Artikel 14 – Verpflichtung zur Information der Fluggäste über ihre Rechte

(1) Das ausführende Luftfahrtunternehmen stellt sicher, dass bei der Abfertigung ein klar lesbarer Hinweis mit folgendem Wortlaut für die Fluggäste deutlich sichtbar angebracht wird: „Wenn Ihnen die Beförderung verweigert wird oder wenn Ihr Flug annulliert wird oder um mindestens zwei Stunden verspätet ist, verlangen Sie am Abfertigungsschalter oder am Flugsteig schriftliche Auskunft über ihre Rechte, insbesondere über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen.“

(2) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das Fluggästen die Beförderung verweigert oder einen Flug annulliert, händigt jedem betroffenen Fluggast einen schriftlichen Hinweis aus, in dem die Regeln für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen gemäß dieser Verordnung dargelegt werden. Ferner wird allen von einer Verspätung um mindestens zwei Stunden betroffenen Fluggästen ein entsprechender Hinweis ausgehändigt. Die für die Kontaktaufnahme notwendigen Angaben zu der benannten einzelstaatlichen Stelle nach Artikel 16 werden dem Fluggast ebenfalls in schriftlicher Form ausgehändigt.

(3) Bei blinden oder sehbehinderten Personen sind die Bestimmungen dieses Artikels durch den Einsatz geeigneter alternativer Mittel anzuwenden. 

I. Allgemeines

1           Ein Fluggast hat das Recht, zu erfahren, welche Rechte er hat, wenn er auf dem gebuchten Flug nicht befördert wird oder sein Flug annulliert oder mit großer Verspätung durchgeführt wird. Darüber hinaus hat ein Fluggast das Recht zu erfahren, wer den gebuchten Flug durchführen soll und wird. In der Fluggastrechte-Verordnung ist bedauerlicherweise nur die Informationspflicht des ausführenden Luftfahrtunternehmens über die Rechtsansprüche des Fluggastes infolge von Nichtbeförderung, Annullierung oder großer Verspätung normiert. Die Pflicht zur Aufklärung über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens ist in einem anderen Regelwerk niedergelegt.

2           Leider wurde auch nicht bestimmt, dass dem Fluggast der Grund für die Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung mitgeteilt werden muss. Dies wäre für die Praxis wichtig, damit ein Fluggast bzw. der Prozessvertreter vor Einreichung der Klage beurteilen kann, ob ein Entlastunggrund (ein vertretbarer Grund nach Art. 2 lit. j VO oder ein außergewöhnlicher Umstand nach Art. 5 Abs. 3 VO) vorliegt oder nicht. So könnte ein erheblicher Teil von Prozessen vermeiden werden.

3           Damit ein Fluggast sich nicht aus Unwissenheit mit einer niedrigeren als der ihm gebührenden Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO abfindet, enthält die Verordnung in Art. 14 VO umfangreiche Informations- und Hinweispflichten. So ist im Abfertigungsbereich (unabhängig von einem konkreten Vorfall) ein Hinweis mit dem wörtlich vorgeschriebenen Text des Art. 14 VO anzubringen. Deutlich sichtbar muss demnach zu lesen sein: „Wenn Ihnen die Beförderung verweigert wird oder wenn Ihr Flug annulliert wird oder mindestens zwei Stunden verspätet ist, verlangen Sie am Abfertigungsschalter oder am Flugsteig schriftliche Auskunft über Ihre Rechte, insbesondere über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen.“

 4     Dem Fluggast müssen auch die notwendigen Angaben zu der benannten einzelstaatlichen Stelle nach Artikel 16 VO (Durchsetzungsstelle) gegeben werden, damit er sich ggf. dort beschweren kann. Auch diese Informationen müssen ebenfalls in schriftlicher Form gegeben werden.

5          In den meisten Flughäfen werden die Fluggäste über Plakate auf ihre Rechte hingewiesen. Das ist nicht vorgeschrieben. Die Verordnung verlangt aber (darüber hinaus auch), dass der Hinweis „bei der Abfertigung“, d.h. nicht vorher (z.B. am Eingangsbereich des Flughafengebäudes) und nicht danach, sondern während der Abfertigung erfolgt. Daraus ist abzuleiten, dass der Hinweis (durch ein Hinweisschild, ein Plakat) am Abfertigungsschalter erfolgt. Soweit das Luftfahrtunternehmen seiner Informationspflicht durch Broschüren nachkommen will, müssen diese am Check-in-Schalter offen ausliegen und nicht nur für den Fall der Nachfrage verfügbar sein.

6          Bei Eintritt des konkreten Vorkommnisses (Nichtbeförderung, Annullierung oder große Verspätung) müssen dem Betroffenen also schriftliche Hinweise über seine Rechte ausgehändigt werden. Diese sollen in verständlicher Sprache verfasst sein und auch auf weitergehende mitgliedstaatliche Schadensersatzansprüche verweisen, damit der Zweck der Verordnung, nämlich die umfassende Information des Reisenden, erreicht wird.

II. Pflicht zur Information bei frühzeitiger Annullierung

 7         Annulliert ein Luftfahrtunternehmen einen Flug zwar mehr als 14 Tage vor dem geplanten Abflugtermin, teilt der Reisevermittler diese Mitteilung aber erst 13 Tage vor Abflug mit, hat der Reisende einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen. Das Luftfahrtunternehmen kann sich auf etwaige Fehler des Reisevermittlers im Verhältnis zum Kläger nicht berufen (AG Frankfurt a. M., Urt. v. 04.09.2009, RRa 2009, 292, LG Frankfurt, Urt. v. 01.09.2011 – 2-24 S 92/11, RRa 2012, 92; a.A. AG Rüsselsheim, AG Rüsselsheim, Urt. v. 18.05.2016 – 3 C 3043/15-31). Das LG Frankfurt (a.a.O.) hat zutreffend entschieden, dass der Reiseveranstalter kein Empfangsvertreter bzw. Wissensvertreter des Fluggastes ist.

III. Information bei Nichtbeförderung wegen Überbuchung

8         Verzichtet ein Fluggast, dessen Flug überbucht ist, auf die gebuchte Beförderung, muss das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn im Rahmen der Verhandlungen über eine Gegenleistung auch darauf hinweisen, dass ein „Freiwilliger“ i.S.d. Art. 4 VO nach Abschluss der Vereinbarung mit der Geltendmachung von einer weiteren Schadensersatzleistung ausgeschlossen ist (Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss [2. Aufl. 2010], Kap. 15, Rn. 132).

IV. Informationen über das ausführende Luftfahrtunternehmen

9       Die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 enthält keine Informationen über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens. Diese sind aber in der Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 vom 14.12.2005 (ABl. EG 2005 L 344, 15) in Art. 11 niedergelegt. Art. 11 gilt für die Beförderung von Fluggästen auf dem Luftwege, wenn der Flug Teil eines Beförderungsvertrags ist und diese Beförderung in der Union begonnen hat, und

  1. a) der Flug von einem Flughafen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ausgeht, für das der Vertrag gilt, oder
  2. b) der Flug von einem Flughafen in einem Drittstaat ausgeht und auf einem Flughafen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, für das der Vertrag gilt, ankommt, oder
  3. c) der Flug von einem Flughafen in einem Drittstaat ausgeht und auf einem solchen Flughafen ankommt.

10         Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/ 2005 gilt unabhängig davon, ob es sich um einen Linienflug handelt oder nicht, sowie unabhängig davon, ob der Flug Teil einer Pauschalreise ist oder nicht. Die Rechte der Fluggäste nach der Richtlinie 90/314/EWG (sog. Pauschalreise-Richtlinie) und der Verordnung (EWG) Nr. 2299/89 bleiben unberührt.

11         Nach Art. 11 Abs. 1 (EG) Nr. 2111/ 2005 hat der Vertragspartner (vertragliches Luftfahrtunternehmen oder Reiseveranstalter) für die Beförderung im Luftverkehr die Fluggäste bei der Buchung über die Identität der/des ausführenden Luftfahrtunternehmen(s) zu unterrichten und zwar unabhängig vom genutzten Buchungsweg.

