(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug

  1. a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger um zwei Stunden oder mehr oder 
  2. b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km um drei Stunden oder mehr oder 
  3. c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen um vier Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, 

so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen 

 i) die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten,

ii) wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und,

iii) wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) angeboten.

(2) Auf jeden Fall müssen die Unterstützungsleistungen innerhalb der vorstehend für die jeweilige Entfernungskategorie vorgesehenen Fristen angeboten werden.

I. Adressat der Norm

1    Die Verpflichtungen aus Art. 6 VO treffen das ausführende Luftfahrtunternehmen. Nach der Definition in Art. 2 lit. b VO wird als ausführendes Luftfahrtunternehmen die Fluggesellschaft bezeichnet, die im Rahmen eines Vertrages mit dem Fluggast oder im Namen einer anderen juristischen oder natürlichen Person, die mit dem Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt.

2     Diese Formulierung wirft in der Praxis einige Fragen auf, die bislang nicht höchstrichterlich geklärt sind, wenn ein Flug
als Code-Share-Flug von Partner-Airlines von einem Tochterunternehmen oder von einem beauftragten Luftfahrtunternehmen als Subcharter ausgeführt wird.

3    Keine Schwierigkeit bereitet die erste Fallkonstellation. Wird ein Flugschein von einem Luftfahrtunternehmen zur Beförderung durch ein anderes Luftfahrtunternehmen unter der Flugnummer der den Vertrag schließenden Fluggesellschaft verkauft, erfolgt in der Praxis regelmäßig der Hinweis auf den sog. operating carrier („operated by XY“). Luftfahrtunternehmen sind nach Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/2005 (ABl. EU 2005  L 344,15) verpflichtet, diesen Hinweis auf die Durchführung des Fluges durch einen Code-Share-Partner zu erteilen (siehe dazu Art. 15 VO). Damit ist für den Fluggast bereits bei Erwerb des Flugscheins erkennbar, wer ausführendes Luftfahrtunternehmen ist. In diesen Fällen kann das vertragliche Luftfahrtunternehmen nicht in Anspruch genommen werden. Bei Code-Share-Flügen kann nur das Unternehmen, das die Beförderung tatsächlich durchführt oder durchzuführen beabsichtigt, in Anspruch genommen werden, soweit die Voraussetzungen vorliegen. Dies führt wegen Art. 3 Abs. 1 VO (Anwendungsbereich) dazu, dass der in Deutschland startende Hinflug unter dem Schutz der Verordnung steht, der Rückflug hingegen nicht, wenn Ziel des Hinfluges und Startflughafen des Rückfluges außerhalb eines Mitgliedstaates liegen und der Code-Share-Partner seinen Sitz außerhalb der Europäischen Union hat. Wird entgegen der Hinweispflicht aus Art. 11 VO Nr. 2111/2005 das Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Code-sharing-Fluges den Flug auf dem betreffenden Streckenabschnitt tatsächlich ausführt, in den Buchungsunterlagen nicht benannt, ist als ausführendes Luftfahrtunternehmen das Luftfahrtunternehmen anzusehen, das in den Buchungsunterlagen angegeben ist (so auch BGHS Wien, Urt. v. 23.04.2014 – 11 C 4143k-16, RRa 2014, 192).

4     Wird der Flug von einem Tochterunternehmen, das für den Laien als solches (auch optisch) nicht erkennbar ist (z.B. KLM Cityhopper, Lufthansa CityLine oder Air France Regional) unter der Flugnummer des Mutterunternehmens durchgeführt, so kann nach Ansicht des AG Bremen (Urt. v. 10.10. 2011 – 16 C 89/11, RRa 2012, 22) der Anspruch gegen das Mutterunternehmen geltend gemacht werden. Das gilt insbesondere dann, wenn das Tochterunternehmen den Flug zwar durchführt, aber unter einer Flugnummer des Mutterunternehmens (AG Bremen 18.1.2013 – 4 C 516/11, RRa 2013, 191 = BeckRS 2013, 13955). Das AG Erding (19.12.2012 − 3 C 893/12) hat entschieden, dass „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ das Mutterunternehmen ist, soweit es auf die Durchführung eines Fluges der 100%-igen Tochtergesellschaft faktisch Einfluss nimmt oder nehmen kann. Dies gilt nach Ansicht des AG Hannover (6.12.2012 – 452 C 5686/12, RRa 2014, 56 = juris) jedenfalls dann, wenn bei einer Umsteigeverbindung (z.B. Hannover – Paris – Havanna) auf dem Flugschein als „Luftfahrtunternehmen“ für beide Flüge nur das Mutterunternehmen angegeben wird. Hat das Tochterunternehmen den streitgegenständlichen Flug ausgeführt und das in Anspruch genommene Mutterunternehmen stellt dies in vorgerichtlichen Verhandlungen mit dem Fluggast nicht klar, kann es sich im nachfolgenden Prozess nicht auf eine fehlende Passivlegitimation berufen. Dies stellt Rechtsmissbrauch dar.

5    Schwieriger wird es, wenn die verbundenen Unternehmen unter verschiedenen Namen operieren, wie beispielsweise Lufthansa und Germanwings und Lufthansa CityLine, Iberia und Air Nostrum oder Air France und HOP!. Hier muss sich für den Fluggast auch dann, wenn im Flugschein die Flugnummer des beherrschenden Mutterunternehmens angegeben wird, der Eindruck aufdrängen, dass ein anderes Luftfahrtunternehmen den Flug tatsächlich durchgeführt hat.

