Buchhinweise

Giemulla/Schmid (Hrsg.)
Frankfurt a.M. Der Kommentar zum Luftverkehrsrecht,
Bd. 3 Montrealer Übereinkommen (Köln Loseblatt, Stand 2016)
zit.: Giemulla/Schmid

Führich, Ernst
Reiserecht (München, 7. Aufl. 2015), § 38
zit.: Führich

Hausmann, Ludwig
Europäische Fluggastrechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung von Flügen,
Diss. Bielefeld 2011
zit.: Hausmann

Janköster, Jens Peter
Fluggastrechte im internationalen Luftverkehr
Diss. Bielefeld 2009
zit.: Janköster

Reuschle, Fabian
Montrealer Übereinkommen (Berlin, 2. Aufl. 2011)
zit.: Reuschle

Ruhwedel, Edgar
Der Luftbeförderungsvertrag (Frankfurt a.M. 3. Aufl. 1998)
Zit.: Ruhwedel

Schladebach, Markus
Luftrecht (Tübingen 2007)
zit.: Schladebach

von Staudinger, Julius Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
(Neubearb. 2916)
zit. StaudBGB

Staudinger, Ansgar / Keiler, Stephan
Fluggastrechte-Verordnung (Handkommentar) (Baden-Baden 2016)
zit.: Staudinger/Keiler HK-FluggR

Tonner Klaus
in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.)
Kapitel 15 Haftung von Luftfahrtunternehmen
(Stuttgart, 2. Aufl. 2010)
zit: Tonner in: Gebauer/Wiedmann

Artikel 16 – Verstöße

(1) Jeder Mitgliedstaat benennt eine Stelle, die für die Durchsetzung dieser Verordnung in Bezug auf Flüge von in seinem Hoheitsgebiet gelegenen Flughäfen und Flüge von einem Drittland zu diesen Flughäfen zuständig ist. Gegebenenfalls ergreift diese Stelle die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission mit, welche Stelle gemäß diesem Absatz benannt worden ist.

(2) Unbeschadet des Artikels 12 kann jeder Fluggast bei einer gemäß Absatz 1 benannten Stelle oder einer sonstigen von einem Mitgliedstaat benannten zuständigen Stelle Beschwerde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen diese Verordnung erheben, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde oder einen Flug von einem Drittstaat zu einem Flughafen in diesem Gebiet betrifft.

(3) Die von den Mitgliedstaaten für Verstöße gegen diese Verordnung festgelegten Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

 1   Art. 16 VO verpflichtet jeden Mitgliedstaat, eine „Stelle“ einzurichten, die für die „Durchsetzung“ der Rechte Fluggästen bei Nichtbeförderung, Annullierung und Verspätung zuständig ist und zwar für alle Flüge, die von einem Flughafen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates abgehen, und für solche, die – aus einem Drittland kommend – auf einem dieser Flughäfen landen.

2    Die Durchsetzungs- und Beschwerdestellen haben zwei Aufgaben: Zum einen sollen sie dafür Sorge tragen, dass die Fluggastrechte gewahrt und damit „durchgesetzt“ werden. Darüber hinaus sollen sie nach Art. 16 Abs. 2 VO aber auch für Beschwerden (Anzeigen) von Fluggästen wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen diese Verordnung zuständig sein. Diese Stellen werden daher als „Durchsetzungs- und Beschwerdestelle“ bezeichnet. In Deutschland ist das Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben betraut (§ 63d LuftVZO).

3    Mit dem Wort „Durchsetzung“ ist aber nicht gemeint, dass die Durchsetzungsstelle zivilrechtliche Ansprüche eines Fluggastes (z. B. Ausgleichs- und Erstattungsansprüche) gegen das Luftfahrtunternehmen durchsetzt. Das ist Aufgabe der Gerichte oder der Schlichtungsstellen. Das Luftfahrt-Bundesamt soll – wie jede andere nationale Durchsetzungs- und Beschwerdestelle – daher „nur“ dafür sorgen, dass die Luftfahrtunternehmen die Regelungen der Fluggastrechte-Verord- nung rechtskonform beachten und ihren darin niedergelegten Verpflichtungen (Zahlung von Ausgleichsleistungen, Betreuungspflichten, Unterstützungspflichten) nachkommen (so auch Hausmann, Europäische Fluggastrechte, S. 515, m.w.N. in Fn. 27 ff.).

3a    Der EuGH hat in seinem Urteil vom 17.03.2016 (verb. Rs. C‑145/15 – Ruijssenaars u.a. ./. Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu und C‑146/15 – Dees-Erf ./. Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu, RRa 2016, 123) die Ansicht vertreten, dass eine für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle, die mit der Bearbeitung einer individuellen Beschwerde eines Fluggasts befasst ist, nicht verpflichtet ist, Durchsetzungsmaßnahmen gegen ein Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach dieser Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen. Er folgte insoweit dem Schlussantrag des Generalanwalts Bott vom 14.01.2016, stellte aber auch ausdrücklich fest, dass die Mitgliedstaaten angesichts der Ziele der Verordnung und des Handlungsspielraums, über den sie bei der Zuweisung der Zuständigkeiten, die sie den Stellen übertragen möchten, verfügen, die Möglichkeit haben, zum Ausgleich eines unzureichenden Schutzes der Fluggastrechte die Stelle zu ermächtigen, Maßnahmen auf individuelle Beschwerden hin zu ergreifen.

4    Geschieht dies nicht, wird ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen das betreffende Luftfahrtunternehmen eingeleitet. Das Luftfahrt- Bundesamt kann nach § 63d Nr. 2 LuftVZO vom Luftfahrtunternehmen die für die Wahrnehmung seiner Aufgaben notwendigen Auskünfte verlangen und Überprüfungen der Luftfahrzeuge und des Unternehmens durchführen.