12         Ist die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens bei der Buchung noch nicht bekannt, hat der Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr sicherzustellen, dass der Fluggast über den Namen der bzw. des Luftfahrtunternehmen(s) unterrichtet wird, die bzw. das wahrscheinlich als ausführende(s) Luftfahrtunternehmen der betreffenden Flüge tätig werden bzw. wird (Art. 11 Abs. 2 VO (EG) Nr. 2111/ 2005), sobald diese Identität feststeht.

13         Wird/werden das bzw. die ausführenden Luftfahrtunternehmen nach der Buchung gewechselt, so leitet der Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr unabhängig vom Grund des Wechsels unverzüglich alle angemessenen Schritte ein um sicherzustellen, dass der Fluggast so rasch wie möglich über den Wechsel unterrichtet wird (Art. 11 Abs. 3 VO (EG) Nr. 2111/ 2005). In jedem Fall werden die Fluggäste bei der Abfertigung oder, wenn keine Abfertigung bei einem Anschlussflug erforderlich ist, beim Einstieg unterrichtet.

14         Das Luftfahrtunternehmen oder gegebenenfalls der Reiseveranstalter sorgen dafür, dass der betreffende Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr über die Identität der oder des Luftfahrtunternehmen(s) unterrichtet wird, sobald diese Identität feststeht, insbesondere im Falle eines Wechsels des Luftfahrtunternehmens (Art. 11 Abs. 4 VO (EG) Nr. 2111/ 2005).

 15      Wurde ein Verkäufer von Flugscheinen nicht über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens unterrichtet, so ist er für die Nichteinhaltung des Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/ 2005 nicht verantwortlich (Art. 11 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2111/ 2005).

16       Die Verpflichtung des Vertragspartners für die Beförderung im Luftverkehr zur Unterrichtung des Fluggasts über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens ist in den für den Beförderungsvertrag geltenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufzuführen (Art. 11 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2111/ 2005).

 17       Die Mitgliedstaaten müssen nach Art. 13 VO (EG) Nr. 2111/ 2005 zur Einhaltung dieser Pflichten erforderlichen Maßnahmen treffen und für Verstöße gegen diese Regeln Sanktionen festlegen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.

18         Klärt ein Luftfahrtunternehmen den Fluggast nicht über seine Rechte bei einer Flugverspätung auf, so muss es die Kosten für die zur Informationsbeschaffung notwendige Einschaltung eines Rechtsanwalts ersetzen (AG Hannover 31.07.2012 – 517 C 13641/11, NJW-RR 2013, 381; AG Düsseldorf 11.06.2013 – 43 C 15606/12, Rn 15, juris; AG Frankfurt 08.11.2013 – 32 C 2687/13-41; LG Frankfurt 05.12.2014 – 2-24 S 49/14, RRa 2015, 24; aA AG Charlottenburg 17.01.2014 – 234 C 237/13); AG Bremen 12.06.2014 – 9 C 72/14, NJW-RR 2014, 1142). Das hat der BGH mit Urteil vom 25.02.2016 – X ZR 35/15, RRa 2016, 183 bestätigt für den Fall, dass die erteilten Hinweise lückenhaft, unverständlich oder sonst so unklar sind, dass der Fluggast nicht sicher erkennen kann, was er tun muss.

Artikel 13 – Regressansprüche

In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen. 

1    Art. 13 VO schafft ein Gegengewicht dafür, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen nach Art. 7 VO auf Ausgleichszahlungen bzw. nach Art. 8 VO auf Erstattung von Ticketkosten und anderweitige Beförderung bzw. nach Art. 9 VO auf Betreuungsleistungen für Störungen bei der Flugabwicklung in Anspruch genommen werden kann, obwohl diese möglicherweise vom ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht verschuldet sind. Diese Haftungsfolgen gelten nach Art. 4 VO für die Nichtbeförderung, nach Art. 5 VO für die Annullierung und nach Art. 6 VO für die Verspätung, insbesondere für die große (Ankunfts-)Verspätung von mehr als 3 Stunden.

2    Die Regressansprüche des ausführenden Luftfahrtunternehmens für Leistungen nach der Verordnung sind ausdrücklich nicht beschränkt. Dies gilt insbesondere für den Regress gegenüber einem Reiseveranstalter, mit dem ein Chartervertrag geschlossen worden ist, oder mit einem sonstigen Vertragspartner (z.B. einem Flughafenbetreiber und dessen Abfertigungsbetrieb) oder beauftragten Dritten, wenn nicht genügend Enteisungsmittel vorgehalten wird. Sind diese Vertragspartner die Schadensverursacher, ist der Weg für den Regress nach Art. 13 VO frei (allgemein dazu: BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.)

3    Dabei begründet Art. 13 VO keinen eigenen Regressanspruch, sondern setzt diesen vielmehr voraus. Ein solcher Regressanspruch kann sich entweder aus dem zugrunde liegenden Vertrag (z.B. dem „Chartervertrag“) ergeben oder nach den Grundsätzen einer Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677, 683 BGB). So etwa, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast bei einer Flugpauschalreise einen Teil des Flugpreises erstattet, obwohl dies eigentlich eine Verpflichtung des Reiseveranstalters gewesen wäre. Das ausführende Luftfahrtunternehmen handelt insoweit ohne Auftrag, aber im Geschäftsinteresse des Reiseveranstalters, der den Pauschalreisevertrag mit dem Reisenden abgeschlossen hat.

4    Den Beschwerden der Luftfahrtbranche gegen die Belastungen aus der Fluggastrechte-Verordnung hält der EuGH regelmäßig entgegen, dass die Verpflichtungen gemäß der Verordnung unbeschadet des Rechts der Luftfahrtunternehmen zu erfüllen sind, bei anderen Schadensverursachern, auch Dritten, Regress zu nehmen, wie es Art. 13 VO vorsieht (allgemein dazu: BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.). Ein solcher Regress kann daher die Belastung dieser Beförderungsunternehmen aus den Verpflichtungen der Verordnung mildern oder sogar beseitigen. Wegen des Regressanspruchs können die Luftfahrtunternehmen damit belastet werden, den betroffenen Fluggästen einen Anspruch auf einen weder annullierten noch verspäteten Flug zu verschaffen (EuGH, Urt. v. 19.11.2009, verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck u.a. ./. Air France, Rn. 68, Slg I-2009 I-10923 = RRa 2009, 282 f., 289; so schon EuGH, Urt. v. 10.01.2006 – IATA und ELFAA ./. Department of Transport, Rs. C-344/04, Rn. 90, Slg. 2006, I-403 = RRa 2006,127).

5    Für den umgekehrten Fall der Regressnahme des Reiseveranstalters gegenüber der Fluggesellschaft folgt dessen Regressanspruch aus einem sogenannten Gruppenbeförderungsvertrag zwischen Reiseveranstalter und Fluggesellschaft. Soweit der Reiseveranstalter von den Reiseteilnehmern bei einer von ihm veranstalteten Flugpauschalreise wegen Flugannullierung oder sehr großer Verspätung bzw. Nichtbeförderung auf Gewährleistung aus Pauschalreisevertrag in Anspruch genommen wird, ergibt sich der Regressanspruch aus Gruppenbeförderungsvertrag i.V.m. §§ 631 ff, 278, 280 Abs. 2, 286 Abs. 1 BGB. Der Reiseveranstalter ist ansonsten zwar kein Anspruchsgegner für die Ansprüche aus der Verordnung, kann sich diese jedoch von dem einzelnen Fluggast im Sinne einer einheitlichen Regulierung des Schadensfalles abtreten lassen. Dann ergibt sich der Anspruch des Reiseveranstalters gegen den ausführenden Luftfahrtunternehmer z.B. wegen Ausgleichszahlungen aus Art. 7 Abs. 1 VO i.V.m. § 398 BGB aus abgetretenem Recht.