6     Entscheidet sich ein Luftfahrtunternehmen, unter seiner Flugnummer kurzerhand das Fluggerät eines anderen Unternehmens für den Flug einzusetzen, bleibt das Luftfahrtunternehmen, unter dessen Flugnummer der Flug geplant und ausgeführt wurde, „ausführendes“ Luftfahrtunternehmen iSd Artikel 2 lit. b VO. Die Eigentumsverhältnisse an dem zum Einsatz gekommenen Flugzeug spielen bei der Beurteilung, wer ausführendes Luftfahrtunternehmen ist, keine Rolle (AG Frankfurt a.M. 19.4.2013 – 32 C 1916-18, RRa 2014, 104 Ls).

II. Die Betreuungs- und Unterstützungsleistungen

7    Die Verordnung hält nach ihrem Wortlaut für die Fluggäste verspäteter Flüge lediglich drei Rechtsfolgen parat:

  • Betreuungsleistungen gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 VO (Mahlzeiten, Erfrischungen, Kommunikationsmöglichkeiten),
  • Unterstützungsleistungen gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. b und c VO (Hotelunterbringung und Transport dorthin),
  • Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. a und b VO (Flugpreiserstattung und anderweitige Beförderung).

Zur Zahlung einer Ausgleichsleistung ist ein Luftfahrtunternehmen nach dem Wortlaut der Verordnung dagegen nicht verpflichtet. Siehe dazu aber unten → Rn. 13 ff.

8    Das Entstehen des Anspruchs und die Art der Unterstützungsleistung hängen von dem jeweiligen Verspätungssachverhalt ab. Je kürzer die Strecke des geplanten Fluges ist, desto früher greifen die Rechte für den Fluggast ein. Je gravierender die Verspätung ausfällt, desto mehr muss das Luftfahrtunternehmen an Betreuungsleistungen erbringen. Die Einzelheiten ergeben sich unmittelbar aus dem Text der Verordnung. Die Methode der Entfernungsberechnung wird in Art. 6 VO zwar nicht erwähnt, allerdings werden in der Praxis entsprechend Art. 7 Abs. 4 VO die Entfernungen nach der Methode der Großkreisentfernung ermittelt. Das ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf einer Kugeloberfläche (die sogenannte Orthodrome). Bei Flügen mit geplanten Zwischenlandungen (in der Praxis meist als „Direktflüge“ bezeichnet) sind die Entfernungen der Teilstrecken (z.B. von Hamburg nach München und die von München nach Barcelona) zu addieren (AG Frankfurt a.M. 11.10.2013 – 29 C 1952/13-81, RRa 2014, 150 = BeckRS 2014, 12199; ebenso: HG Wien, 7.8.2015 – 60 R 48/15m, RRa 2016, 50; AG Düsseldorf 28.9.2015 – 45 C 21/15, NJW-RR 2016, 249; BGHS 21.3.2016 – 16 C 296/15v); BG Schwechat 27.1.2016 – 16 C 508/15z; aA früher: Schmid ZLW 2006, 81 ff.; aufgegeben). Bei einer ungeplanten Zwischenlandung ist dagegen nur auf die Entfernung zwischen dem Abflugort und dem Endziel zugrunde zu legen. Das LG Landshut vertritt dagegen die Ansicht, dass auch bei Umsteigeverbindungen nur die Entfernung zwischen Abgangsflughafen und dem Endziel maßgeblich sind (16.12.2015 – 13 S 2291/15, RRa 2016, 133 = BeckRS 2016, 41186); die Strecken zum Zwischenlandort und von dort zum Endziel können daher nicht addiert werden (ebenso: AG Köln 3.12.2013 – 113 C 428/13, juris = NRWE; AG Hamburg 3.6.2015 – 20 C 28/15; AG Nürtingen 28.5.2015 – 12 C 394/15; AG Wedding 14.9.2015 – 22a C193/15).

8a    Einen Rechner zur Berechnung von Strecken auf dem Großkreis findet man im Internet unter http://gc.kls2.com. 

9   Nach Art. 9 VO haben die Fluggäste im Falle von Verspätungen Anspruch auf unentgeltliche Bereitstellung von Mahlzeiten und Erfrischungen sowie gegebenenfalls Anspruch auf Hotelunterbringung (einschließlich Transfer zum Hotel), soweit sich die Verspätung auf eine oder mehrere Nächte erstreckt. Des Weiteren ist den Fluggästen die Möglichkeit einzuräumen, unentgeltlich zwei Telefongespräche zu führen oder zwei Telexe, Telefaxe oder E-Mails zu versenden. Der eindeutige Wortlaut verpflichtet die Luftfahrtunternehmen, die vorgenannten Leistungen ihren Fluggästen unentgeltlich bereitzustellen, ohne dass diese mit eigenen Mitteln in Vorlage treten müssen. Diese Vorschrift dient demzufolge der Verhinderung des Eintritts von materiellen Schäden bei dem Fluggast.

10     Nach Art. 8 VO haben Fluggäste das Wahlrecht zwischen

  • Erstattung der Flugscheinkosten innerhalb einer Frist von sieben Tagen,
  • einem Rückflug zum ersten Abgangsort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
  • anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Bedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
  • anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Bedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.

11    Soweit das Luftfahrtunternehmen im Falle einer Verspätung keine Mahlzeiten, Erfrischungen oder Übernachtungsmöglichkeit bereitstellt, wird der Fluggast diese Betreuungsleistungen auf eigene Kosten zu erwerben haben. Die Fluggesellschaft muss dann die notwendigen Kosten zur Beschaffung der verweigerten Betreuungsleistungen dem Fluggast ersetzen, auch dann, wenn der Fluggast die Betreuungsleistungen nicht unmittelbar im maßgeblichen Zeitpunkt von der Fluggesellschaft gefordert hat (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, RRa 2012, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916 = TranspR 2012, 73). Eine Anrechnung von Ausgleichszahlungen auf Kosten, die dem Fluggast infolge unterlassener Betreuungsleistungen entstanden sind, ist nicht möglich (EuGH, a.a.O.).

