. 7 VO) stehen; im Zusammenhang mit geschlossenen Flughäfen, gesperrten Lufträumen und wegen Streiks abgesagten Flügen können sich die ausführenden Luftfahrtunternehmen aber bei Flugannullierung oder großen Ankunftsverspätungen von mehr als 3 Stunden entlasten, indem sie sich auf „außergewöhnliche Umstände“ (Art. 5 Abs. 3 VO) berufen (zum Fluglotsenstreik: AG Königs Wusterhausen 31.1.2011 – 4 C 308/10, RRa 2011, 240 = BeckRS 2011, 21454) .

.

2           Gleichwohl sind an europäischen oder auch außereuropäischen Flughäfen gestrandete Fluggäste von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft (Art. 2 lit. c VO) rechtlich nicht allein gelassen. Denn in solchen Fällen bestehen – neben den vielfältigen Ansprüchen auf Unterstützung durch das ausführende Luftfahrtunternehmen gemäß Art. 8 VO – auch umfangreiche Ansprüche auf unentgeltliche Betreuungsleistungen nach Art. 9 VO (→ Rn.4).

 3      Die in Art. 9 VO statuierten Ansprüche sind zwingendes Recht (Art. 15 Abs. 1 VO). Sie dürfen daher durch die Luftfahrtunternehmen in Allgemeinen Beförderungsbedingungen weder beschränkt noch aus- geschlossen werden. Bei Verstößen kann der Reisende Schadensersatzansprüche geltend machen (Art. 15 Abs. 2 VO).

4         Viele Luftfahrtunternehmen haben in der Vergangenheit die Ansicht vertreten, bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, keine Unterstützungs- und Betreuungsleistungen erbringen zu müssen. Es ist aber inzwischen h.M. in der Judikatur, dass Art. 5 Abs. 3 VO weder unmittelbar noch analog auf Unterstützungs- und Betreuungsleistungen angewendet werden kann. Luftfahrtunternehmen sind daher auch bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände zur Erbringung von Betreuungsleistungen verpflichtet (EuGH 31.1.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373; OLG Koblenz 11.1.2008 – 10 U 385/07, RRa 2008, 181 f.; AG Rüsselsheim 11.1.2011 – 3 C 1698/ 10-32, RRa 2011, 93 = NJW-RR 2011, 560; AG Rüsselsheim 21.12.2011 − 3 C 229/11-36; AG Nürnberg 14.9.2011 – 18 C 6053/11, RRa 2011, 297; AG Frankfurt a.M. 1.6.2011 – 29 C 2320/10-21, RRa 2012, 32 = LSK 2012, 390063). Diese Betreuungsleistungen sind also von dem ausführenden Luftfahrtunternehmen verschuldensunabhängig und ohne Entlastungsmöglichkeit zu gewähren. (Siehe dazu auch Führich, MDR-Sonderbeilage 7/2007, S. 9).

5           Den Fluggästen sind nach Art. 9 Abs. 1 lit. a – c, Abs. 2 VO unentgeltlich Betreuungsleistungen anzubieten in Form von

  • Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit,
  • Hotelunterbringung, falls ein Aufenthalt von einer Nacht oder mehreren Nächten notwendig ist oder ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig ist,
  • Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel),
  • Möglichkeit der unentgeltlichen Kommunikation (zwei Telefongespräche oder zwei Telexe, Telefaxe oder Emails).

6     Die Inanspruchnahme dieser Betreuungsleistungen kommt in Betracht, wenn Fluggästen entgegen ihrem Willen die Beförderung verweigert wird (Art. 4 Abs. 1 VO); in diesem Fall sind neben der Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 VO und den Unterstützungsleistungen des Art. 8 VO auch die Betreuungsleistungen des Art. 9 VO zu gewähren.

7    Auch wenn ein Flug annulliert wird, hat das ausführende Luftfahrtunternehmen den betroffenen Fluggästen als Betreuungsleistungen Mahlzeiten und Erfrischungen und die genannten Kommunikationsmöglichkeiten in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit anzubieten.