6    Dem steht das Montrealer Übereinkommen nicht entgegen, denn im Verhältnis zwischen Reiseveranstalter und Fluggesellschaft findet das Montrealer Übereinkommen keine Anwendung (so: OLG Frankfurt, Urt. v. 23.08.2007 − 3 U 207/06, RRa 2008, 38 f.; Urt. v. 15.11.2011 – 16 U 39/11, RRa 2012, 119 f.; LG Frankfurt, Urt. v. 21.07.2006 – 2-19 U 349/05, RRa 2008, 34 f.).

Artikel 12 – Weiter gehender Schadensersatz

(1) Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.

(2) Unbeschadet der einschlägigen Grundsätze und Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, einschließlich der Rechtsprechung, gilt Absatz 1 nicht für Fluggäste, die nach Artikel 4 Absatz 1 freiwillig auf eine Buchung verzichtet haben.

I. Allgemeines

1   Art. 12 VO regelt, dass diese Verordnung trotz eines weiter gehenden Schadens des Fluggastes gilt (Abs. 1 Satz 1) und bestimmt, dass eine „gewährte Ausgleichsleistung auf einen Schadensersatzanspruch“ angerechnet werden kann (Abs. 1 Satz 2). In der Praxis spielt diese Vorschrift u. a. bei Flugpauschalreisen eine Rolle, weil der Fluggast bei Ankunftsverspätungen nicht nur Ansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung gegenüber dem Luftfahrtunternehmen, sondern auch reisevertragliche Ansprüche (Minderung des Reisepreises) gegenüber dem Reiseveranstalter geltend machen kann. Aber auch in den Fällen, in denen der Fluggast wegen der verspäteten Ankunft am Flughafen Mehrkosten zur Beförderung zum Wohnsitz aufbringen muss, ist die Verrechnungsvorschrift zu beachten.

2   Die Verordnung regelt erkennbar nur das Rechtsverhältnis zwischen dem Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und insbesondere die Ansprüche eines Fluggasts gegen ein Luftfahrtunternehmen im Falle der Nichtbeförderung, Annullierung oder großen Verspätung.  Art. 3 Abs. 6 Satz 1 VO bestimmt ausdrücklich, dass diese Verordnung „die aufgrund der Richtlinie 90/314/EWG bestehenden (Fluggast-)Rechte unberührt“ lässt. Daraus lässt sich ableiten, dass Ansprüche, die ein Fluggast gegen einen Dritten (aus einem anderen Rechtsgrund) hat, unberücksichtigt bleiben müssen. Aus diesem Grund können z.B. Rückzahlungsansprüche eines Flugreisenden gegen einen Reiseveranstalter nach kraft Gesetzes eingetretener Minderung des Reisepreises wegen der erheblichen Verspätung eines Fluges nicht nach Art. 12 VO auf die Ansprüche auf Ausgleichszahlung angerechnet werden(umstr., siehe hierzu vertiefend unter IV.)

II. Die Anrechnung der gewährten Ausgleichsleistung auf einen Schadenersatz(Art. 12 Abs. 1 S.2)

1. Allgemeines

3   Das Montrealer Übereinkommen, die Fluggastrechte-Verordnung und die Regelungen des nationalen Rechts stehen als selbständige Regelwerke nebeneinander und ergänzen sich. Der EuGH hat entschieden, dass sich die in der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 getroffenen Regelungen als solche nicht ausschließen, dass Fluggäste, denen ein Schaden entsteht, der einen Ausgleichsanspruch auslöst, auch unter den im Montrealer Übereinkommen vorgesehenen Voraussetzungen (Art. 19, 22 und 29 MÜ) Klage auf Ersatz dieses Schadens erheben können (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA, Rn. 47, Slg. 2006, I-403, RRa 2006, 127 = NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112 = ZLW 2006, 582). So sei es nationalen Gerichten möglich, ein Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des den Fluggästen wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schadens auch auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Verordnung Nr. 261/2004 zu verurteilen, d. h. insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodríguez ./. Air France, Rn. 37, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916). Aus Art. 12 VO geht hervor, dass die den Fluggästen gewährte Ausgleichsleistung die Durchführung der in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen ergänzen soll, so dass den Fluggästen der gesamte Schaden, der ihnen durch die Verletzung der vertraglichen Pflichten des Luftfahrtunternehmens entstanden ist, zu ersetzen ist.

4   Der BGH hat in seinem Urteil vom 25.03.2010 (Xa ZR 96/09, RRa 2010, 221 = ZLW 2011, 133) die zutreffende Auffassung vertreten, dass sich aus Art. 12 VO selbst kein Schadensersatzanspruch ergibt; die Grundlage für einen nach dieser Vorschrift vorausgesetzten Anspruch müsse daher im nationalen Recht verankert sein. Bei Anwendung deutschen Rechts schulde ein Luftfahrtunternehmen dem Passagier Schadensersatz gemäß §§ 631 ff, 280 ff Abs. 1 BGB, wenn es schuldhaft gegen Verpflichtungen (z.B. aus dem Luftbeförderungsvertrag) verstoße.

Der Anspruch auf einen weiter gehenden Verspätungsschaden setzt aber stets voraus, dass ein konkreter Verspätungsschaden dargelegt und bewiesen wird (LG Darmstadt, Urt. v. 07.11.2007 – 7 S 89/07).

2. Der „weiter gehende Schadensersatz (Abs.1 S.1)

6    Der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ in Art. 12 Abs. 1 S. 1 VO ist nach Meinung des EuGH dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht ermöglicht, unter den Voraussetzungen des Montrealer Übereinkommens oder des nationalen Rechts Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schaden, einschließlich des immateriellen Schadens, zu gewähren. Dagegen könne der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ dem nationalen Gericht nicht als Rechtsgrundlage dafür dienen, ein Luftfahrtunternehmen zu verurteilen, den Fluggästen, deren Flug verspätet war oder annulliert wurde, die Kosten zu erstatten, die ihnen durch die Verletzung der diesem Unternehmen nach den Art. 8 und 9 VO obliegenden Unterstützungs- und Betreuungspflichten entstanden sind.

Daher drängt sich die Frage auf, ob eine geleistete Ausgleichszahlung auf einen reisevertraglicher Anspruch nach kraft Gesetzes eingetretener Minderung des Reisepreises (§ 651d BGB) der sich gegen einen Dritten richtet, auf diesen angerechnet werden kann. Schließlich soll mit der Minderung das Äquivalenzverhältnis des jeweiligen Vertrages wiederhergestellt werden und im Gegensatz hierzu dient der Schadensersatz der Befriedigung des Integritätsinteresses.

8     Stimmen in Literatur und Rechtsprechung verweisen zur Begründung der Gleichstellung von Minderungs- und Schadenersatzansprüchen im Rahmen der Anrechnung darauf, dass der Begriff des Schadensersatzes aus dem Sekundärrechtsakt autonom in einem umfassenden Sinne ausgelegt werden muss (siehe dazu Bollweg, RRa 2009, 10, 13; Leffers, RRa 2008, 258, 259 f.; Tonner VuR 2009, 212; Weise/Schubert, TranspR 2006, 340 (343); LG Frankfurt a.M. 29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222; AG Rostock 14.1.2013, RRa 2013, 92; zum Konkurrenzverhältnis von Schadensersatz- und Ausgleichsansprüchen siehe auch Staudinger BGB/Staudinger, § 651d Rn.8; § 651f, Rn. 7 f.).