5    Bei nachgewiesenen Verstößen gegen die Verordnung werden die vom Staat festzulegenden Sanktionen verhängt. (Wegen der Arten in den einzelnen Mitgliedstaaten siehe Hausmann, a.a.O., S. 515). Ihm stehen dazu die üblichen Zwangsmittel zur Verfügung, insbesondere die Festsetzung von Bußgeldern. Der Begriff der „Sanktionen“ bezeichnet Maßnahmen, die als Reaktion auf Verstöße ergriffen werden, die die Stelle in Ausübung ihrer allgemeinen Aufsicht aufdeckt, und nicht verwaltungsrechtliche Durchsetzungsmaßnahmen, die in jedem Einzelfall zu ergreifen sind (EuGH, Urt. v. 17.3.2016 – C-145/15, C-146/15).

6    Art. 16 Abs. 3 VO bestimmt ausdrücklich, dass diese Sanktionen, insbesondere Bußgelder, „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen. Das kann nur über hohe Bußgelder erreicht werden, weil nur diese Luftfahrtunternehmen einerseits abschrecken und davon abhalten können, die Regelungen der Fluggastrechte-Verordnung zu ignorieren und andererseits einen wirtschaftlichen Anreiz schaffen , die Verpflichtungen aus der Verordnung zu erfüllen (so auch Hausmann, Europäische Fluggastrechte, S. 515). Wenn ein Luftfahrtunternehmen z.B. einen nicht gut ausgelasteten Flug annulliert und mit einem anderen Flug zusammenlegt und somit erhebliche Kosten erspart, muss der kaufmännische Anreiz, auch in Zukunft so zu verfahren, unterbunden werden. Dies kann aber mit einem Bußgeld in Höhe nur eines Bruchteils der Ersparnis nicht erreicht werden; daher muss das Bußgeld höher sein als die Kosten, die bei Einhaltung der Verpflichtungen aus der Verordnung entstünden (so auch Hausmann, a.a.O., S. 515 f.). Allenfalls bei dem ersten Verstoß kann ein niedrigeres Bußgeld in Betracht kommen. Entgegen der Ansicht von Müller-Rostin (a.a.O.) sind dabei nicht „die Interessen der Beteiligten (Fluggäste und Luftfahrtunternehmen) angemessen zu berücksichtigen“. Es ist allein auf das Interesse des Staates daran, dass die Gesetze eingehalten werden, abzustellen.

7    Auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass seit dem Jahr 2005 insgesamt 1.716 Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden seien; in nur 37 Fällen sei ein Bußgeld verhängt worden; dieses habe zwischen 1.000 und 4.000 EUR gelegen. Deutsche Luftfahrtunternehmen hätten im Jahr 2010 neun Bußgeldbescheide erhalten. Auf die weitere schriftliche Frage stellte die Bundesregierung fest, dass das Luftfahrtbundesamt im Jahre 2011 bei 1.787 Beschwerden von Fluggästen nunmehr in 219 Fällen ein Bußgeld verhängt habe, das bis zu 25.000 EUR betrug. Insgesamt wurden dadurch 2,3 Millionen Euro Einnahmen generiert. Das bedeutet, dass die durchschnittliche Höhe der Bußgelder auf ca. 10.600 EUR angestiegen ist (zitiert nach: Mehr und höhere Bussgelder gegen Airlines) Einen Überblick über das Verhalten der Durchsetzungsstellen in anderen Mitgliedstaaten gibt Hausmann (a.a.O., S. 316).

8    Die Entscheidung des Luftfahrt-Bundesamtes in einem Ordnungs- widrigkeitenverfahren hat auf das Zivilgerichtsverfahren wegen des- selben Sachverhaltes keinen unmittelbaren Einfluss. Das Gericht kann sich aber die fachliche Beurteilung der Durchsetzungs- und Beschwerdestelle zu Eigen machen.

9    Nach Abs. 2 kann jeder Fluggast bei einer gemäß Absatz 1 benannten Durchsetzungsstelle oder einer sonstigen von einem Mitgliedstaat benannten zuständigen Stelle Beschwerde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen diese Verordnung erheben, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde oder einen Flug von einem Drittstaat zu einem Flughafen in diesem Gebiet betrifft. Der EuGH  (17.3.2016, Rs. C-145/15, Rs. C-146/15) ist der Ansicht, dass unter diesem Begriff „Beschwerde“ eher Hinweise zu verstehen sind, die zur ordnungsgemäßen Anwendung der Verordnung im Allgemeinen beitragen sollen, ohne dass die Stelle verpflichtet wäre, aufgrund solcher Beschwerden tätig zu werden, um das Recht jedes einzelnen Fluggastes auf Erhalt einer Ausgleichsleistung zu gewährleisten (Urt. v. 17.3.2016, Rs. C-145/15, Rs. C-146/15).

Artikel 15 – Ausschluss der Rechtsbeschränkung

(1) Die Verpflichtungen gegenüber Fluggästen gemäß dieser Verordnung dürfen – insbesondere durch abweichende oder restriktive Bestimmungen im Beförderungsvertrag – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.

(2) Wird dennoch eine abweichende oder restriktive Bestimmung bei einem Fluggast angewandt oder wird der Fluggast nicht ordnungsgemäß über seine Rechte unterrichtet und hat er aus diesem Grund einer Ausgleichsleistung zugestimmt, die unter der in dieser Verordnung vorgesehenen Leistung liegt, so ist der Fluggast weiterhin berechtigt, die erforderlichen Schritte bei den zuständigen Gerichten oder Stellen zu unternehmen, um eine zusätzliche Ausgleichsleistung zu erhalten. 