8     Im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, ist als Unterstützungsleistung eine angemessene Hotelunterbringung für eine oder mehrere Nächte anzubieten und die Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Art. 5 Abs. 1 lit. b, Art. 9 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 bzw. 9 Abs. 1 lit. b und c VO).

9      Im Falle einer Verspätung sieht Art. 6 VO ein abgestuftes Betreuungskonzept vor: Ist für das ausführende Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug

  • bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder  weniger um 2 Stunden oder mehr oder
  • bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km um 3 Stunden oder mehr oder
  • bei allen sonstigen Flügen um 4 Stunden oder mehr

gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit sowie unentgeltlichen Kommunikationsmöglichkeiten mit 2 Telefonaten, Telexen, Telefaxen oder Emails angeboten (Art. 9 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 VO).

10         Wird beim Hinflug eine Wartezeit von einer oder mehreren Nächten notwendig oder ist beim Rückflug ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig, muss ein Luftfahrtunternehmen für eine Hotelunterkunft unentgeltlich Sorge tragen (Art. 9 Abs. 1 lit. b VO). Diese kann nur dann nicht verlangt werden, wenn der Ersatzflug oder der verspätete Flug noch am selben Tag erfolgt. Ist aber absehbar, dass die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, ist eine Hotelunterbringung für eine oder mehrere Nächte anzubieten sowie die Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung. Ein Luftfahrtunternehmen darf aber die Pflicht zur Unterbringung in einem Hotel nicht dadurch umgehen, dass es die Abflugzeit in kurzen Intervallen immer wieder verschiebt, also z.B. erst auf 22:00 Uhr, dann auf 24:00 Uhr, dann auf 02:00 Uhr usw. (so auch Tonner, in: Zivilrecht unter europäischem Einfluss [2. Aufl. 2010], Kap. 15, Rn. 115).

11       Nach Meinung des AG Frankfurt (Urt. v. 25.09.2012 – 30 C 1275/12-71) soll es ausreichen, wenn ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen der Betreuung gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. b VO eine einfache und zweckmäßige Unterkunft zur Verfügung stellt. Das kann aber nicht bedeuten, dass einfachste Unterkünfte wie Jugendherbergen, Hostels etc. ausreichen. Zum einem, weil nach dem Text der Verordnung nicht (irgendeine) Unterkunft, sondern die Unterbringung in einem Hotel vorgeschrieben ist. Zum anderen ist ein Luftfahrtunternehmen verpflichtet, eine Unterkunft mittlerer Art und Güte zur Verfügung zu stellen. Dem entspricht im Gebiet der Europäischen Union nur ein solches Hotel, das die Voraussetzungen einer Drei-Sterne-Klassifizierung des deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (DEHOGA) – wenigstens im Wesentlichen – erfüllt oder erfüllen würde. (Einzelheiten dazu: http://www.hotelsterne.de/index.php?id=kriterien); bei Hotels im nicht europäischen Ausland wird ein entsprechender Standard zu fordern sein. Sollte ausnahmsweise die Unterbringung nur in einem Gasthaus, einem Gasthof oder einer Pension erfolgen, ist ein solches zu wählen, das die sog. G-Klassifizierung erfüllt. (Details dazu unter: http://www.g-klassifizierung.de/index.php?id=start).