9       Zu berücksichtigen ist aber, dass die Verordnung grundsätzlich nur das Rechtsverhältnis zwischen einem Fluggast und einem ausführenden Luftfahrtunternehmen regelt; andere Rechtsverhältnisse will es nicht regeln, auch wenn in Art. 2 VO die Begriffe „Reiseunternehmen“ (lit. d) und „Pauschalreise“ (lit. e) erläutert werden. Wäre dem nicht so,  wäre es für den europäischen Gesetzgeber ein Leichtes gewesen, in Art. 12 VO neben den weiter gehenden Schadensersatzansprüchen auch „Ansprüche gegen einen Reiseveranstalter“ aufzunehmen. Da dies nicht geschehen ist, muss im Rahmen der gebotenen engen Auslegung davon ausgegangen werden, dass mit „weiter gehenden Schadensersatzansprüchen“ nur solche Ansprüche gemeint sein sollen, die sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen Fluggast und Luftfahrtunternehmen ergeben (aA LG Frankfurt a.M. 29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222). Ansprüche des Fluggastes gegen einen Reiseveranstalter auf Minderung haben daher unberücksichtigt zu bleiben (aA LG Frankfurt a.M. aaO; siehe dazu auch →Art. 2 Rn. 38 ff.).

10    Ob mit dem Begriff „Schadensersatzansprüche“ in Art. 12 Abs. 1 VO nur materielle oder auch immaterielle Schadensersatzansprüche gemeint sind, ist unklar. Bollweg (RRa 2009, 10,11) sieht beide Ansprüche als erfasst an, da die Vorschrift keine Unterscheidung trifft und auch Art. 7 Abs. 1 VO nicht differenziert (siehe auch Leffers, RRa 2008, 258, 259). Der EuGH hat aber ausgeführt, dass die pauschale Ausgleichszahlung dem Ausgleich eines von den Fluggästen erlittenen Zeitverlusts dient (EuGH, Urt. v. 23.10.2012, verb. Rs C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und Rs. C-629/10 – TUI Travel u.a. ./. CAA, Rn. 74, RRa 2012, 272). Sähe man die Ausgleichszahlung als Ausgleich nur immaterieller Schäden an, schiede bei Beurteilung nach deutschem Recht eine Anrechnung aus, wenn der Fluggast auch einen materiellen Schaden (z.B. die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten, die wegen Annullierung eines gebuchten Fluges angefallen sind) geltend macht. Der BGH hat diese Frage wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung mit Beschl. v. 30.07.2013 (X ZR 111/12 und X ZR 113/12, RRa 2013, 233 = TranspR 2013, 447 = BeckRS 2013, 14698) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dabei hat er deutlich gemacht, dass für den Fall, dass über die Anrechnung nach nationalem Recht zu entscheiden sein sollte, es schließlich darauf ankomme, welche Beeinträchtigung die Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO kompensieren soll. Denn nach deutschem Recht könnten Ersatzleistungen für den materiellen Schaden nicht auf immaterielle Nachteile angerechnet werden und umgekehrt. Daher schiede eine Anrechnung aus, wenn die Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO nur dem Ausgleich immaterieller Schäden diente, da im Anlassstreit die Kläger Schadenersatzansprüche (Erstattung der Kosten für einen Ersatzflug, den Weitertransport zum Fährhafen, Übernachtungskosten und Verpflegung) geltend gemacht haben. (Ausführlich zu den Überlegungen im Einzelnen: Schuster RRa 2014, 2 [5 f.]). Da die Ausgleichszahlung aber (nur, zumindest aber überwiegend) eine Kompensation für durch die Flugzeitverlängerung erlittenen Unannehmlichkeiten sein soll (so EuGH 23.10.2012 verb Rs C-581/10 – Nelson und C-629/10 – TUI; ausführlich dazu Vorb →Rn 18), kommt eine Anrechnung nicht in Betracht.

11    Unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 06.05.2010 (Rs. C-63/09 – Walz ./. Clickair, Slg. 2010, I-4239 = RRa 2010, 180 = NJW 2010, 2113 = EuZW 264, Rn. 29), in dem er entschieden hat, dass die Begriffe „préjudice“ und „dommage“ in Kapitel III des französischen Textes des Montrealer Übereinkommens sowohl materielle als auch immaterielle Schäden umfassen, hat der EuGH in der Rodriguez-Entscheidung aber bereits klargestellt, dass der nach Art. 12 VO ersatzfähige Schaden nicht nur ein materieller, sondern auch ein immaterieller Schaden sein kann (Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, Rn. 41, RRa 2011, 282).

12    Entgegen der bislang ständig vertretenen Ansicht des LG Darmstadt (z.B. 2.3.2011 – 7 S 95/10, RRa 2011, 134 (137) = BeckRS 2011, 17043) sind  sind Forderungen auf Aufwendungsersatz wegen unterbliebener Unterstützungs- und Betreuungsleistungen (Art. 8 und Art. 9 VO) nicht „weiter gehender Schadensersatz“ im Sinne der Art 12 Abs. 1 Satz 1 VO. Die Ansprüche auf Ausgleichszahlung und solche auf Betreuungs- und Unterstützungsleistungen bestehen nebeneinander und sind daher unabhängig voneinander zu erfüllen. Das hat nunmehr der EuGH in der Rechtssache Sousa Rodríguez ./. Air France (Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776) zutreffend klargestellt (zuvor schon AG Frankfurt, Urt. v. 09.05.2006 – 31 C 2820705-74, RRa 2006, 181; AG Frankfurt, Urt. v. 10.05.2010 – 31 C 2339/10-74, RRa 2011, 193; AG Rüsselsheim, Urt. v. 21.09.2011 – 3 C 12/11 – 36; Wahl, RRa 2013, 262 ff.; a.A.: AG Köln, Urt. v. 18.08.2006 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44). Diese Ansicht ist auch rechtspolitisch die einzig vernünftige, weil andernfalls dasjenige Luftfahrtunternehmen begünstigt würde, das sich weigert, Unterstützungs- und Betreuungsleistungen zu gewähren. (Vgl. dazu auch die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 28.06.2011 in der Rs. C-83/10 – Sousa Rodríguez ./. Air France, Rn. 57 ff., RRa 2011, 185, (187 f.)).

13    Das AG Dortmund (04.03.2008 − 431 C 11621/07, RRa 2008, 188) urteilte zutreffend, dass ein Aufwendungsersatzanspruch wegen der Nichtgewährung einer Hotelübernachtung aus Art. 9 VO nicht auf eine Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO angerechnet werden darf. Gleiches gilt für den Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die Verpflegung, wenn das Luftfahrtunternhmen diese verweigert hat (AG Frankfurt a.M. 10.5.2010 – 31 C 2339/10-74, RRa 2011, 193).

14   Dagegen kann ein vorgerichtlich übergebener, aber nicht eingelöster Scheck nach Ansicht des AG Rüsselsheim (16.9.2010 – 3 C 732/10-32, RRa 2011, 53 = LSK 2011, 410236) auf eine zu zahlende Ausgleichsleistung angerechnet werden.

15    Verzugsschäden, die sich dadurch ergeben, dass ein Luftfahrtunternehmen seiner Verpflichtung zur Zahlung der Ausgleichsleistung nicht nachkommt, stellen keinen „weiter gehenden Schadensersatz“ dar, weil sie nicht aufgrund der Annullierung, Verspätung oder Nichtbeförderung entstanden sind (LG Frankfurt, Beschl. v. 15.03.2011 – 2-24 S 1/11, RRa 2011, 134; AG Frankfurt, Urt. v. 17.01.20114 – 30 C 2462/13-68). Wenn also ein Luftfahrtunternehmen die berechtigten Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung dem Fluggast gegenüber abgelehnt hat, kann dieser einen Rechtsanwalt nochmals mit der außergerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche beauftragen und die Kosten der anwaltlichen Tätigkeit als Verzugsschäden ersetzt verlangen (AG Frankfurt, Urt. v. 10.05.2010 – 31 C 2339/10-74; AG Rüsselsheim 24.6.2010 − 3 C 320/10-32, RRa 2010, 232, BeckRS 2014, 17980; 10.8.2011 − 3 C 237/11-36, RRa 2011, 247; 5.7.2013 – 3 C 145/13-27; AG Frankfurt a.M. 6.12.12 – 31 C 2553/12-78, RRa 2013,138 = BeckRS 2013, 02560; AG Frankfurt a.M. 17.1.2014 – 30 C 2462/13-68, RRa 2014, 254).