1    Die Verordnung stellt in Art. 15 VO sicher, dass die Verpflichtungen aus der Verordnung gegenüber Fluggästen durch Regelungen im (Luftbeförderungs-)Vertrag nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden dürfen. Auch dies steht im Einklang mit Erwägungsgrund 1 VO, wonach die Verordnung darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

2    Für den grundsätzlichen Ausschluss einer Rechtsbeschränkung ist es gleichgültig, ob sich diese aus einem ausformulierten Vertrag ergibt oder etwa aus Allgemeinen Beförderungsbedingungen, die zum Gegenstand des Vertrages mit dem Fluggast gemacht werden. Entsprechend fallen Änderungsvorbehalte in der Reisebestätigung oder im Preisteil des Kataloges eines Reiseveranstalters, welche auch die Rechte des Reisenden aus der Verordnung einschränken, unter das Verbot der Rechtsbeschränkung gemäß Art. 15 Abs. 1 VO.

3    Auch eine Haftungsbegrenzung in den Allgemeinen Beförderungsbedingungen des Luftfahrtunternehmens ist unwirksam, da sie dem Fluggast die Mindestrechte der Verordnung nehmen will (Art. 15 VO, § 134 BGB). Denn die Mindestrechte der Verordnung sind zwingendes Recht und haben als Unionsrecht Anwendungsvorrang. Wird eine Bestimmung der Verordnung nicht angewendet oder der Fluggast nicht ordnungsgemäß über seine Rechte unterrichtet (Art. 14 VO), und hat er aus diesem Grund einer Ausgleichsleistung zugestimmt, die unter dem Standard der Verordnung liegt, bleibt dem Fluggast nach Art. 15 Abs. 2 VO ein Anspruch auf eine zusätzliche Ausgleichszahlung (so auch: Führich, Reiserecht [6. Aufl.], Rn 1058).

4    Flugzeiten, die in der Reisebestätigung angegeben werden, werden zum Vertragsbestandteil. Änderungsvorbehalte in der Reisebestätigung oder im Preisteil des Kataloges hinsichtlich der Flugzeiten sind auch unter Berücksichtigung der Interessen des Reiseveranstalters für den Reisenden nicht zumutbar, weil sie dem Reiseveranstalter die Mög- lichkeit geben, die Flüge beliebig zu verlegen. Sie schränken zudem die Rechte des Reisenden aus der Verordnung ein und fallen damit unter das Verbot von Art. 15 Abs. 1 VO (BGH, Urt. v. 10.12.2013 – X ZR 24/13); zuvor schon: AG Köln, Urt. v. 23.11.2010 − 134 C 140/10, RRa 2011, 96 f.; OLG Celle, Urt. v. 07.02.2013 – 11 U 82/12).

5    Da die Verordnung keine Regelung zur Frage der Verjährung der dort normierten Ansprüche auf Ausgleichszahlung trifft, beträgt die Verjährungsfrist 3 Jahre (§§ 195, 199 BGB), gerechnet ab dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entsteht (BGH, Urt. v. 10.12.2009 − Xa ZR 61/09, RRa 2010, 90 f. = NJW 2010, 1526 = ZLW 2010, 421; a.A. noch in der Vorinstanz: LG Darmstadt, Urt. v. 24.04.2009 – 7 S 260/08, mit krit. Anm. Staudinger, RRa 2009, 193 ff.). Diese Rechtsauffassung hat der EuGH aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Audiencia Provincial de Barcelona (Spanien) am 22.11.2012 bestätigt und dahingehend entschieden, dass − im Hinblick auf die Frist für die Geltendmachung von Ansprüchen – nicht Art. 35 MÜ (zweijährige Ausschlussfrist) herangezogen werden kann, sondern das jeweils ergänzend anwendbare nationale Recht gilt (Rs. C-139/11 – Moré ./. KLM, RRa 2013, 17 = NJW 2013, 365 = EuZW 2013, 156 = ZLW 2013, 503). Entgegenstehende Klauseln in Allgemeinen Beförderungsbedingungen von Fluggesellschaften, die Einschränkungen vorsehen, wonach „gerichtliche Klagen innerhalb von 2 Jahren, beginnend mit dem Tag der Ankunft des Flugzeugs oder an dem Tag, an dem das Flugzeug hätte ankommen sollen, erhoben werden müssen“, mit der Folge, dass das Klagerecht auf Schadensersatz erlöschen soll, sind unwirksam. Die Verordnung trifft keine Regelungen zur AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle im Bereich des Verjährungsrechts und steht der Anwendbarkeit des einschlägigen nationalen Rechts insoweit nicht entgegen, so dass nach Art. 15 VO Verjährungsregeln aus Allgemeinen Beförderungsbedingungen, die Ansprüche des Fluggastes aus der Verordnung einschränken würden, unwirksam sind (AG Bremen, Urt. v. 22.11.2012 − 9 C 0270/12, RRa 2013, 89, 91).

6    Zur Frage der Anwendbarkeit der kurzen Verjährungsfrist des § 651g BGB auf Beförderungen, die im Rahmen einer Flugpauschalreise durchgeführt werden, siehe Vorbemerkungen, Rn. 36 ff.

Artikel 14 – Verpflichtung zur Information der Fluggäste über ihre Rechte

(1) Das ausführende Luftfahrtunternehmen stellt sicher, dass bei der Abfertigung ein klar lesbarer Hinweis mit folgendem Wortlaut für die Fluggäste deutlich sichtbar angebracht wird: „Wenn Ihnen die Beförderung verweigert wird oder wenn Ihr Flug annulliert wird oder um mindestens zwei Stunden verspätet ist, verlangen Sie am Abfertigungsschalter oder am Flugsteig schriftliche Auskunft über ihre Rechte, insbesondere über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen.“

(2) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das Fluggästen die Beförderung verweigert oder einen Flug annulliert, händigt jedem betroffenen Fluggast einen schriftlichen Hinweis aus, in dem die Regeln für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen gemäß dieser Verordnung dargelegt werden. Ferner wird allen von einer Verspätung um mindestens zwei Stunden betroffenen Fluggästen ein entsprechender Hinweis ausgehändigt. Die für die Kontaktaufnahme notwendigen Angaben zu der benannten einzelstaatlichen Stelle nach Artikel 16 werden dem Fluggast ebenfalls in schriftlicher Form ausgehändigt.