12         In der Vergangenheit hat sich in solchen Situationen häufig her- ausgestellt, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen entweder nicht bereit oder nicht in der Lage war, die von der Verordnung vorgeschriebenen, unentgeltlich und unverzüglich anzubietenden Betreuungsleistungen zu gewähren. In der Not der Situation haben sich die betroffenen Fluggäste häufig selbst geholfen und sich auf eigene Kosten verpflegt, eine Hotelunterkunft gesucht und/oder eine Alternativ-Beförderung organisiert. Wurden die ausführenden Luftfahrtunternehmen dann wegen dieser Kosten auf Schadensersatz in Anspruch genommen, haben die angerufenen Gerichte den Fluggästen durchweg den Schadensersatz zugesprochen: So hat der EuGH entschieden, dass auch bei Annullierung eines Fluges wegen „außergewöhnlicher Umstände“ von erheblicher Dauer ein Luftfahrtunternehmen der Pflicht zur unentgeltlichen Betreuung der Fluggäste nachkommen muss. Kommt ein Luftfahrtunternehmen dieser Verpflichtung nicht nach, kann der Fluggast einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe der von ihm aufgewendeten Kosten einer selbst beschafften Unterkunft oder Verpflegung verlangen (EuGH, Urt. v. 31.01.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 f. = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373; BGH, Urt. v. 28.08.2012 – X ZR 128/12, RRa 2012, 285, 287; so schon: AG Köln, Urt. v. 18.08.2006 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44; AG Erding Urt. v. 15.11.2006 – 4 C 661/06, RRa 2007, 85; AG Simmern, Urt. v. 20.04.2007 – 3 C 688/06, RRa 2008, 51 f.; AG Dortmund, Urt. v. 04.03.2008 – 431 C 11621/07, RRa 2008, 188; AG Nürnberg, Urt. v. 14.09.2011 – 18 C 6053/11; AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.01.2011 – 3 C 1698/10. Zur Kritik an der Entscheidung des EuGH bzgl. einer möglichen Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots auf Grund der fehlenden zeitlichen oder finanziellen Beschränkung der Betreuungspflicht siehe Staudinger, Staudinger EuZW 2013, 227; Staudinger/Krüger NJW 2013, 913 (916); Müller-Rostin, euvr 2013, 138 (147)). In diesem Fall kann ein Luftfahrtunternehmen dem Fluggast nicht vorhalten, er hätte ein günstigeres wählen müssen, ohne hinreichend substantiiert vorzutragen, welches günstigere Hotelzimmer zu welchem Zimmerpreis verfügbar gewesen wäre. (AG Rüsselsheim 21.9.2011 – 3 C 56/11-36, RRa 2012, 134 m. Anm. Schmid = Beck RS 2012, 13660).

13         Nach Ansicht des EuGH ergibt sich der Anspruch auf Schadensersatz wegen verweigerter Betreuungsleistungen unmittelbar aus Art. 9 VO (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, RRa 2012, 282 f. = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916; offen gelassen: BGH, Urt. v. 28.08.2012 – X ZR 128/12, RRa 2012, 285, (287)).

14     Ein Fluggast kann aber nur solche Beträge erstattet bekommen, die sich in Anbetracht der jeweiligen Umstände als notwendig, angemessen und zumutbar erweisen, um den Ausfall der Betreuung des Fluggastes durch das Luftfahrtunternehmen auszugleichen (EuGH, Urt. v. 31.01.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 f. = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373). Allerdings muss der Fluggast in einer konkreten und für das Gericht nachvollziehbaren Weise darlegen, dass solche Kosten ihm selbst entstanden sind und welche einzelnen Verpflegungsleistungen er während der Wartezeit selbst bezahlt hat (LG Frankfurt a. M. 26.07.2013 – 2-24 S 120/12). Ebenso ist konkret darzulegen, warum welche Telefonkosten in welcher Höhe angefallen sind und inwieweit sie erforderlich waren. Haben mehrere Reisende einer Familie oder Reisegruppe telefoniert, muss nachvollziehbar dargelegt werden, dass und warum alle Kläger in gleicher Weise telefonieren mussten. Bei minderjährigen mitreisenden Kindern ist es in aller Regel wenig plausibel, dass diese eigene Telefonate führen müssen (so auch LG Frankfurt a. M., a.a.O.).