12    Zur Erbringung der Betreuungs- und Unterstützungsleistungen ist das Luftfahrtunternehmen verpflichtet, wenn absehbar ist, dass sich der Abflug je nach Flugentfernung um zwei Stunden oder mehr verspätet. Hierbei stellt sich die Frage, welcher Zeitpunkt als Abflug im Sinne des Art. 6 Abs. 1 VO in Erwägung zu ziehen ist. Auch hier sind wieder verschiedene Zeitpunkte denkbar. Im Einklang mit dem Zeitpunkt des Abfluges aus dem Montrealer Übereinkommen könnte er in dem Zeitpunkt liegen, in dem das Flugzeug „Off blocks“ geht, d.h. wenn an der Maschine die Bremsklötze beseitigt werden und der Rollvorgang beginnen kann. Andererseits kann von einem „Abflug“ aber auch erst dann ausgegangen werden, wenn das Flugzeug tatsächlich abhebt und seinen Flug in Richtung des vorgesehenen Ziels aufnimmt. In einem Rechtsstreit kommen Unstimmigkeiten immer dann auf, wenn das Flugzeug vom Flugsteig zurückgeschoben (Push back) wurde, in Richtung Startbahn rollte, den Rollvorgang dann aber wegen eines technischen Problems vor dem Erreichen der Startbahn beendet oder den begonnenen Startlauf abgebrochen hat und zu einer Parkposition zurückrollte, an der die Passagiere das Flugzeug dann wieder verlassen mussten. Luftfahrtunternehmen haben sich in vielen Fällen darauf berufen, dass der „Start pünktlich“ gewesen sei, da das Fluggerät wie geplant Off blocks gegangen sei, und Ansprüche wegen Verspätung daher nicht bestünden. Diese Frage hatte besondere praktische Relevanz, als die Verspätung des Abfluges noch Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf die Ausgleichszahlung gewesen ist (siehe dazu unten unter IV). Allerdings haben die Gerichte in diesen Fällen zu Gunsten der Passagiere entschieden, dass der Abflug erst dann erfolgt sei, wenn das Flugzeug tatsächlich mit allen RädeRn.den Boden verlassen habe (AG Rüsselsheim – 21.1.2011 − 3 C 1392/10-31, RRa 2011, 92 = BeckRS 2011, 08690; so auch LG Frankfurt a.M. 23.9.2010 – 2-24 S 28/10, RRa 2010, 273 = BeckRS 2011, 00384). Damit ist klargestellt, dass Betreuungsleistungen auch dann erbracht werden müssen, wenn sich ein abgefertigtes Flugzeug zur Startbahn begeben hat und der Start abgebrochen werden musste. Entgegen der Auffassung der Fluggesellschaften liegt hier nicht ein pünktlicher Start, sondern eine Abflugverspätung vor, so dass − wenn die in Art. 6 Abs. 1 VO genannten zeitlichen Grenzen erreicht sind − Betreuungsleistungen bzw. Unterstützungsleistungen angeboten werden müssen.

III. Ausgleichsleistung auch bei großer Verspätung

13    Nach dem Wortlaut des Art. 6 VO hat der Fluggast keine Ansprüche auf Zahlung einer Ausgleichsleistung. Da sich bei einigen Luftfahrtunternehmen Fälle großer Verspätungen häuften und teilweise das Ausmaß von bis zu 50 Stunden und mehr annahmen, stellte sich die Frage, ob eine Verspätung zu irgendeinem Zeitpunkt in eine faktische Annullierung umschlägt, auch wenn der Flug noch nachgeholt werden konnte. Diese Frage war Gegenstand des Rechtsstreits Sturgeon ./. Condor, der sich – zusammen mit dem zeitgleich bei einem österreichischen Gericht anhängigen Rechtsstreit Böck und Lepuschitz ./. Air France – zu einer Leitentscheidung des EuGH entwickelte.

14     Die Chronologie dieses Rechtsstreits stellt sich wie folgt dar: Die Kläger flogen im Jahre 2005 mit einer mehr als eintägigen Verspätung in Toronto ab und kamen entsprechend verspätet in Frankfurt a.M. an. Sie begehrten von dem beklagten Luftfahrtunternehmen u. a. eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600 EUR pro Person. Zur Begründung führten die Kläger an, die große Verspätung sei faktisch als Annullierung zu betrachten, so dass Ansprüche aus Art. 5 Abs. 1 lit. c iVm Art. 7 Abs. 1 lit. c VO bestünden. Das angerufene AG Rüsselsheim hat die Klage mit Urteil vom 17.3.2006 – 3 C 109/06-35 abgewiesen; das LG Darmstadt hat die Entscheidung bestätigt (12.7.2006 – 21 S 82/06, RRa 2006, 277 = BeckRS 2010, 06369) und die Revision zugelassen.