(3) Bei blinden oder sehbehinderten Personen sind die Bestimmungen dieses Artikels durch den Einsatz geeigneter alternativer Mittel anzuwenden. 

I. Allgemeines

1           Ein Fluggast hat das Recht, zu erfahren, welche Rechte er hat, wenn er auf dem gebuchten Flug nicht befördert wird oder sein Flug annulliert oder mit großer Verspätung durchgeführt wird. Darüber hinaus hat ein Fluggast das Recht zu erfahren, wer den gebuchten Flug durchführen soll und wird. In der Fluggastrechte-Verordnung ist bedauerlicherweise nur die Informationspflicht des ausführenden Luftfahrtunternehmens über die Rechtsansprüche des Fluggastes infolge von Nichtbeförderung, Annullierung oder großer Verspätung normiert. Die Pflicht zur Aufklärung über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens ist in einem anderen Regelwerk niedergelegt.

2           Leider wurde auch nicht bestimmt, dass dem Fluggast der Grund für die Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung mitgeteilt werden muss. Dies wäre für die Praxis wichtig, damit ein Fluggast bzw. der Prozessvertreter vor Einreichung der Klage beurteilen kann, ob ein Entlastunggrund (ein vertretbarer Grund nach Art. 2 lit. j VO oder ein außergewöhnlicher Umstand nach Art. 5 Abs. 3 VO) vorliegt oder nicht. So könnte ein erheblicher Teil von Prozessen vermeiden werden.

3           Damit ein Fluggast sich nicht aus Unwissenheit mit einer niedrigeren als der ihm gebührenden Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO abfindet, enthält die Verordnung in Art. 14 VO umfangreiche Informations- und Hinweispflichten. So ist im Abfertigungsbereich (unabhängig von einem konkreten Vorfall) ein Hinweis mit dem wörtlich vorgeschriebenen Text des Art. 14 VO anzubringen. Deutlich sichtbar muss demnach zu lesen sein: „Wenn Ihnen die Beförderung verweigert wird oder wenn Ihr Flug annulliert wird oder mindestens zwei Stunden verspätet ist, verlangen Sie am Abfertigungsschalter oder am Flugsteig schriftliche Auskunft über Ihre Rechte, insbesondere über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen.“

 4     Dem Fluggast müssen auch die notwendigen Angaben zu der benannten einzelstaatlichen Stelle nach Artikel 16 VO (Durchsetzungsstelle) gegeben werden, damit er sich ggf. dort beschweren kann. Auch diese Informationen müssen ebenfalls in schriftlicher Form gegeben werden.

5          In den meisten Flughäfen werden die Fluggäste über Plakate auf ihre Rechte hingewiesen. Das ist nicht vorgeschrieben. Die Verordnung verlangt aber (darüber hinaus auch), dass der Hinweis „bei der Abfertigung“, d.h. nicht vorher (z.B. am Eingangsbereich des Flughafengebäudes) und nicht danach, sondern während der Abfertigung erfolgt. Daraus ist abzuleiten, dass der Hinweis (durch ein Hinweisschild, ein Plakat) am Abfertigungsschalter erfolgt. Soweit das Luftfahrtunternehmen seiner Informationspflicht durch Broschüren nachkommen will, müssen diese am Check-in-Schalter offen ausliegen und nicht nur für den Fall der Nachfrage verfügbar sein.

6          Bei Eintritt des konkreten Vorkommnisses (Nichtbeförderung, Annullierung oder große Verspätung) müssen dem Betroffenen also schriftliche Hinweise über seine Rechte ausgehändigt werden. Diese sollen in verständlicher Sprache verfasst sein und auch auf weitergehende mitgliedstaatliche Schadensersatzansprüche verweisen, damit der Zweck der Verordnung, nämlich die umfassende Information des Reisenden, erreicht wird.

II. Pflicht zur Information bei frühzeitiger Annullierung

 7         Annulliert ein Luftfahrtunternehmen einen Flug zwar mehr als 14 Tage vor dem geplanten Abflugtermin, teilt der Reisevermittler diese Mitteilung aber erst 13 Tage vor Abflug mit, hat der Reisende einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen. Das Luftfahrtunternehmen kann sich auf etwaige Fehler des Reisevermittlers im Verhältnis zum Kläger nicht berufen (AG Frankfurt a. M., Urt. v. 04.09.2009, RRa 2009, 292, LG Frankfurt, Urt. v. 01.09.2011 – 2-24 S 92/11, RRa 2012, 92; a.A. AG Rüsselsheim, AG Rüsselsheim, Urt. v. 18.05.2016 – 3 C 3043/15-31). Das LG Frankfurt (a.a.O.) hat zutreffend entschieden, dass der Reiseveranstalter kein Empfangsvertreter bzw. Wissensvertreter des Fluggastes ist.

III. Information bei Nichtbeförderung wegen Überbuchung

8         Verzichtet ein Fluggast, dessen Flug überbucht ist, auf die gebuchte Beförderung, muss das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn im Rahmen der Verhandlungen über eine Gegenleistung auch darauf hinweisen, dass ein „Freiwilliger“ i.S.d. Art. 4 VO nach Abschluss der Vereinbarung mit der Geltendmachung von einer weiteren Schadensersatzleistung ausgeschlossen ist (Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss [2. Aufl. 2010], Kap. 15, Rn. 132).