16       Ein Anspruch auf Ersatz der infolge einer verspäteten Ankunft eines Fluges zusätzlich angefallenen Kosten für die Bahnfahrt vom Flughafen zum Wohnort des Reisenden kann nach Ansicht des LG Frankfurt (Urt. v. 05.12.2014 – 2-24 S 66/14, RRa 2015, 27) nach Art.12 Abs. 1 S.2 VO angerechnet werden.

17  Der als Minderung gewährte Rückerstattungsanspruch hinsichtlich verwendeter Bonusmeilen stellt nach einem Urteil des AG Köln vom 26.07.2011 – 126 C 96/09, RRa 2011, 56 keinen Anspruch dar, der nach Art. 12 Abs. 1 VO anzurechnen wäre.

III. Anrechnung von geleisteten Ausgleichszahlungen auf Forderungen gegen Dritte

18    Fraglich ist, wie nach geleisteter Ausgleichszahlung mit Forderungen gegen Dritte (z.B. Reiseveranstaltern) umzugehen ist. Das LG Frankfurt a.M. (29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222) hat entschieden, dass die vom Luftfahrtunternehmen gewährte Ausgleichszahlung auf einen danach gegenüber dem Reiseveranstalter geltend gemachten Anspruch auf Rückzahlung des (vollen oder anteiligen) Reisepreises nach eingetretener Minderung anzurechnen ist. Die Kammer vertritt die Auffassung, dass Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO auch für solche Ansprüche gilt, die gegenüber einem anderen Anspruchsgegner geltend gemacht werden und die auf einer Minderung beruhen. Der Bundesgerichtshof (30.9.2014 – X ZR 126/13, RRa 2015, 17 = NJW 2015, 553 = BeckRS 2014, 21087) vertritt die Ansicht, dass es sich bei einem Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises wegen Minderung aufgrund großer Verspätung um einen weitergehenden Schadensersatzanspruch nach Art. 12 Abs. 1 VO handelt und dass die nach der Fluggastrechte Verordnung allein wegen der großen Verspätung gewährte Ausgleichsleistung auf den Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises wegen Minderung nach § 651d BGB aufgrund derselben großen Verspätung anzurechnen ist. Der X. Zivilsenat hat hervorgehoben, dass die Anrechnung auch nicht im Hinblick darauf ausgeschlossen ist, dass Schuldner des Ausgleichsanspruchs nach der Fluggastrechte-Verordnung das ausführende Luftfahrtunternehmen und Schuldner des Anspruchs auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises nach § 651d BGB der Reiseveranstalter, also ein Dritter ist. Das Gericht hat unterstellt, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen bei Erfüllung der ihm aus der Fluggastrechte-Verordnung erwachsenden Verpflichtungen mit Wirkung für und gegen den Reiseveranstalter handelt. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung anklingen ließ, dass die Anrechnung einer bereits gewährten Ausgleichsleistung dann anzunehmen ist, wenn und soweit das Minderungsrecht allein auf dem Umstand der Flugverspätung gestützt wird. Da es sich bei dem verspäteten Flug um den Rückflug handelte, kann ausgeschlossen werden, dass ein Verlust von bezahlten Reiseleistungen nicht eingetreten ist. Hieraus ist im Umkehrschluss anzunehmen, dass bei einem erheblich verspäteten Hinflug und daraus resultierender Folge, dass bezahlte Leistungen im Zielgebiet nicht in Anspruch genommen werden können (z.B. eine Hotelübernachtung oder Kreuzfahrt), die Anrechnung nicht erfolgen kann, da die Minderung nicht nur auf den Umstand der Flugverspätung, sondern auf den Umstand des Eingriffs in das Äquivalenzverhältnis gestützt wird. Auf einen (weitergehenden) Anspruch auf Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit nach § 651f Abs. 2 BGB ist die gewährte Ausgleichszahlung aus diesem Grund anzurechnen.

18a       Fordert der Fluggast Ersatz für die durch die Ankunftsverspätung zusätzlich entstandenen Kosten für die Weiterbeförderung oder eine ungeplante Hotelübernachtung, ist auf diesen weitergehenden Schaden die Ausgleichszahlung nicht anzurechnen. Die u. a. von Bollweg (Fundstelle RRa) geäußerte Besorgnis der Überkompensation ist unbegründet, da nach der Ansicht des EuGH (Rs. 581/10 – Nelson ./. Lufthansa) unter Bezugnahme auf das Sturgeon-Urteil die Verordnung darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder von einer Annullierung oder großen Verspätung eines Fluges betroffen sind, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind. Es soll mit der Ausgleichszahlung nur der von den Fluggästen erlittene Zeitverlust kompensiert werden. Wenn durch die große Verspätung ein weiterer materieller Schaden eingetreten ist, kann die Ausgleichszahlung nicht hierauf angerechnet werden. Würde man das zulassen, wären die Fluggäste, die neben dem Zeitverlust eine Vermögenseinbuße erleiden, gegenüber den Fluggästen ohne materiellen Schaden benachteiligt.

1. Anrechnung von Zahlungen Dritter auf den Ausgleichsanspruch

19    Dem Wortlaut nach hat der europäische Gesetzgeber nur den Fall geregelt, bei dem zunächst eine Ausgleichsleistung gefordert und geleistet wurde und danach ein weitergehender Schadensersatz verlangt wird. In der Rechtsprechung und der Literatur wird dennoch die Frage diskutiert, ob umgekehrt auch ein geleisteter Schadensersatz auf eine danach geforderte Ausgleichsleistung angerechnet werden kann.

20   Nach einer Entscheidung des AG Rüsselsheim (10.08. 2011 − 3 C 237/11-36, RRa 2011, 244; aA AG Rüsselsheim 10.08.2010 − 3 C 1528/09-32, RRa 2010, 290) kann auch die Zahlung eines Dritten auf den geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlung angerechnet werden. Auch das AG Köln hat eine Anrechnung eines geleisteten Schadensersatzes auf einen Anspruch auf Ausgleichsleistung vorgenommen, ohne aber auf den entgegenstehenden Wortlaut der Verordnung einzugehen (18.08.2013 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44 = LSK 2007, 240214 = juris).

21   Demgegenüber rechnet das LG Darmstadt (1.12. 2010 − 7 S 66/10, RRa 2011, 89 = BeckRS 2011, 08685 = juris; 6.4.2011 − 7 S 122/10, RRa 2011, 290) nur gewährte Ausgleichsleistungen auf weiter gehende Schadensersatzansprüche an und schließt eine umgekehrte Anrechnung aus (ebenso: AG Frankfurt a.M. 4.12.2013 – 31 C 2243/13-17).

22    Der BGH hat im Urt. v. 18.02.2010 (Xa ZR 164/07, RRa 2010, 151) einen vom Berufungsgericht (unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Minderung des Flugpreises) anerkannten Teilbetrag als Teilerfüllung des Ausgleichsanspruchs aus Art. 7 VO berücksichtigt, dabei aber darauf hingewiesen, dass in der Verspätung des Fluges regelmäßig kein Mangel der Flugleistung gesehen werden könne, der einen zusätzlichen Minderungsanspruch begründen könnte (BGH, a.a.O, Rn. 19; so schon im Urt. v. 28.05.2009 – Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 = NJW 2009, 2743). Im Urteil vom 30.09.2014 (X ZR 126/13, Rn. 10, RRa 2015, 17) hat er dann aber entschieden, dass ein Anspruch auf teilweise Rückzahlung des Reisepreises wegen Minderung einen weitergehenden Schadenersatzanspruch darstellt, auf den eine Ausgleichsleistung nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO angerechnet werden kann (siehe dazu auch Schuster, RRa 2015, 2, (5 f)).