15     Auf Vorlage des BGH (Beschl 17.7.2007 − X ZR 95/06, RRa 2007, 233 = NJW 2007, 3437 = EuZW 2007, 709) ) und des HG Wien in einem gleich gelagerten Fall (Beschl. v. 26.06.2007 − 60 R 114/06d) hat der EuGH in seinem bahnbrechenden Urteil vom 19.11.2009 (verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 − Böck u.a. ./. Air France, Slg 2009 I-10923 = RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 = ZLW 2010, 75 m. Anm. Gogl) entschieden, dass – obwohl der Wortlaut der Verordnung das nicht vorsieht – Fluggästen in analoger Anwendung des Art. 7 Abs. 1 VO auch bei großer Verspätung Ausgleichszahlungen zustehen, sofern sie einen Zeitverlust von mindestens drei Stunden erleiden. Dem von der Generalanwältin gerügten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz begegnete der EuGH dadurch, dass er die Rechtsfolgen einer Annullierung für den Tatbestand einer großen Verspätung in richterlicher Rechtsfortbildung entsprechend anwendet. Die „zu extensive Rechtsfortbildung des EuGH“ ist teils auf heftige Kritik gestoßen (siehe für viele Lienhard, GPR 2003/2004, 259 ff.; Arnold/Mendes de Leon, Air & Space Law 2010, 91, 99; Balfour, Air & Space Law 2010, 71 ff.; Müller-Rostin, TranspR 2010, 93 ff.; ders., euvr 2013, 1, 7; Hobe/Müller-Rostin/Recker, ZLW 2010, 149, 155 ff. m.w.N.; Staudinger, RRa, 2010, 10 ff.; ders., RRa 2012, 261; Teichmann/Menke, RRa 2013, 106; AG Köln, Beschl. v. 04.10.2010, RRa 2011, 42; ausf. Nachw. bei Hausmann S. 301 ff.). Beanstandet wird zum einen die (behauptete) Kollision des Art. 6 VO in der Lesart des EuGH mit dem (als Völkerrecht höherrangigen) Montrealer Übereinkommen. Zum anderen wird kritisiert, dass der EuGH eine Ausgleichsleistung auch bei großen Verspätungen für erforderlich angesehen hat (Überschreitung der Jurisdiktionsbefugnis), obwohl sich aus der Entstehungsgeschichte der Verordnung (siehe KOM 82001] 784 final vom 21.12.2001, S. 8) ergäbe, dass der europäische Gesetzgeber „mit Bedacht“ von einer Gewährung von Ausgleichsleistungen bei Verspätungen abgesehen hat (so u.a. Müller-Rostin, TranspR 2013, 329, (331)). Dabei würde aber übersehen, dass auch eine bedachte Maßnahme einen Verstoß gegen den europarechtlich hochrangigen Gleichbehandlungsgrundsatz darstellen kann. Von einem solchen Verstoß seien sowohl die Generalanwaltschaft als auch der EuGH ausgegangen.

16    Diese Entscheidung hat inzwischen aber in Literatur und Rechtsprechung überwiegend Akzeptanz gefunden, z.B. durch das LG Köln, Beschl. v. 23.05.2014 – 11 S 374/13. Das Gericht hat entschieden, dass der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 VO generell – und damit auch in dem Anwendungsfall einer Verspätung nach Art. 6 VO – nicht als Schadensersatzanspruch im Sinne der Art. 19, 29 MÜ anzusehen sei. Darüber hinaus hat es festgestellt, dass eine richterliche Rechtsfortbildung nicht auf den Fall der Lückenausfüllung wegen planwidriger Unvollständigkeit beschränkt sein könne; vielmehr dürfe ein Gericht ein Gesetz im Rahmen des Gesetzeszwecks und der Wertentscheidung des Grundgesetzes auch ohne konkreten Nachweis einer Lücke ausdifferenzieren und ergänzen, wenn die Rechtsordnung Wertentscheidungen, sei es auch nur in unvollkommener Form, für eine Rechtsfortbildung in einem bestimmten Sinne enthält.

16a    Staudinger (RRa 2010, 10, 11) weist zutreffend darauf hin, dass dem Urteil des EuGH über das Ausgangsverfahren hinausgehende (faktische) Bindungswirkung für alle Spruchkörper des gesamten Binnenmarktes zukommt (erga-omnes-Wirkung) und die Missachtung durch ein nationales Gericht einen Verstoß gegen Europa- und Verfassungsrecht darstellte (ihm folgend: Hausmann S. 296; so auch LG Stuttgart 20.4.2011 – 13 S 227/10, RRa 2011, 234; 7.11.2012 – 13 S 95/12, RRa 2013,131; LG Düsseldorf 13.12.2013 – 22 S 234/12, RRa 2014, 208 = BeckRS 2014, 17370 = juris).

17    Der sog. Sturgeon-Entscheidung folgten weitere Vorabentscheidungsersuchen zur Frage der großen Verspätung. So bat der High Court of Justice of England and Wales, Queen´s Bench Division, mit einem Vorabentscheidungsersuchen den EuGH um Beantwortung der Frage, ob die Art. 5 bis 7 VO dahin auszulegen seien, dass die in Art. 7 VO vorgesehenen Ausgleichsleistungen solchen Fluggästen gezahlt werden müssten, deren Flüge verspätet i.S.v. Art. 6 VO sind (EuGH, Rs. C-629/10 − TUI u.a. ./. Civil Aviation Authority). Das vorlegende Gericht warf erneut die Frage der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf und stellte ein weiteres Mal die Vereinbarkeit der Art. 5 ff. VO mit dem Montrealer Übereinkommen in Zweifel. Auch das AG Köln (Beschl. v. 04.10. 2010 – 142 C 535/08, RRa 2011, 42) legte dem EuGH Fragen zum Verhältnis zwischen der Verordnung und dem Montrealer Übereinkommen vor und bat das Gericht zu klären, ob Art. 7 VO einen nicht-kompensatorischen Schadensersatzanspruch i.S.v. Art. 29 S. 2 MÜ darstelle und in welchem Verhältnis der Ausgleichsanspruch in diesem Fall zum Anspruch bei Verspätungen aus Art. 19 MÜ unter Berücksichtigung des Ausschlusses nach Art. 29 MÜ stehe.