IV. Informationen über das ausführende Luftfahrtunternehmen

9       Die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 enthält keine Informationen über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens. Diese sind aber in der Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 vom 14.12.2005 (ABl. EG 2005 L 344, 15) in Art. 11 niedergelegt. Art. 11 gilt für die Beförderung von Fluggästen auf dem Luftwege, wenn der Flug Teil eines Beförderungsvertrags ist und diese Beförderung in der Union begonnen hat, und

  1. a) der Flug von einem Flughafen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ausgeht, für das der Vertrag gilt, oder
  2. b) der Flug von einem Flughafen in einem Drittstaat ausgeht und auf einem Flughafen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, für das der Vertrag gilt, ankommt, oder
  3. c) der Flug von einem Flughafen in einem Drittstaat ausgeht und auf einem solchen Flughafen ankommt.

10         Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/ 2005 gilt unabhängig davon, ob es sich um einen Linienflug handelt oder nicht, sowie unabhängig davon, ob der Flug Teil einer Pauschalreise ist oder nicht. Die Rechte der Fluggäste nach der Richtlinie 90/314/EWG (sog. Pauschalreise-Richtlinie) und der Verordnung (EWG) Nr. 2299/89 bleiben unberührt.

11         Nach Art. 11 Abs. 1 (EG) Nr. 2111/ 2005 hat der Vertragspartner (vertragliches Luftfahrtunternehmen oder Reiseveranstalter) für die Beförderung im Luftverkehr die Fluggäste bei der Buchung über die Identität der/des ausführenden Luftfahrtunternehmen(s) zu unterrichten und zwar unabhängig vom genutzten Buchungsweg.

12         Ist die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens bei der Buchung noch nicht bekannt, hat der Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr sicherzustellen, dass der Fluggast über den Namen der bzw. des Luftfahrtunternehmen(s) unterrichtet wird, die bzw. das wahrscheinlich als ausführende(s) Luftfahrtunternehmen der betreffenden Flüge tätig werden bzw. wird (Art. 11 Abs. 2 VO (EG) Nr. 2111/ 2005), sobald diese Identität feststeht.

13         Wird/werden das bzw. die ausführenden Luftfahrtunternehmen nach der Buchung gewechselt, so leitet der Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr unabhängig vom Grund des Wechsels unverzüglich alle angemessenen Schritte ein um sicherzustellen, dass der Fluggast so rasch wie möglich über den Wechsel unterrichtet wird (Art. 11 Abs. 3 VO (EG) Nr. 2111/ 2005). In jedem Fall werden die Fluggäste bei der Abfertigung oder, wenn keine Abfertigung bei einem Anschlussflug erforderlich ist, beim Einstieg unterrichtet.

14         Das Luftfahrtunternehmen oder gegebenenfalls der Reiseveranstalter sorgen dafür, dass der betreffende Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr über die Identität der oder des Luftfahrtunternehmen(s) unterrichtet wird, sobald diese Identität feststeht, insbesondere im Falle eines Wechsels des Luftfahrtunternehmens (Art. 11 Abs. 4 VO (EG) Nr. 2111/ 2005).

 15      Wurde ein Verkäufer von Flugscheinen nicht über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens unterrichtet, so ist er für die Nichteinhaltung des Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/ 2005 nicht verantwortlich (Art. 11 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2111/ 2005).

16       Die Verpflichtung des Vertragspartners für die Beförderung im Luftverkehr zur Unterrichtung des Fluggasts über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens ist in den für den Beförderungsvertrag geltenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufzuführen (Art. 11 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2111/ 2005).

 17       Die Mitgliedstaaten müssen nach Art. 13 VO (EG) Nr. 2111/ 2005 zur Einhaltung dieser Pflichten erforderlichen Maßnahmen treffen und für Verstöße gegen diese Regeln Sanktionen festlegen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.

18         Klärt ein Luftfahrtunternehmen den Fluggast nicht über seine Rechte bei einer Flugverspätung auf, so muss es die Kosten für die zur Informationsbeschaffung notwendige Einschaltung eines Rechtsanwalts ersetzen (AG Hannover 31.07.2012 – 517 C 13641/11, NJW-RR 2013, 381; AG Düsseldorf 11.06.2013 – 43 C 15606/12, Rn 15, juris; AG Frankfurt 08.11.2013 – 32 C 2687/13-41; LG Frankfurt 05.12.2014 – 2-24 S 49/14, RRa 2015, 24; aA AG Charlottenburg 17.01.2014 – 234 C 237/13); AG Bremen 12.06.2014 – 9 C 72/14, NJW-RR 2014, 1142). Das hat der BGH mit Urteil vom 25.02.2016 – X ZR 35/15, RRa 2016, 183 bestätigt für den Fall, dass die erteilten Hinweise lückenhaft, unverständlich oder sonst so unklar sind, dass der Fluggast nicht sicher erkennen kann, was er tun muss.

Artikel 13 – Regressansprüche

In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen. 

1    Art. 13 VO schafft ein Gegengewicht dafür, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen nach Art. 7 VO auf Ausgleichszahlungen bzw. nach Art. 8 VO auf Erstattung von Ticketkosten und anderweitige Beförderung bzw. nach Art. 9 VO auf Betreuungsleistungen für Störungen bei der Flugabwicklung in Anspruch genommen werden kann, obwohl diese möglicherweise vom ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht verschuldet sind. Diese Haftungsfolgen gelten nach Art. 4 VO für die Nichtbeförderung, nach Art. 5 VO für die Annullierung und nach Art. 6 VO für die Verspätung, insbesondere für die große (Ankunfts-)Verspätung von mehr als 3 Stunden.

2    Die Regressansprüche des ausführenden Luftfahrtunternehmens für Leistungen nach der Verordnung sind ausdrücklich nicht beschränkt. Dies gilt insbesondere für den Regress gegenüber einem Reiseveranstalter, mit dem ein Chartervertrag geschlossen worden ist, oder mit einem sonstigen Vertragspartner (z.B. einem Flughafenbetreiber und dessen Abfertigungsbetrieb) oder beauftragten Dritten, wenn nicht genügend Enteisungsmittel vorgehalten wird. Sind diese Vertragspartner die Schadensverursacher, ist der Weg für den Regress nach Art. 13 VO frei (allgemein dazu: BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.)