14a       Ein Luftfahrtunternehmen kann einem Fluggast, der sich ein Hotelzimmer selbst beschaffen musste, aber nicht vorhalten, er habe ein günstigeres Zimmer beschaffen können, ohne zugleich darzulegen, welche Buchungsmöglichkeiten konkret bestanden hatten (AG Rüsselsheim 21.9.2011 – 5 C 56/11-36, RRa 2012, 134 f. mAnm Schmid).

15         Hat der Reisende aber keine solchen Übernachtungskosten aufbringen müssen (z.B. weil er freiwillig auf dem Flughafen oder unentgeltlich bei Freunden übernachtet hat), hat er auch keinen Ersatzanspruch in Höhe fiktiver Kosten gegen das Luftfahrtunternehmen (so auch: AG Erding, Urt. v. 15.11.2006 – 4 C 661/06, RRa 2007, 85 f.; AG Düsseldorf, Urt. v. 28.08.2013 – 53 C 6463/13, RRa 2014, 40).

16         Verzögert sich der Flug erheblich, ist es dem Fluggast nicht zuzumuten, am Flughafen zu verharren, wenn er in der Nähe des Abgangsflughafens wohnt. Er ist auch nicht verpflichtet, Unterbringungs- und Verpflegungsleistungen der Fluggesellschaft anzunehmen, wenn er mit geringem Aufwand wieder nach Hause fahren kann (LG Frankfurt, Urt. v. 26.07.2007 – 2-24 S 290/06, RRa 2008, 41 f. zu einer Abflugverzögerung von 11 Stunden).

17         Alle Unterstützungsleistungen müssen innerhalb der in Art. 9 genannten Zeiträume je nach Entfernungskategorie angeboten werden (Art. 9 Abs. 1 lit. b und c VO).

18     Behauptet ein Luftfahrtunternehmen, dass der Fluggast von ihm Verpflegung und eine Hotelübernachtung erhalten habe, muss es konkret vortragen, welche Leistungen dem klagenden Reisenden im Einzelnen gewährt wurden; es genügt nicht, allgemein auf „die Verpflegung und Hotelunterbringung aller Passagiere“ zu verweisen (AG Bremen, Urt. vom 29.11.2013 – 2 C 49/13).

19     Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen oder -hunde sowie Kinder ohne Begleitung können nach Art. 11 Abs. 2 VO die Betreuungsleistungen aus Art. 9 VO bereits dann in Anspruch nehmen, wenn die Fristen, die für eine Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen gelten, noch nicht abgelaufen sind. Dies hat vor allem Bedeutung bei der Verspätung von Flügen. Unabhängig davon muss ein Luftfahrtunternehmen die im Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 vom 5.7.2006 (ABl. EG 2006 L 204, 1) niedergelegten Hilfeleistungen erbringen

20     Ein Reisender hat einen Anspruch auf Schmerzensgeld wegen Gesundheitsbeeinträchtigung, wenn ein Luftfahrtunternehmen einem Reisenden nach einer (faktischen) Annullierung des Fluges bis zum Weitertransport mehr als 10 Stunden lang keinerlei Betreuungsleistungen (wenigstens Wasser und Verpflegung) anbietet und der Reisende dem Luftfahrtunternehmen mitgeteilt hat, dass er an Diabetes mellitus erkrankt sei und deswegen in vierstündigen Abständen Medikamente mit Wasser einnehmen muss. Dies gilt jedenfalls dann, wenn am Flughafen kein Geschäft mehr geöffnet ist, in dem sich der Reisende selbst mit Wasser hätte versorgen können (AG Rüsselsheim, Urteil vom 11.07.2013 – 3 C 479/13-36, , RRa 2014, 152 = BeckRS, 12204).

Artikel 8 – Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung

(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zu-rückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,

b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder

c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Flug-gastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.

(2) Absatz 1 Buchstabe a) gilt auch für Fluggäste, deren Flüge Bestandteil einer Pauschalreise sind, mit Ausnahme des Anspruchs auf Erstattung, sofern dieser sich aus der Richtlinie 90/314/EWG ergibt.