18    Der EuGH hat im Urteil vom 23.10.2012 (verb. Rs. C‑581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C‑629/10 – TUI Travel u.a. ./. CAA, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671 = EuZW 2012, 906; krit. dazu Staudinger, RRa 2012, 261) nach Prüfung der Vorlagefragen erneut festgestellt, dass die Art. 5 bis 7 VO dahin auszulegen sind, „dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch nach dieser Verordnung zusteht, wenn sie aufgrund dieser Flüge einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der vom Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen.“ Eine solche Verspätung begründet nach Ansicht des EuGH jedoch nur dann keinen Ausgleichsanspruch der Fluggäste, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, also auf Umstände, die von dem Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen gewesen sind (Art. 5 Abs. 3 VO).

19    Erst diese Entscheidung ließ die Kritik der meisten Luftfahrtunternehmen an der Sturgeon-Entscheidung weitgehend verstummen; nunmehr werden die Ansprüche auf Ausgleichszahlung nach einer großen Verspätungen überwiegend vorgerichtlich, von manchen Luftfahrtunternehmen erst im Lauf des gerichtlichen Verfahrens anerkannt. Lediglich eine Abteilung des AG Nürtingen hielt an seiner bisherigen Praxis fest und weist Klagen auf Ausgleichszahlung, die auf große Verspätung gestützt werden, ab (vgl. für viele 27.9.2010 – 11 C 1219/10; 5.7.2013 – 46 C 520/13, RRa 2013, 240 = BeckRS 2013, 11350). Das LG Stuttgart ändert diese Urteile mit Hinweis auf die erga-omnes-Wirkung der Urteile des EuGH aber regelmäßig ab (z.B. 20.4.2011 – 13 S 227/10, RRa 2011, 234; 07.11.2012 – 13 S 95/12, RRa 2013, 131). Kritik an der EuGH-Entscheidung wird aber auch von Stimmen in der Literatur (Staudinger RRa 2012, 261; Müller-Rostin euvr 2013, 138 (144); Hobe/Müller-Rostin/Recker, ZLW 2010, 149 (156); Teichmann/Menk, RRa 2013, 106 (107); s. auch das Vorabentscheidungsersuchen der Rechtsbank Breda, RRa 2011, 233) im Hinblick darauf geäußert, dass sowohl die Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO als auch die Schadensersatzleistung nach Art. 19 MÜ an eine verspätete Ankunft am Zielort anknüpften und auf der Rechtsfolgenseite jeweils Geldleistungen stünden, so dass die Ausschlusswirkung des Art. 29 S. 1 MÜ greife. Doch wird übersehen, dass die Ausgleichsleistung wegen Verspätung nach Art. 7 VO ein Anspruch ist, mit dem allein die Unannehmlichkeit der Wartezeiten (am Abflugort oder bei einer Zwischenlandung) und vor allem die längere Reisezeit (immaterieller Schaden) ausgeglichen werden soll, während Art. 19 MÜ einen konkret entstandenen materiellen Schaden ausgleichen soll, der dem Fluggast durch die verspätete Ankunft am Zielflughafen („Endziel“) entstanden ist. Der EuGH hätte sich viel Kritik ersparen können, hätte er den Anspruch auf eine Ausgleichsleistung nach Art. 6 VO an die große Verspätung beim Abflug am Startflughafen oder einem Ort der Zwischenlandung geknüpft.

 

IV. Die verspätete Ankunft

1. Der Begriff „Verspätung“

20         Die Verordnung definiert den Begriff „Verspätung“ nicht. Der EuGH hat ihn aber in seinem Urteil vom 19.11.2009 (verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck und Lepuschitz ./. Air France, Rn 29 ff., RRa 2009 282 ff.) „anhand seines Kontextes“ definiert: Danach ist ein Flug „verspätet iSd Art. 6, wenn er entsprechend der ursprünglichen Planung durchgeführt wird und sich die tatsächliche Abflugzeit gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert“. Zugleich grenzte er die Verspätung von der Annullierung ab, indem er darauf hinwies, dass die Annullierung im Gegensatz zur Verspätung eines Fluges Folge der Nichtdurchführung eines geplanten Fluges ist (Rn 33). Dann führte er aus: „Wenn Fluggäste mit einem Flug befördert werden, dessen Abflugzeit sich gegenüber der ursprünglich vereinbarten Abflugzeit verzögert, kann der Flug nur dann als ‚annulliert‘ bezeichnet werden, wenn das Luftfahrtunternehmen die Fluggäste mit einem anderen Flug befördert, dessen ursprüngliche Planung von der des ursprünglich geplanten Fluges abweicht“ (Rn 35).

2. Der Abflug

21    Da die Verordnung in Art. 6 VO auf den „Abflug“ eines Fluges abstellt, war lange streitig, ob bei der Bemessung der Verspätung auf die Abflugszeit oder die Ankunftszeit abzustellen ist. In seiner Sturgeon-Entscheidung (oben Rn. 20) hatte der EuGH noch ausgeführt: „Zudem ergibt sich aus Art. 6 VO, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber einen Begriff der ‚Verspätung eines Fluges‘ gewählt hat , der nur auf die planmäßige Abflugzeit abstellt und damit impliziert, dass nach der Abflugzeit die anderen den Flug betreffenden Umstände unverändert bleiben müssen“ (Rn. 31). Das LG Frankfurt (Urt. v. 29.09.2011 – 2-24 S 56/11, RRa 2012, 20 = BeckRS, 05645) hatte daraufhin entschieden, dass zur Entstehung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung bei großen Verspätungen auch eine Abflugverspätung in den Grenzen des Art. 6 Abs. 1 VO vorliegen müsse (so zuvor schon Staudinger, RRa 2010, 10 ff.; ihm folgend: Hausmann, a.a.O., S. 309 ff.). Damit wurden all diejenigen Fluggäste aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten herausgenommen, deren Flüge nach pünktlichem Start aber unplanmäßiger Verlängerung einer Zwischenlandung oder einer unvorhergesehenen Zwischenlandung verspätet das Endziel erreichten. Diese Rechtsprechung führte teilweise zu kuriosen Ergebnissen: Bei zusammengesetzten Flügen, deren Start pünktlich erfolgte und bei denen sich die Zwischenlandung so verlängerte, dass das Endziel mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreicht wurde, hat der Fluggast, der am Ausgangspunkt des Fluges eingestiegen ist, keine Ansprüche, während der Fluggast, der erst bei der Zwischenlandung zugestiegen ist, Ansprüche auf Ausgleichszahlung geltend machen kann.