3    Dabei begründet Art. 13 VO keinen eigenen Regressanspruch, sondern setzt diesen vielmehr voraus. Ein solcher Regressanspruch kann sich entweder aus dem zugrunde liegenden Vertrag (z.B. dem „Chartervertrag“) ergeben oder nach den Grundsätzen einer Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677, 683 BGB). So etwa, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast bei einer Flugpauschalreise einen Teil des Flugpreises erstattet, obwohl dies eigentlich eine Verpflichtung des Reiseveranstalters gewesen wäre. Das ausführende Luftfahrtunternehmen handelt insoweit ohne Auftrag, aber im Geschäftsinteresse des Reiseveranstalters, der den Pauschalreisevertrag mit dem Reisenden abgeschlossen hat.

4    Den Beschwerden der Luftfahrtbranche gegen die Belastungen aus der Fluggastrechte-Verordnung hält der EuGH regelmäßig entgegen, dass die Verpflichtungen gemäß der Verordnung unbeschadet des Rechts der Luftfahrtunternehmen zu erfüllen sind, bei anderen Schadensverursachern, auch Dritten, Regress zu nehmen, wie es Art. 13 VO vorsieht (allgemein dazu: BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.). Ein solcher Regress kann daher die Belastung dieser Beförderungsunternehmen aus den Verpflichtungen der Verordnung mildern oder sogar beseitigen. Wegen des Regressanspruchs können die Luftfahrtunternehmen damit belastet werden, den betroffenen Fluggästen einen Anspruch auf einen weder annullierten noch verspäteten Flug zu verschaffen (EuGH, Urt. v. 19.11.2009, verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck u.a. ./. Air France, Rn. 68, Slg I-2009 I-10923 = RRa 2009, 282 f., 289; so schon EuGH, Urt. v. 10.01.2006 – IATA und ELFAA ./. Department of Transport, Rs. C-344/04, Rn. 90, Slg. 2006, I-403 = RRa 2006,127).

5    Für den umgekehrten Fall der Regressnahme des Reiseveranstalters gegenüber der Fluggesellschaft folgt dessen Regressanspruch aus einem sogenannten Gruppenbeförderungsvertrag zwischen Reiseveranstalter und Fluggesellschaft. Soweit der Reiseveranstalter von den Reiseteilnehmern bei einer von ihm veranstalteten Flugpauschalreise wegen Flugannullierung oder sehr großer Verspätung bzw. Nichtbeförderung auf Gewährleistung aus Pauschalreisevertrag in Anspruch genommen wird, ergibt sich der Regressanspruch aus Gruppenbeförderungsvertrag i.V.m. §§ 631 ff, 278, 280 Abs. 2, 286 Abs. 1 BGB. Der Reiseveranstalter ist ansonsten zwar kein Anspruchsgegner für die Ansprüche aus der Verordnung, kann sich diese jedoch von dem einzelnen Fluggast im Sinne einer einheitlichen Regulierung des Schadensfalles abtreten lassen. Dann ergibt sich der Anspruch des Reiseveranstalters gegen den ausführenden Luftfahrtunternehmer z.B. wegen Ausgleichszahlungen aus Art. 7 Abs. 1 VO i.V.m. § 398 BGB aus abgetretenem Recht.

6    Dem steht das Montrealer Übereinkommen nicht entgegen, denn im Verhältnis zwischen Reiseveranstalter und Fluggesellschaft findet das Montrealer Übereinkommen keine Anwendung (so: OLG Frankfurt, Urt. v. 23.08.2007 − 3 U 207/06, RRa 2008, 38 f.; Urt. v. 15.11.2011 – 16 U 39/11, RRa 2012, 119 f.; LG Frankfurt, Urt. v. 21.07.2006 – 2-19 U 349/05, RRa 2008, 34 f.).

Artikel 12 – Weiter gehender Schadensersatz

(1) Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.

(2) Unbeschadet der einschlägigen Grundsätze und Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, einschließlich der Rechtsprechung, gilt Absatz 1 nicht für Fluggäste, die nach Artikel 4 Absatz 1 freiwillig auf eine Buchung verzichtet haben.

I. Allgemeines

1   Art. 12 VO regelt, dass diese Verordnung trotz eines weiter gehenden Schadens des Fluggastes gilt (Abs. 1 Satz 1) und bestimmt, dass eine „gewährte Ausgleichsleistung auf einen Schadensersatzanspruch“ angerechnet werden kann (Abs. 1 Satz 2). In der Praxis spielt diese Vorschrift u. a. bei Flugpauschalreisen eine Rolle, weil der Fluggast bei Ankunftsverspätungen nicht nur Ansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung gegenüber dem Luftfahrtunternehmen, sondern auch reisevertragliche Ansprüche (Minderung des Reisepreises) gegenüber dem Reiseveranstalter geltend machen kann. Aber auch in den Fällen, in denen der Fluggast wegen der verspäteten Ankunft am Flughafen Mehrkosten zur Beförderung zum Wohnsitz aufbringen muss, ist die Verrechnungsvorschrift zu beachten.

2   Die Verordnung regelt erkennbar nur das Rechtsverhältnis zwischen dem Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und insbesondere die Ansprüche eines Fluggasts gegen ein Luftfahrtunternehmen im Falle der Nichtbeförderung, Annullierung oder großen Verspätung.  Art. 3 Abs. 6 Satz 1 VO bestimmt ausdrücklich, dass diese Verordnung „die aufgrund der Richtlinie 90/314/EWG bestehenden (Fluggast-)Rechte unberührt“ lässt. Daraus lässt sich ableiten, dass Ansprüche, die ein Fluggast gegen einen Dritten (aus einem anderen Rechtsgrund) hat, unberücksichtigt bleiben müssen. Aus diesem Grund können z.B. Rückzahlungsansprüche eines Flugreisenden gegen einen Reiseveranstalter nach kraft Gesetzes eingetretener Minderung des Reisepreises wegen der erheblichen Verspätung eines Fluges nicht nach Art. 12 VO auf die Ansprüche auf Ausgleichszahlung angerechnet werden(umstr., siehe hierzu vertiefend unter IV.)