(3) Befinden sich an einem Ort, in einer Stadt oder Region mehrere Flughäfen und bietet ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einem Fluggast einen Flug zu einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen an, so trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen die Kosten für die Beförderung des Fluggastes von dem anderen Flughafen entweder zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen oder zu einem sonstigen nahe gelegenen, mit dem Fluggast vereinbarten Zielort. 

1      Art. 8 VO gibt dem Fluggast eine Wahlrecht auf verschiedene Unterstützungsleistungen, die er vom ausführenden Luftfahrtunternehmen beanspruchen kann.

2       Ansprüche auf Betreuungsleistungen entstehen

  • im Falle der Nichtbeförderung, Art. 4 Abs. 3 VO,
  • bei einer Flugannullierung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a VO und
  • im Falle der großen Verspätung mit mindestens 5 Stunden, Art. 6 Abs. 1 lit. i – iii, Abs. 2 VO.

3       Die Ausgleichsansprüche des Art. 7 Abs. 1 VO (250 EUR bei Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger; 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km; 600 EUR bei allen sonstigen Flügen) können um 50 % gekürzt werden, wenn den Fluggästen gemäß Art. 8 VO eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten wird, dessen Ankunftszeit bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger nicht später als 2 Stunden oder

  • bei allen innergemeinschaftlichen Flügen bei einer Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km nicht später als 3 Stunden oder
  • bei allen sonstigen Flügen nicht später als 4 Stunden

nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt (Art. 7 Abs. 2 VO).

 4       Der Fluggast kann die vollständige Erstattung der Flugscheinkosten für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte zu dem Preis verlangen, zu dem der Flugschein erworben wurde, Gleiches gilt für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist. Dieser Anspruch besteht gegebenenfalls in Verbindung mit einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt (Art. 8 Abs. 1 lit. a VO).

5       Wählt der Fluggast diese Möglichkeit, wird der Luftbeförderungsvertrag im Ergebnis rückabgewickelt, soweit er noch nicht erfüllt ist bzw. soweit die Erfüllung des Luftbeförderungsvertrages ihren Zweck verfehlt hat. Dies bedarf einer ausdrücklichen Erklärung des Fluggastes, die im Ergebnis das ausführende Luftfahrtunternehmen aus seiner Pflicht entlässt, sich um eine anderweitige Beförderung zum Endziel zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder um eine anderweitige Beförderung zum Endziel zu bemühen und diese darzustellen.

6       Entscheidet sich der Fluggast also für den Rücktritt und die Erstattung der Flugscheinkosten, verzichtet er auf die übrigen Wahlrechte, bekommt zwar binnen 7 Tagen die Flugscheinkosten auf den üblichen Zahlungswegen zurück (Art. 7 Abs. 3 VO), ist aber bezüglich einer Rückbeförderung oder Weiterbeförderung oder auch der sonstigen Betreuungsleistungen des Art. 9 VO, auf sich allein gestellt.

7       Ein Fluggast übt deshalb bei Rückforderung des Flugpreises sein Wahlrecht nach Art. 8 VO im Zweifel nur dann rechtswirksam aus, wenn er zuvor auf die Rechtsfolgen seines Handelns, insbesondere den hierin liegenden Verzicht auch auf weitergehende Schadensersatzansprüche, ausdrücklich hingewiesen wurde (AG Bremen, Urt. v. 04.08. 2011 – 9 C 135/11, Rn 23, NJW-RR 2012, 378 f. = juris).

 8       Auch wenn der Fluggast die Erstattung der Flugscheinkosten wählt, hat er immer noch den Anspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf einen Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist.

9       Die anderen Wahlrechte des Fluggastes (Art. 8 Abs. 1 lit. b und c VO) betreffen die anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt bzw. auf eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze. Von „vergleichbaren Bedingungen“ kann man nach Ansicht des LG Köln (Urt. v. 09.04.2013 – 11 S 241/12, RRa 2014, 34) bei einer Beförderung mittels Bahn statt Flugzeug nicht ausgehen.