3. Die Ankunft

21a       Der EuGH hat aber in der Entscheidung Folkerts ./. Air France (Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-11/11, RRa 2013, 78 = NJW 2013, 1291 = EuZW 2013, 434) klargestellt, dass zur Entstehung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung nicht auf den Zeitpunkt des Abfluges, sondern allein auf den Zeitpunkt der Ankunft abzustellen ist. Seither steht außer Zweifel, dass Fluggäste auch dann Ansprüche auf Ausgleichszahlung haben, wenn der Flug zwar pünktlich startet, infolge einer unplanmäßigen Verlängerung der Flugzeit das Endziel aber um mindestens drei Stunden verspätet erreicht wird.

22    Lange Zeit  unklar war die Rechtslage allerdings bei zusammengesetzten Flügen, bei denen der Anschlussflug (anders als in der Rechtssache Folkerts ./. Air France; dort fand der Umsteigeaufenthalt in Paris statt) auf einem Flughafen außerhalb der Europäischen Union stattfindet. Würde man auf diese Fälle strikt die Rechtsprechung des BGH anwenden, wonach bei zusammengesetzten Flügen die Voraussetzungen für das Entstehen der Rechtsfolgen aus der VO für jeden Flug getrennt zu prüfen sind (BGH, Urt. vom 30.04.2009 – Xa ZR 78/08, RRa 2009, 239 = NJW 2009, 2740), käme man zum Ergebnis, dass Ansprüche auf Ausgleichszahlung nicht bestehen, weil der Bundesgerichtshof dort ausgeführt hat, dass der Begriff „Flug“ nicht gleichzusetzen ist mit einer „Flugreise“. Wie Art. 2 lit. h VO zeige, sei auch bei einem einheitlichen Beförderungsvertrag die einzelne Einheit jeweils eine Luftbeförderung, die von einem Luftverkehrsunternehmen durchgeführt wird. Bei Anwendung vorgenannter Grundsätze muss man zum Ergebnis kommen, dass trotz einer relevanten Ankunftsverspätung (ab drei Stunden) Ansprüche auf Ausgleichszahlung nicht bestehen, da der Anwendungsbereich der Verordnung nicht eröffnet erscheint.

23    Den Grundsatz, dass ein zusammengesetzter Flug nicht als „einziger Flug“ anzusehen ist, hat der BGH in seinem Urteil vom 07.05.2013 – X ZR 127/11 (RRa 2013, 237 =  NJW-RR 2013, 1065 = TranspR 2013, 451) weiterhin aufrechterhalten. Er hat betont, dass der Zubringerflug im Ausgangspunkt von dem Anschlussflug zu unterscheiden sei. Allerdings ändere diese Selbständigkeit der Flüge nichts daran, dass nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 VO für die Beurteilung der Frage, ob die Verspätung den für eine Ausgleichszahlung vorausgesetzten Umfang erreicht habe und in welcher Höhe hierfür ein Ausgleich zu erbringen sei, nicht das Ziel der einzelnen Flüge, sondern der letzte Zielort („Endziel“) maßgeblich sei, an dem der Fluggast infolge der Verspätung zu einer späteren als der planmäßigen Ankunftszeit ankommt. Entscheidend sei hierbei, dass eine Annullierung oder Verspätung des Zubringerfluges die Verspätung am Endziel verursacht. Fluggäste haben demzufolge auch dann Ansprüche auf Ausgleichszahlung, wenn sich die Ankunft des Zubringerfluges weit unterhalb der drei Stunden-Grenze verspätet und aus diesem Grund der Anschlussflug verpasst und das Endziel später als drei Stunden erreicht wird.

24   In dem vom BGH zu beurteilenden Fall lag der Umsteigeflughafen im Gebiet der Europäischen Union. Fraglich blieb bis dahin, welchen Einfluss es auf die Beurteilung hat, wenn der Fluggast auf einem Flughafen außerhalb des Gebietes der Europäischen Union umsteigt. Das LG Frankfurt a.M. (26.7.2013 – 2- 24 S 147/12, RRa, 2013, 283 = BeckRS 2013, 22007) , dass auch dann Ansprüche auf Ausgleichszahlung bestehen, wenn sowohl der letzte Zielort des Fluges als auch der Umsteigeflughafen außerhalb der Europäischen Union liegen. Maßgeblich für die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung der Ausgleichsleistung sei allein der Umstand, dass der Zubringerflug, der in Frankfurt startete, geringfügig verspätet war und aus diesem Grund der Anschlussflug nicht erreicht werden konnte. Auf den Ort, an dem die Flüge gewechselt werden oder auf das Luftfahrtunternehmen, das den verpassten Anschlussflug durchführen sollte, komme es hingegen nicht an. Ebenso hat das HG Wien für einen Flug von Wien über Dubai nach Singapur entschieden (Urt. v. 27.10.2015 – 1 R 136/15v, RRa 2016, 48). Dem ist zuzustimmen.