II. Die Anrechnung der gewährten Ausgleichsleistung auf einen Schadenersatz(Art. 12 Abs. 1 S.2)

1. Allgemeines

3   Das Montrealer Übereinkommen, die Fluggastrechte-Verordnung und die Regelungen des nationalen Rechts stehen als selbständige Regelwerke nebeneinander und ergänzen sich. Der EuGH hat entschieden, dass sich die in der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 getroffenen Regelungen als solche nicht ausschließen, dass Fluggäste, denen ein Schaden entsteht, der einen Ausgleichsanspruch auslöst, auch unter den im Montrealer Übereinkommen vorgesehenen Voraussetzungen (Art. 19, 22 und 29 MÜ) Klage auf Ersatz dieses Schadens erheben können (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA, Rn. 47, Slg. 2006, I-403, RRa 2006, 127 = NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112 = ZLW 2006, 582). So sei es nationalen Gerichten möglich, ein Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des den Fluggästen wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schadens auch auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Verordnung Nr. 261/2004 zu verurteilen, d. h. insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodríguez ./. Air France, Rn. 37, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916). Aus Art. 12 VO geht hervor, dass die den Fluggästen gewährte Ausgleichsleistung die Durchführung der in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen ergänzen soll, so dass den Fluggästen der gesamte Schaden, der ihnen durch die Verletzung der vertraglichen Pflichten des Luftfahrtunternehmens entstanden ist, zu ersetzen ist.

4   Der BGH hat in seinem Urteil vom 25.03.2010 (Xa ZR 96/09, RRa 2010, 221 = ZLW 2011, 133) die zutreffende Auffassung vertreten, dass sich aus Art. 12 VO selbst kein Schadensersatzanspruch ergibt; die Grundlage für einen nach dieser Vorschrift vorausgesetzten Anspruch müsse daher im nationalen Recht verankert sein. Bei Anwendung deutschen Rechts schulde ein Luftfahrtunternehmen dem Passagier Schadensersatz gemäß §§ 631 ff, 280 ff Abs. 1 BGB, wenn es schuldhaft gegen Verpflichtungen (z.B. aus dem Luftbeförderungsvertrag) verstoße.

Der Anspruch auf einen weiter gehenden Verspätungsschaden setzt aber stets voraus, dass ein konkreter Verspätungsschaden dargelegt und bewiesen wird (LG Darmstadt, Urt. v. 07.11.2007 – 7 S 89/07).

2. Der „weiter gehende Schadensersatz (Abs.1 S.1)

6    Der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ in Art. 12 Abs. 1 S. 1 VO ist nach Meinung des EuGH dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht ermöglicht, unter den Voraussetzungen des Montrealer Übereinkommens oder des nationalen Rechts Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schaden, einschließlich des immateriellen Schadens, zu gewähren. Dagegen könne der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ dem nationalen Gericht nicht als Rechtsgrundlage dafür dienen, ein Luftfahrtunternehmen zu verurteilen, den Fluggästen, deren Flug verspätet war oder annulliert wurde, die Kosten zu erstatten, die ihnen durch die Verletzung der diesem Unternehmen nach den Art. 8 und 9 VO obliegenden Unterstützungs- und Betreuungspflichten entstanden sind.

Daher drängt sich die Frage auf, ob eine geleistete Ausgleichszahlung auf einen reisevertraglicher Anspruch nach kraft Gesetzes eingetretener Minderung des Reisepreises (§ 651d BGB) der sich gegen einen Dritten richtet, auf diesen angerechnet werden kann. Schließlich soll mit der Minderung das Äquivalenzverhältnis des jeweiligen Vertrages wiederhergestellt werden und im Gegensatz hierzu dient der Schadensersatz der Befriedigung des Integritätsinteresses.

8     Stimmen in Literatur und Rechtsprechung verweisen zur Begründung der Gleichstellung von Minderungs- und Schadenersatzansprüchen im Rahmen der Anrechnung darauf, dass der Begriff des Schadensersatzes aus dem Sekundärrechtsakt autonom in einem umfassenden Sinne ausgelegt werden muss (siehe dazu Bollweg, RRa 2009, 10, 13; Leffers, RRa 2008, 258, 259 f.; Tonner VuR 2009, 212; Weise/Schubert, TranspR 2006, 340 (343); LG Frankfurt a.M. 29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222; AG Rostock 14.1.2013, RRa 2013, 92; zum Konkurrenzverhältnis von Schadensersatz- und Ausgleichsansprüchen siehe auch Staudinger BGB/Staudinger, § 651d Rn.8; § 651f, Rn. 7 f.).

9       Zu berücksichtigen ist aber, dass die Verordnung grundsätzlich nur das Rechtsverhältnis zwischen einem Fluggast und einem ausführenden Luftfahrtunternehmen regelt; andere Rechtsverhältnisse will es nicht regeln, auch wenn in Art. 2 VO die Begriffe „Reiseunternehmen“ (lit. d) und „Pauschalreise“ (lit. e) erläutert werden. Wäre dem nicht so,  wäre es für den europäischen Gesetzgeber ein Leichtes gewesen, in Art. 12 VO neben den weiter gehenden Schadensersatzansprüchen auch „Ansprüche gegen einen Reiseveranstalter“ aufzunehmen. Da dies nicht geschehen ist, muss im Rahmen der gebotenen engen Auslegung davon ausgegangen werden, dass mit „weiter gehenden Schadensersatzansprüchen“ nur solche Ansprüche gemeint sein sollen, die sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen Fluggast und Luftfahrtunternehmen ergeben (aA LG Frankfurt a.M. 29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222). Ansprüche des Fluggastes gegen einen Reiseveranstalter auf Minderung haben daher unberücksichtigt zu bleiben (aA LG Frankfurt a.M. aaO; siehe dazu auch →Art. 2 Rn. 38 ff.).