23     In einem weiteren Rechtsstreit hat das LG Frankfurt das Verfahren ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen am 31. Juli 2013 (ABl. EG Nr. C 325, S.13) an den EuGH gerichtet. In diesem Verfahren ging es um die Beantwortung der Frage, ob einem Fluggast eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO wegen großer Verspätung in voller Höhe auch dann zusteht, wenn zuvor ein nicht zu den Fluggästen zählender Dritter wegen der Verspätung dem Fluggast zum Ausgleich eine Zahlung geleistet hat. Für den Fall, dass die Anrechnung bejaht wird, hat das Landgericht die Frage gestellt, ob dies nur für Schadensersatzansprüche im Sinne der nationalen deutschen Rechtsordnung oder auch für Ansprüche auf Minderung gilt. Mit der Entscheidung in dieser Rechtssache C-431/13 – Vietnam Airlines ./. Voss hätten einige bislang noch ungeklärte Fragen einer Beantwortung zugeführt werden können. Leider ist das Verfahren zuvor beendet und am 05.06.2014 wieder aus dem Register beim EuGH gestrichen worden (ECLI:EU:C2014:2019).

24       Nachdem der BGH die Frage der Anrechnung zweimal zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte (Beschl. v. 30.07.2013 – X ZR 111/12, RRa 2013, 233; Beschl. v. 30.07.2013 – X ZR 113/12) hätte der EuGH zu dieser Rechtsfrage Stellung nehmen können, hätten sich nicht beide Verfahren zuvor erledigt Schuster, a.a.O., Fn. 21).

25     Auch das AG Hannover (13.08.2015 – 518 C 3469/15) hatte sich mit dieser Rechtsfrage zu befassen. Der Reiseveranstalter zahlte den Fluggästen aufgrund der Flugverspätung vorprozessual 450,- €. Die Fluggäste verlangten vom Luftfahrtunternehmen weiterhin die volle Ausgleichszahlung nach der Verordnung. Das Amtsgericht hat dem Luftfahrtunternehmen die Anrechnung des geleisteten Minderungsbetrages auf den im Prozess geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlung versagt. Es hat diese Entscheidung allein mit dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 S 2 VO begründet. Das LG Hannover erteilte in der Berufungsinstanz den Hinweis, dass auch Leistungen eines Reiseveranstalters auf einen Ausgleichsanspruch anzurechnen sind.

26    In der Literatur wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass nicht nur gewährte Ausgleichszahlungen auf weitergehende Schadensersatzansprüche, sondern auch Zahlungen Dritter auf den Anspruch auf Ausgleichszahlung anzurechnen sind (siehe Bollweg RRa 2009, 10 (11 f); Leffers RRa 2008, 258 (261); Staudinger/Schürmann NJW 2011, 2769, 2774; Hausmann S. 486 ff.; StaudBGB/Staudinger § 651f Rn.8; Wahl RRa 2013, 262 ff.; aA Wagner VuR 2006, 337, 339).

27     Bollweg (aaO) stellt darauf ab, dass es zu einer Überkompensation komme, wenn eine Anrechnung von Schadensersatzansprüchen auf Ausgleichsansprüche abgelehnt würde (so wohl auch BGH Beschl 30.07.2013 – X ZR 111/12, RRa 2013, 233 und X ZR 113/12; siehe dazu auch Schuster RRa2014, 2 [5]. Zudem dürfe die Anrechnung nicht von der Zufälligkeit abhängen, ob sich der Fluggast zunächst mit Ansprüchen aus der Verordnung an das ausführende Luftfahrtunternehmen wendet und danach weiter gehende Forderungen an den Reiseveranstalter bzw. bei einem Nur-Flug wiederum an das vertragliche Luftfahrtunternehmen stellt oder seine Rechte in umgekehrter Reihenfolge geltend macht. Die Verfahren wurden beim EuGH als verb Rechtssachen C-475/13 – 1 Rubin ./. easyJet und C-47613 – Wetzlaff ./. easyJet geführt, aber am 21.04.2014 nach Anerkenntnis der Forderungen durch das Luftfahrtunternehmen wieder aus dem Register gestrichen (ECLI:EU:C:2014:1386).

28   Hausmann  Kap 5 C II folgt Bollweg (aaO) und gibt der wechselseitigen Berücksichtigung der Leistungen den Vorzug (ihm folgend: StaudBGB/Staudinger § 651f Rn.8). Er geht davon aus, dass die ausdrückliche Normierung nur einer einzigen Konstellation in Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO darauf beruhe, dass die Verfasser der Verordnung diese als den Regelfall angesehen haben, weil der pauschalierte Ausgleichsbetrag schneller und einfacher zu erlangen sei als ein konkret nachzuweisender Schadensersatz auf anderer Rechtsgrundlage. Das ist aber reine Spekulation. Es ist nicht ausreichend, darauf hinzuweisen, es sei nicht erkennbar, dass der Unionsgesetzgeber die spiegelbildliche Anrechnungsmöglichkeit ausschließen wollte. Denn auch der gegenteilige Wille ist nicht auszuschließen.

29    Die Kommission hat schon 2003 in einer Stellungnahme zu einem Änderungsvorschlag des EU-Parlaments die Ansicht vertreten, dass Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO beibehalten werden müsse, um zu verhindern, dass ein Luftfahrtunternehmen einem doppelten Schadensersatz (Ausgleichsleistung und Schadensersatz aus anderem Rechtsgrund) auferlegt werde (siehe Stellungnahme vom 11.08.2003 zu den Abänderungen des Europäischen Parlaments betreffend den Vorschlag für die Verordnung [COD (2001)0305, dort unter 4.2, betreffend Abänderung 15). Auch wenn das nicht ausdrücklich gesagt wird, spricht das dafür, dass es auf die „Anrechnungsrichtung“ nicht ankommen soll.

30    Einer Anrechnung eines geleisteten Schadensersatzes auf einen Anspruch auf Ausgleichsleistung steht aber der Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO entgegen, der lediglich die erste Konstellation erfasst. Daher ist der engen, am Wortlaut orientierten Auslegung der Vorzug zu geben.

31         Auch wenn man Bollweg (a.a.O.) und Hausmann (a.a.O.)   folgt und von einer wechselseitigen Anrechnungsmöglichkeit ausgeht, darf bei einer Flugpauschalreise weder ein Luftfahrtunternehmen noch ein Reiseveranstalter einen Fluggast darauf verweisen, zunächst Ansprüche bei dem jeweils anderen Anspruchsgegner geltend zu machen, um dann nur noch den überschießenden Teil der eigenen Verpflichtung erfüllen zu müssen (so zutreffend: Hausmann S. 489; Tonner, VuR 2009, 209, 212; ders., in : Gebauer/Wiedmann, Rn. 131).

V. Die Berechtigung zur Anrechnung

32      Die Anrechnung ist nicht zwingend. Sie kann, muss aber nicht erfolgen.

33     Unklar ist,  an wen sich die Formulierung „kann“ richtet.

34         In der Literatur wird die Meinung vertreten, dass das Luftfahrtunternehmen Adressat dieser Vorschrift sei und deshalb die Anrechnung von diesem erklärt werden muss (Führich Reiserecht § 42 Rn. 37; ders. MDR 7/2007, Sonderbeilage S. 11); ein Gericht soll die Anrechnung nicht ohne Antrag des Luftfahrtunternehmens vornehmen können (Hausmann S. 489; Wahl RRa 203, 262 [268], offen lassend: StaudBGB/Staudinger, § 651f Rn. 9). Auch das AG Köln (18.5.2006 – 121 C 502/05, RRa 2017, 44) hat dem Luftfahrtunternehmen die Befugnis eingeräumt, sich auf die Anrechnung zu berufen, wenn der Fluggast neben dem vom Luftfahrtunternehmen anerkannten Ausgleichsanspruch weitergehenden Schadensersatz verlangt. In diesen Fällen soll das Gericht gebunden sein (so Staudinger/Keiler, HK FluggR/Bollweg, Art. 12 Rn. 96; Führich Rn. 37).