4. Der maßgebliche Zeitpunkt der „Ankunft“

25    Noch nicht gerichtlich geklärt ist die Frage, was als maßgeblicher Zeitpunkt der „Ankunft“ gilt. Dies ist von besonderer Relevanz bei Verspätungen von ungefähr drei Stunden (Entstehung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung dem Grunde nach) bzw. ungefähr vier Stunden (Möglichkeit der Kürzung der Ausgleichszahlung bei Flügen mit einer Entfernung von über 3.500 km). Die Verordnung definiert die „Ankunftszeit“ nicht.

26     Die Beendigung eines Fluges erfolgt aus Sicht eines Fluggastes in mehreren Phasen, von denen jede für die Bestimmung der „Ankunft“ maßgeblich sein könnte:

  • der Zeitpunkt des Aufsetzens auf der Rollbahn (Touch down),
  • das Setzen der Parkbremse nach Erreichen der Parkposition,
  • das Legen der Bremsklötze (On blocks),
  • das Öffnen der Türen nach Heranfahren von Treppen oder Fluggastbrücken oder
  • die Erlaubnis zum Verlassen des Flugzeuges.

Bei großen Verkehrsflughäfen liegen zwischen dem ersten in Betracht kommenden Zeitpunkt (touch down) und dem Öffnen der Kabinentüren unter Umständen bis zu 30 Minuten, so dass eine exakte Bestimmung der Ankunftszeit im Einzelfall erforderlich sein kann.

27     Die Frage, nach welchen Kriterien die „Zeit der Ankunft“ festzustellen ist, war unter anderem Gegenstand eines Rechtsstreits, der zunächst vor dem BG Salzburg (26.11.2012 – 17 C 861/12y-16, RRa 2013, 154 = juris) geführt wurde. Dieses Gericht hat das beklagte Luftfahrtunternehmen zur Leistung der Ausgleichszahlung verurteilt, da die erste Tür zum Verlassen des Flugzeuges mit einer Verspätung von 182 Minuten geöffnet worden war. Das Luftfahrtunternehmen hat gegen diese Entscheidung Berufung zum LG Salzburg eingelegt mit der Begründung, dass der Touch down, der vorliegend mit einer Verspätung von 178 Minuten erfolgte, als Ankunft des Flugzeuges zu werten sei. Das LG Salzburg als Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 31.07.2013 (53 R 92/13f) das Berufungsverfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, wie der maßgebliche Zeitpunkt der Ankunft zu bestimmen sei. Es wollte vom EuGH insbesondere wissen, ob

  • der Zeitpunkt des Aufsetzens des Flugzeuges auf der Rollbahn
  • der Zeitpunkt, zu dem das Flugzeug seine Parkposition erreicht hat
  • der Zeitpunkt des Öffnen der Flugzeugtür oder
  • ein von den Parteien im Rahmen der Privatautonomie definierter Zeitpunkt maßgeblich für die Beurteilung der Frage der Ankunft des Flugzeuges ist.

28    Zutreffend hat Keiler (RRa 2013, 163, 167) darauf hingewiesen, dass der EuGH in der Entscheidung Rehder ./. Air Baltic (Urt. v. 09.07.2009, Rs. C-204/08, Rn. 40, Slg 2009, I-6073 = RRa 2009, 205 = EuZW 2009, 569 mAnm. Leible) darauf abgestellt hat, dass eine Luftbeförderung mit „der Abfertigung und dem An-Bord-gehen der Fluggäste“ beginnt und „mit dem sicheren Verlassen des Flugzeuges durch die Fluggäste am Ort der Landung zur im Vertrag vereinbarten Zeit“ endet. Folglich ist der Ansicht, dass ein Flug im Sinne der „Ankunft“ beendet ist, wenn die Möglichkeit des Verlassens des Flugzeuges besteht, der Vorzug zu geben. Die anderen Auffassungen führen zu ungerechten Ergebnissen. Wenn sich beispielsweise nach dem Touch down und dem Erreichen der Parkposition die Türen des Flugzeuges infolge technischer Probleme nicht öffnen lassen und die Passagiere vier Stunden warten müssen, bevor Techniker die Blockade beseitigen, stünden ihnen in diesem Fall keine Ansprüche auf Ausgleichszahlungen zu, obwohl der Fall vergleichbar mit der Situation ist, dass das Flugzeug während des Fluges einen technischen Defekt erleidet und zu einer Reparatur zwischenlanden muss. Demzufolge kann nur die tatsächlich vorhandene Möglichkeit, das Flugzeug zu verlassen als Ankunftszeitpunkt zur Beurteilung der Verspätung dienen. Das hat auch der EuGH so entschieden (04.09.2014, Rs. C-452/12 – Germanwings ./. Henning, RRa 2014, 291 = NJW 2015, 221).

28a     Hinsichtlich des für die Ankunftsverspätung maßgeblichen Zeitpunkts der Türöffnung handelt es sich zwar um eine anspruchsbegründende Tatsache, die der Fluggast somit darzulegen und zu beweisen hat (AG Hamburg, Urt. v. 28.10.2014 – 18b C 290/13). Da dieser aber (insbesondere bei Großraumflugzeugen) in der Regel keine eigene Wahrnehmungen machen kann (etwa weil die maßgeblichen Flugzeugtüren für ihn nicht einsehbar waren), reicht es, wenn er die Zeit angibt, zu der er das Flugzeug verlassen konnte. Das Luftfahrtunternehmen muss dann ihm Rahmen der sekundären Darlegungslast vortragen, wann die erste Tür zum Ausstieg (nicht irgendeine Tür!) geöffnet wurde und die tatsächliche Möglichkeit des Ausstiegs bestand. Diese Auffassung hat bislang auch die 7. Zivilkammer des LG Darmstadt in mündlichen Verhandlungen vertreten, konnte das aber bislang – soweit ersichtlich – nicht in einem Urteil neiderlegen, weil das beklagte Luftfahrtunternehmen auf diesen Hinweis hin die Klageforderung stets anerkannt hat. Wenn ein Fluggast eine bestimmte „Ankunftszeit“ behauptet, reicht es nach zutreffender Ansicht des AG Eilenburg (05.07.2016 – 2 C 119/16) nicht aus, dass das Luftfahrtunternehmen vorträgt, wann irgendeine Tür geöffnet worden ist; es muss vielmehr konkret die maßgeblichen Tatsachen hinschlich der tatsächlichen Möglichkeit des Ausstiegs darlegen und beweisen. Das ist auch zumutbar, weil das Luftfahrunternehmen diesen Zeitpunkt dokumentiert oder dokumentieren kann, sei es entweder durch technische Einrichtungen des Flugzeuges oder durch entsprechende Eintragungen im Bordbuch durch den Kommandanten oder den verantwortlichen Flugbegleiter (Purser).