 10     In der Literatur wird die Ansicht vertreten, der Begriff „zum  frühestmöglichen Zeitpunkt“ sei so auszulegen, dass sich das Luftfahrtunternehmen auf die Grenzen seiner eigenen Kapazität berufen kann und damit eine Begrenzung auf den nächsten verfügbaren, eigenen Platz des Luftfahrtunternehmens enthält (Führich, Reiserecht [6. Aufl.] Rn. 1049; Lienhard, GPR 2004, 259, 263). Dem kann nicht zugestimmt werden, weil dies im Widerspruch zu dem die Verordnung tragenden Gedanken der Sicherung und Erhöhung des Schutzstandards für Fluggäste stünde.

11     Denn auch bei Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes (z.B. Fluglotsenstreik) trifft ein Luftfahrtunternehmen die Obliegenheit zur Sicherstellung der frühestmöglichen Rückbeförderung der Fluggäste. Das Luftfahrtunternehmen ist grundsätzlich zum Schadensersatz (nicht aber zur Ausgleichszahlung) verpflichtet, wenn der Fluggast in Eigenregie die Beförderung zum Zielort organisieren muss, weil die vom Luftfahrtunternehmen angebotene Alternativ-Beförderung erst zu einem unangemessen späteren Zeitpunkt erfolgt wäre; denn das Luftfahrtunternehmen ist bei einer Flugannullierung gehalten, die Beförderungsverpflichtung notfalls durch Inanspruchnahme von Leistungen Dritter, insbesondere anderer Fluglinien, zeitnah zu erfüllen (AG Bremen, Urt. v. 04.08.2011 – 9 C 135/11, NJW-RR 2012, 378 f.). Ein Luftfahrtunternehmen, das sich bei einem Fluglotsenstreik entlasten will, muss daher vortragen, in welcher Form es sich bemüht hat, den Fluggast zum frühestmöglichen Zeitpunkt zum Endziel zu befördern (so auch AG Hannover, Urt. v. 26.11.2014 – 506 C 3954/14, RRa 2015, 36).

 12     So wird auch vertreten, der Anspruch aus Art. 8 Abs. 1 lit. b oder c VO stelle keinen Schadensersatzanspruch, sondern eine verschuldens- unabhängige Unterstützungsleistung (im Sinne des Fortbestehens der ursprünglichen Leistungsverpflichtung) dar und beschränke sich auf eine „anderweitige Beförderung“ durch das betroffene Luftfahrtunternehmen „vorbehaltlich verfügbarer Plätze“, nicht aber durch ein anderes Luftfahrtunternehmen, geschweige denn eine „sonstige Beförderungsart“ (z.B. Mietwagen oder Bahn) bzw. die Unterbringung in einem Hotelzimmer (LG Potsdam, Urt. v. 27.10.2010 – 13 S 89/10, RRa 2011, 87 f.). Diese Entscheidung lässt sich mit dem klaren Wortlaut der Vorschrift nicht in Einklang bringen, der gerade keine solche Beschränkung auf eigene Flugdienste vorsieht. Ein solch einschränkendes Verständnis würde auch dem Zweck der Verordnung, ein hohes Schutzniveau der Fluggäste zu erreichen (Erwägungsgrund 1) und Ärgernisse und Unannehmlichkeiten für Fluggäste zu verringern (Erwägungsgrund 12), ausdrücklich widersprechen.