34a       Dagegen vertritt das LG Köln (09.04.2013 – 11 S 241/12) die zutreffende Auffassung, dass den Gerichten keine zwingende Anrechnung vorgeschrieben sei; vielmehr sei es Sache des Gerichts, zu entscheiden, ob eine Anrechnung unter den gegebenen Umständen des Einzelfalles angemessen ist. Das Gericht beruft sich dabei auf die Ausführungen der Generalanwältin beim EuGH Sharpston (28.06.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, Rn. 63 f., RRa 2011, 185 (188) Diese hat in Rn 64 ihrer Schlussanträge darauf hingewiesen, dass „keine Anrechnungspflicht“ bestehe und die Ansicht vertreten, dass es „stets“ Sache des zuständigen Gerichts sei, zu entscheiden hat, ob eine Anrechnung unter den Umständen des Einzelfalls angemessen ist oder nicht. Es bestehen keine Zweifel, dass sie als Adressaten des Art. 12 VO die nationalen Instanzgerichte sieht.

34b      Der EuGH hat in der Sousa Rodriguez-Entscheidung (13.10.2011, Rs. C-83/10, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916) in seinem Urteilsgründen zwar nicht ausdrücklich und klar Stellung genommen. Doch weist er in Rn 38 darauf hin, dass Art. 12 VO es dem nationalen Gericht ermögliche, „das Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des den Fluggästen wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrages entstandenen Schaden auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu verurteilen, d.h. insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal.“ Diesen Ausführungen kann man nur entnehmen, dass das Gericht der Rechtsansicht der Generalanwältin folgt.

35     Nach Art. 12 Abs. 2 VO gelten für einen Fluggast, der auf einem überbuchten Flug gebucht war und gemäß Art. 4 Abs. 1 VO als „Freiwilliger“ auf seine Buchung verzichtet und dafür aufgrund einer besonderen Vereinbarung mit dem Luftfahrtunternehmen als Äquivalent für den Ausgleichsanspruch eine Kompensation („entsprechende Gegenleistung“) erhalten hat, die Regelungen des Art. 12 Abs. 1 VO nicht. Das bedeutet zum Einem, dass die Anrechnungsregel des Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO (Anrechnung einer gewährten Ausgleichsleistung auf einen weitergehenden Schadensersatzanspruch) ausgeschlossen ist.

36    Zum anderen bedeutet die Regel des Art. 12 Abs. 2 VO auch, dass einem nach Art. 4 Abs. 1 VO freiwillig zurücktretenden Fluggast die Möglichkeit der Geltendmachung eines weiter gehenden Schadensersatzanspruch versperrt ist (so auch Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss [2. Aufl. 2010], Kap. 15, Rn. 132). Wer also als „Freiwilliger“ auf seinen Beförderungsanspruch verzichtet, muss dies bei der Verhandlung über die Höhe der Kompensation berücksichtigen und prüfen, ob ihm durch die Nichtbeförderung ein ersatzfähiger weiter gehender Schaden entstanden ist (z.B. Kosten für ein Hotelzimmer oder einen Mietwagen, die er am Zielort wegen der verspäteten Ankunft des Ersatzfluges nicht in Anspruch nehmen kann), der durch die Kompensation nicht abgedeckt ist. Tonner (a.a.O.) weist zu Recht darauf hin, dass bei einem freiwilligen Verzicht auf die gebuchte Beförderung das Luftfahrtunternehmen auch darauf hinweisen muss, dass ein „Freiwilliger“ i.S.d. Art. 4 VO von der Geltendmachung einer weiteren Schadensersatzleistung ausgeschlossen ist. Kommt das Luftfahrtunternehmen dieser Pflicht nicht nach, kann es sich nicht auf Art. 12 Abs. 2 VO berufen.

Artikel 11 – Personen mit eingeschränkter Mobilität oder mit besonderen Bedürfnissen

(1) Die ausführenden Luftfahrtunternehmen geben Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen oder Begleithunden mit entsprechender Bescheinigung sowie Kindern ohne Begleitung bei der Beförderung Vorrang.

(2) Im Fall einer Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung von beliebiger Dauer haben Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen sowie Kinder ohne Begleitung Anspruch auf baldmögliche Betreuung gemäß Artikel 9.

1    In Art. 11 VO hat der europäische Gesetzgeber für „Personen mit eingeschränkter Mobilität“ oder besonderen Bedürfnissen eine Vorrangregel aufgestellt. Das betrifft zum einen Personen, deren Mobilität bei der Benutzung von Beförderungsmitteln aufgrund einer körperlichen Behinderung (sensorischer oder motorischer Art, dauerhaft oder vorübergehend), einer geistigen Beeinträchtigung, ihres Alters oder aufgrund anderer Behinderungen eingeschränkt ist und deren Zustand besondere Unterstützung und eine Anpassung der allen Fluggästen bereitgestellten Dienstleistungen an die Bedürfnisse dieser Person erfordert (Art. 2 lit. i VO). Zu den Personen mit besonderen Bedürfnissen zählen Kinder, die ohne Begleitung (sog. UM = unaccompanied minors) fliegen.

2    Diese Personen haben Anspruch auf vorrangige Beförderung. Bei Personen mit eingeschränkter Mobilität bezieht sich das auch auf deren Begleitpersonen (Betreuer) oder Begleithunde.

3    Darüber hinaus können diese Personen die Betreuungsleistungen aus Art. 9 VO bereits dann in Anspruch nehmen, wenn die Fristen, die für eine Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen gelten, noch nicht abgelaufen sind. Dies hat vor allem Bedeutung bei der Nichtbeförderung und der Verspätung von Flügen.

4    Weitere Rechte sind behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität durch die Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 vom 05.07.2006 (ABl. EG 2006 L 204, 1) eingeräumt worden.

Artikel 10 – Höherstufung und Herabstufung

(1) Verlegt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast in eine höhere Klasse als die, für die der Flugschein erworben wurde, so darf es dafür keinerlei Aufschlag oder Zuzahlung erheben.

(2) Verlegt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast in eine niedrigere Klasse als die, für die der Flugschein erworben wurde, so erstattet es binnen sieben Tagen nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten

a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger 30 % des Preises des Flugscheins oder

b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km, mit Ausnahme von Flügen zwischen dem europäischen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und den französischen überseeischen Departements, und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km 50 % des Preises des Flugscheins oder

c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen, einschließlich Flügen zwischen dem europäischen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und den französischen überseeischen Departements, 75% des Preises des Flugscheins.

I. Allgemeines

1    In Art. 10 VO wird die Verlegung eines Fluggastes in eine andere als der gebuchten „Klasse“ geregelt. Dies kann sich z.B. ergeben, wenn der Flug in der gebuchten Klasse überbucht wurde oder wenn einem Fluggast nach Art. 8 Abs. 1 VO eine „anderweitige Beförderung zum Endziel“ angeboten wird, und auf diesem Flug kein Sitzplatz in der gebuchten Beförderungsklasse mehr frei ist. In solchen Fällen dürfen dem Fluggast durch eine Verlegung in eine andere Klasse aber keine finanziellen Nachteile entstehen. Anders verhält es sich aber, wenn die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 lit. a VO nicht vorliegen, z.B. wenn sich der Passagier nicht rechtzeitig zur Abfertigung einfindet. Wird dieser dann doch noch als Passagier angenommen, aber nur noch in einer niedrigeren als der gebuchten Klasse, weil (nach Annahme von auf der Warteliste stehenden Fluggästen) in der gebuchten Beförderungsklasse kein Sitzplatz mehr frei ist, kann er sich nicht auf Art. 10 VO berufen (so auch: Hausmann, Europäische Fluggastrechte, S. 334).

2    Mit dem Begriff „Klasse“ ist die Beförderungsklasse (First Class, Business Class, Comfort Class oder Economy Class) gemeint, nicht die (i.d.R. mit Buchstaben gekennzeichnete) „Buchungsklasse“ (Tarifklasse) innerhalb einer Beförderungsklasse, an die bestimmte Bedingungen wie Vorausbuchungsfrist, Mindestaufenthalt, Umbuchungsmöglichkeit etc. geknüpft sind (z.B. A = Discount First, C = Business Full Fare, D = Discount Business, F= Full fare First, J = Full Fare Business, interlinefähig, N = PAD, P = Economy, S = Discount Eco, usw.).