29     Problematisch in der Beurteilung sind Konstellationen, in denen sich der Abflug um mehrere Stunden verspätet und der Fluggast Abstand von der verspäteten Beförderung nimmt, etwa weil er die Reise nicht mehr oder mit einem selbst organisierten Ersatzflug antreten möchte. In einem Rechtsstreit vor dem AG Rüsselsheim (Urt. v. 26.03.2012 − 3 C 2647/11-33), dem eine rund 30-stündige Verspätung des Abfluges zu Grunde lag, wurde die Klage abgewiesen, mit der Begründung, der Fluggast habe von seinem Recht auf Rücktritt vom Beförderungsvertrag nach Art. 6 Abs. 1 lit. b VO i.V.m Art. 8 Abs. 1 lit. a VO Gebrauch gemacht; hieraus erwachse aber lediglich das Recht, die Flugscheinkosten zurückzufordern, nicht jedoch der Anspruch auf die Ausgleichsleistung.

30   Das LG Darmstadt hat mit Urteil vom 19.09.2012 (7 S 81/12) dieses Urteil bestätigt. Voraussetzung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung sei bei großen Verspätungen, dass der Fluggast an Bord gewesen ist und auch tatsächlich verspätet befördert wurde. Das Gericht hat sehr formalistisch auf die Entscheidungen des EuGH und des BGH im Rechtsstreit Sturgeon ./. Condor verwiesen, wonach der Anspruch auf Ausgleichszahlung erst dann entsteht, wenn der Fluggast tatsächlich verspätet auf dem Zielflughafen landet. Für eine Analogie zu den Fällen, in denen aufgrund einer großen Abflugverspätung die Ankunftsverspätung nicht mehr vermieden werden kann, sei kein Raum. Das Gericht hat diese Auffassung im Verfahren 7 S 120/13 erneut vertreten; in der zugelassenen Revision (X ZR 11/14) hat die Beklagte den Anspruch dann aber anerkannt.

31   Anders hat das LG Frankfurt mit Urteil vom 25.04.2013 (2-24 S 213/12, RRa 2015, 78) in einem gleichgelagerten Fall entschieden: Danach entsteht ein Anspruch auf Ausgleichszahlung auch dann, wenn ein Rücktritt vom Beförderungsvertrag in dem Zeitpunkt erklärt wird, in dem die Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden nicht mehr vermeidbar ist. Die Teilnahme an dem verspäteten Flug ist für das Entstehen des Anspruchs auf Ausgleichszahlung keine Voraussetzung (so auch AG Bremen, Urt. v. 22.11.2012 – 9 C 270/12, Rn. 18j uris; AG Hamburg, Urt. v. 26.04.2016 – 12 C 238/15, BeckRS 2016, 08572). Diese Ansicht überzeugt. Denn nach Ansicht des EuGH ist die Ausgleichsleistung eine Kompensation für Zeitverlust und andere Unannehmlichkeiten (Urt. v. 23.10.2013, Rs. C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa, Rn. 51, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671; s. dazu Vorb. Rn. 18). Dabei kann es aber nicht darauf ankommen, ob die Verspätung während der Beförderung auf dem ursprünglich gebuchten Flug oder einem Ersatzflug entstanden ist. Das AG Hamburg (a.a.O., Rn. 13) hat darüber hinaus zutreffend ausgeführt: „Angesichts des mit der Verordnung bezweckten hohen Schutzniveaus (Erwägungsgrund Nr. 1) wäre eine Auslegung, die Fluggäste zwingt, einen derart verspäteten Flug anzutreten, um einen Ausgleich für die erlittenen Unannehmlichkeiten zu erhalten, mit dem Regelwerk der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 nicht vereinbar, zumal eine erhebliche (mindestens dreistündige), schon vor dem Abflug feststehende Verspätung eine Reise widersinnig machen (Wochenendreise) oder den mit ihr verfolgten Zweck gänzlich vereiteln kann (Geschäftstermin).“

32     Wenn sich der Fluggast nach großer Verspätung seines Fluges selbst einen Alternativflug bucht und dadurch das geplante Endziel mit einer Verspätung von unter drei Stunden erreicht, stehen ihm Ansprüche auf Ausgleichszahlungen nicht zu. Das LG Frankfurt (29.11.2012 – 2-24 S 141/12, RRa 2013, 129 = LSK 2013,320324) hat entschieden, dass eine hypothetische Ankunftsverspätung nicht zum Anspruch auf Ausgleichszahlung führt. Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 23.10. 2012 (verb. Rs. C‑581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C-629/10 – TUI ./. CAA, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671) ließe sich unzweifelhaft entnehmen, dass für eine relevante Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden selbstverständlich auch eine tatsächliche Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden vorgelegen haben muss. Eine bloß hypothetische Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden bei Zugrundelegung des in Anspruch genommenen Ersatzfluges sei nicht ausreichend.