13     Jedenfalls bestehen die Ansprüche des Fluggastes auf Unterstützungsleistungen nach Art. 8 VO, ohne dass es darauf ankäme, ob das ausführende Luftfahrtunternehmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO nachweisen könnte, dass die Annullierung, Nichtbeförderung oder Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Denn: Art. 5 Abs. 3 VO kann weder unmittelbar noch analog auf Unterstützungs- und Betreuungsleistungen der Art. 8 und 9 VO angewendet werden (EuGH 31.1.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 f. = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373). So zuvor schon: AG Rüsselsheim 11.1.2011 – 3 C 1698/10-32, RRa 2011, 93 f. = NJW-RR 2011, 560 f.; AG Rüsselsheim 21.12.2011 – 3 C 229/11-36, RRa 2012, 95 = LSK 2012, 160675; AG Frankfurt a.M. 1.6.2011 – 29 C 2320/10-21, RRa 2012, 32 (33 ) = LSK 2012, 390063).

 14     Die Ersatzbeförderungspflicht des ausführenden Luftfahrtunternehmens bezieht sich für die anderweitige Beförderung zum Endziel nach Art. 8 Abs. 3 VO auch auf nahegelegene Flughäfen. Insoweit gilt: Der Ausschlussgrund des Art. 5 Abs. 3 VO bezieht sich nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 VO und nicht auf Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 VO, so dass die Ansprüche gemäß Art. 8 VO vom ausführenden Luftfahrtunternehmen verschuldensunabhängig und ohne Exkulpationsmöglichkeit zu leisten sind. Erfolgt der Transport zu einem anderen als zu dem vereinbarten Zielflughafen mit einem anderen Transportmittel als einem Flugzeug, gilt Art. 8 Abs. 3 VO gleichermaßen (AG Frankfurt, Urt. v. 01.06.2011 – 29 C 2320/10-21, RRa 2012, 32 (33 ) = LSK 2012, 390063).

15     Was den Anspruch auf vollständige Erstattung der Flugscheinkosten (Art. 8 Abs. 1 lit. a VO) angeht, ergibt sich nach Art. 8 Abs. 2 VO eine Modifizierung, falls der Flug Teil einer Flugpauschalreise gewesen ist. Insoweit gilt der Vorrang der Gewährleistungs- und Schadensersatzrechte aus Reisevertrag gemäß §§ 651a ff. BGB, mit denen die in der Verordnung erwähnte Pauschalreise-Richtlinie 90/314/EWG in deutsches Zivilrecht umgesetzt worden ist. Diese Modifizierung bezieht sich aber nur auf die Erstattung von Ticket-Kosten und kommt nicht zum Tragen, wenn der Fluggast etwa die anderweitige Beförderung mittels Ersatzflug wählt oder in Bezug auf den Anspruch auf Ersatzbeförderung mit Bahn, Bus oder Schiff.

16     In der Literatur wird vertreten, die Erheblichkeitsschwelle von 5 Stunden bei Rücktritt wegen Verspätung (Art. 6 Abs. 1, iii VO) sei grundsätzlich auch im Rahmen von Art. 8 VO zu berücksichtigen (Führich, Reiserecht [6. Aufl.], Rn. 1049, 1002 f.), obwohl Art. 6 VO doch diese Erheblichkeitsschwelle von 5 Stunden lediglich für den Fall der Verspätung vorgibt.

17   Die Unterstützungs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Fall der erheblichen Verspätung eines Fluges i.S.d. Art. 6 VO stellen standardisierte sofortige Maßnahmen zur Wiedergutmachung des Schadens dar, der mit den Unannehmlichkeiten verbunden ist, die Ver- spätungen bei der Beförderung von Fluggästen zur Folge haben (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA ./. Depart- ment of Transport, Rn. 43, Slg. 2006, I-403 = RRa 2006,127 = NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112; EuGH, Urt. v. 19.11.2009, verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck und Lepuschitz ./. Air France, Rn. 51 f., Slg. 2009, I-10923 = RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 = EuZW 2009, 890).

18   Die in Art. 8 VO statuierten Ansprüche dürfen durch die Luftfahrtunternehmen weder beschränkt noch ausgeschlossen werden; sie sind zwingendes Recht (Art. 15 Abs. 1 VO). Bei Verstößen kann der Reisende Schadensersatzansprüche geltend machen (Art. 15 Abs. 2 VO).