II. Höherstufung (upgrade)

3    Gemäß Art. 10 Abs. 1 VO darf für eine Verlegung in eine höhere Klasse kein Aufschlag verlangt werden, obwohl eigentlich eine Vertragsänderung vorliegt, sobald der Fluggast einer Beförderung in der höheren Beförderungsklasse zustimmt.

III. Herabstufung (downgrade)

4    Art. 10 Abs. 2 VO erfasst den Fall der Herabstufung in eine niedrigere Beförderungsklasse als gebucht. In einem solchen Fall entsteht dem Fluggast ein entfernungsabhängig gestaffelter Anspruch auf teilweise Erstattung des Flugpreises. Diese orientiert sich an den Entfernungsstaffeln des Art. 7 Abs. 1 VO, so dass je nach Flugentfernung 30 % des Preises des Flugscheines, 50 % oder 75 % des Preises des Flugscheines von dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zurückzuzahlen sind, je nachdem, ob es sich um einen Flug über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger, um einen Flug zwischen 1.500 km und 3.500 km oder um einen Flug über 3.500 km hinaus handelt. Damit ist nicht die Preisdifferenz zwischen der gebuchten und der niedrigeren (tatsächlichen) Beförderungsklasse zu zahlen (so auch: Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2. Aufl. 2010), Rn. 19; Hausmann, Europäische Fluggastrechte [2012], S. 340).

IV. Die Berechnung des zu erstattenden Flugpreises

5       Für den Fall der Herabstufung eines Fluggasts auf einem Flug hat der EuGH am 22.06.2016 (Rs. C-255/15 – Mennens ./. Emirates, RRa 2016, 181) entschieden, dass für die Ermittlung der dem betroffenen Fluggast geschuldeten Erstattung der Preis des Fluges zugrunde zu legen ist, auf dem der Fluggast herabgestuft wurde. Ist ein solcher Preis auf dem (den Fluggast zur Beförderung auf diesem Flug berechtigenden) Flugschein nicht angegeben, soll auf den Teil des Flugscheinpreises abgestellt werden, der dem Quotienten aus der Länge der betroffenen Flugstrecke und der der Gesamtstrecke der Beförderung entspricht, auf die der Fluggast einen Anspruch hat (Leitsatz).

6       Weiter ungeklärt ist die Frage, wie der Erstattungsbetrag zu berechnen ist, wenn der Flugscheinpreis dem Fluggast überhaupt nicht bekannt ist. Die Antwort auf diese Frage ist aber wichtig, wenn das Downgrading auf einem Flug stattfindet, der im Rahmen einer Flugpauschalreise durchgeführt wird. In diesen Fällen wird dem Fluggast in aller Regel nicht mitgeteilt, welchen Anteil des Pauschalreisepreises auf die Luftbeförderung entfällt. In solchen Fällen wird dem Fluggast nichts anderes übrig bleiben als im Wege einer vorgeschalteten Auskunftsklage das ausführende Luftfahrtunternehmen zu zwingen, ihm mitzuteilen, welchen Preis es vom Reiseveranstalter für die Durchführung des Fluges bezahlt hat. Ein solcher Auskunftsanspruch dürfte allerdings dann ins Leere gehen, wenn das Luftfahrtunternehmen, das ursprünglich mit der Durchführung der Luftbeförderung betraut wurde, ein andereLuftfahrtunternehmen im Wege des Subcharters mit der tatsächlichen Durchführung beauftragt.

 7       Der EuGH (a.a.O.) hat ferner entschieden, dass für die Ermittlung der einem Fluggast im Fall einer Herabstufung auf einem Flug nach Abs. 2 geschuldeten Erstattung nur der Preis des reinen Fluges ohne die auf dem Flugschein ausgewiesenen Steuern und Gebühren zu berücksichtigen ist (Leitsatz 2). Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Steuern und Gebühren weder dem Grunde noch der Höhe nach von der Klasse abhängen, für die der Flugschein erworben wurde. Da viele Fluggesellschaften aber zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit mit sog. Billig-carriern häufig „Steuern“ oder „Gebühren“ angeben, die rechtlich gesehen keine sind (z.B. eine „Administrationsgebühr“ oder eine „261-Gebühr“) oder die in der angegebenen Höhe nicht angefallen (und an den Gebührengläubiger nicht abgeführt worden) sind, wird der Fluggast die vom Gesamtflugpreis in Abzug gebrachten (echten) „Steuern und Gebühren“ genau prüfen müssen, ob diese dem Grunde nach oder in der behaupteten Höhe angefallen und gezahlt worden sind. Sobald auch nur ernsthafte Zweifel an der richtigen Berechnung bestehen, sollte der Fluggast die Fluggesellschaft auffordern, diese »Steuern und Gebühren« dem Grunde und/oder der Höhe nach zu belegen. Wird das verweigert, ist eine vorgeschaltete Auskunftsklage geboten. Entstehen die Zweifel erst im Laufe eines Gerichtsverfahrens, dürfte es ausreichen, wenn der Fluggast, die von der Fluggesellschaft in Abzug gebrachten Steuern und Gebühren dem Grunde und/oder der Höhe nach bestreitet. Dann muss das Luftfahrtunternehmen konkret darlegen und beweisen, dass diese a) auf den konkreten Flug, b) in der geltend gemachten Höhe tatsächlich vom Gebührengläubiger erhoben und c) vom Luftfahrtunternehmen auch tatsächlich an den jeweiligen Gebührengläubiger abgeführt worden sind.

8       Da der EuGH sich nur mit den konkreten Vorlagefragen befassen muss, ergibt sich aus dem Urteil des EuGH leider auch kein Hinweis, wie der (Netto-) Flugpreis ermittelt werden soll, wenn dieser dem Fluggast gar nicht bekannt ist. Dieses Problem entsteht insbesondere bei Flügen, die im Rahmen einer Flugpauschalreise durchgeführt werden, bei der der Flugpreis Teil des Gesamt-Reisepreises ist und dem Fluggast vom Reiseveranstalter bewusst nicht offen gelegt wird.

Denkbar ist zwar grundsätzlich auch hier eine Auskunftsklage gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, das so gezwungen werden kann, den Flugpreis, den der Reiseveranstalter bezahlt hat, offenzulegen und Auskunft darüber zu geben, welchen (echten) Steuern und Gebühren abgeführt wurden.

Dieser Weg ist aber wohl nicht möglich, wenn das vom Reiseveranstalter beauftragte Luftfahrtunternehmen die Luftbeförderung im Wege des Subcharters durch ein anderen Unternehmen hat durchführen lassen. Dieses dürfte im Regelfall den zwischen dem Reiseveranstalter und dem ursprünglichen Luftfahrtunternehmen ausgehandelten Flugpreis nicht kennen und schon gar nicht den Anteil, den der Netto-Flugpreis am Gesamt-Flugpreis ausmacht. Das Subcharter-Unternehmen wird allenfalls mitteilen können, welchen Preis es von beauftragenden Luftfahrtunternehmen für die Ersatz-Beförderung erhalten hat. Dieser Preis dürfte aber in aller Regel nicht identisch sein mit dem Flugpreis, den der Reiseveranstalter an das von ihm beauftragte Luftfahrtunternehmen gezahlt hat. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis der BGH oder der EuGH sich auch mit dieser Frage befassen werden.

9    Für die Rückerstattung setzt die Verordnung eine Frist von 7 Tagen, wobei die in Art. 7 Abs. 3 VO bezeichneten Zahlungswege genutzt werden müssen. Letzten Endes regelt die Verordnung insoweit eine prozentuale Minderung, gerechnet auf den Preis des Flugscheins.