10    Ob mit dem Begriff „Schadensersatzansprüche“ in Art. 12 Abs. 1 VO nur materielle oder auch immaterielle Schadensersatzansprüche gemeint sind, ist unklar. Bollweg (RRa 2009, 10,11) sieht beide Ansprüche als erfasst an, da die Vorschrift keine Unterscheidung trifft und auch Art. 7 Abs. 1 VO nicht differenziert (siehe auch Leffers, RRa 2008, 258, 259). Der EuGH hat aber ausgeführt, dass die pauschale Ausgleichszahlung dem Ausgleich eines von den Fluggästen erlittenen Zeitverlusts dient (EuGH, Urt. v. 23.10.2012, verb. Rs C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und Rs. C-629/10 – TUI Travel u.a. ./. CAA, Rn. 74, RRa 2012, 272). Sähe man die Ausgleichszahlung als Ausgleich nur immaterieller Schäden an, schiede bei Beurteilung nach deutschem Recht eine Anrechnung aus, wenn der Fluggast auch einen materiellen Schaden (z.B. die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten, die wegen Annullierung eines gebuchten Fluges angefallen sind) geltend macht. Der BGH hat diese Frage wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung mit Beschl. v. 30.07.2013 (X ZR 111/12 und X ZR 113/12, RRa 2013, 233 = TranspR 2013, 447 = BeckRS 2013, 14698) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dabei hat er deutlich gemacht, dass für den Fall, dass über die Anrechnung nach nationalem Recht zu entscheiden sein sollte, es schließlich darauf ankomme, welche Beeinträchtigung die Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO kompensieren soll. Denn nach deutschem Recht könnten Ersatzleistungen für den materiellen Schaden nicht auf immaterielle Nachteile angerechnet werden und umgekehrt. Daher schiede eine Anrechnung aus, wenn die Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO nur dem Ausgleich immaterieller Schäden diente, da im Anlassstreit die Kläger Schadenersatzansprüche (Erstattung der Kosten für einen Ersatzflug, den Weitertransport zum Fährhafen, Übernachtungskosten und Verpflegung) geltend gemacht haben. (Ausführlich zu den Überlegungen im Einzelnen: Schuster RRa 2014, 2 [5 f.]). Da die Ausgleichszahlung aber (nur, zumindest aber überwiegend) eine Kompensation für durch die Flugzeitverlängerung erlittenen Unannehmlichkeiten sein soll (so EuGH 23.10.2012 verb Rs C-581/10 – Nelson und C-629/10 – TUI; ausführlich dazu Vorb →Rn 18), kommt eine Anrechnung nicht in Betracht.

11    Unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 06.05.2010 (Rs. C-63/09 – Walz ./. Clickair, Slg. 2010, I-4239 = RRa 2010, 180 = NJW 2010, 2113 = EuZW 264, Rn. 29), in dem er entschieden hat, dass die Begriffe „préjudice“ und „dommage“ in Kapitel III des französischen Textes des Montrealer Übereinkommens sowohl materielle als auch immaterielle Schäden umfassen, hat der EuGH in der Rodriguez-Entscheidung aber bereits klargestellt, dass der nach Art. 12 VO ersatzfähige Schaden nicht nur ein materieller, sondern auch ein immaterieller Schaden sein kann (Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, Rn. 41, RRa 2011, 282).

12    Entgegen der bislang ständig vertretenen Ansicht des LG Darmstadt (z.B. 2.3.2011 – 7 S 95/10, RRa 2011, 134 (137) = BeckRS 2011, 17043) sind  sind Forderungen auf Aufwendungsersatz wegen unterbliebener Unterstützungs- und Betreuungsleistungen (Art. 8 und Art. 9 VO) nicht „weiter gehender Schadensersatz“ im Sinne der Art 12 Abs. 1 Satz 1 VO. Die Ansprüche auf Ausgleichszahlung und solche auf Betreuungs- und Unterstützungsleistungen bestehen nebeneinander und sind daher unabhängig voneinander zu erfüllen. Das hat nunmehr der EuGH in der Rechtssache Sousa Rodríguez ./. Air France (Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776) zutreffend klargestellt (zuvor schon AG Frankfurt, Urt. v. 09.05.2006 – 31 C 2820705-74, RRa 2006, 181; AG Frankfurt, Urt. v. 10.05.2010 – 31 C 2339/10-74, RRa 2011, 193; AG Rüsselsheim, Urt. v. 21.09.2011 – 3 C 12/11 – 36; Wahl, RRa 2013, 262 ff.; a.A.: AG Köln, Urt. v. 18.08.2006 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44). Diese Ansicht ist auch rechtspolitisch die einzig vernünftige, weil andernfalls dasjenige Luftfahrtunternehmen begünstigt würde, das sich weigert, Unterstützungs- und Betreuungsleistungen zu gewähren. (Vgl. dazu auch die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 28.06.2011 in der Rs. C-83/10 – Sousa Rodríguez ./. Air France, Rn. 57 ff., RRa 2011, 185, (187 f.)).

13    Das AG Dortmund (04.03.2008 − 431 C 11621/07, RRa 2008, 188) urteilte zutreffend, dass ein Aufwendungsersatzanspruch wegen der Nichtgewährung einer Hotelübernachtung aus Art. 9 VO nicht auf eine Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO angerechnet werden darf. Gleiches gilt für den Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die Verpflegung, wenn das Luftfahrtunternhmen diese verweigert hat (AG Frankfurt a.M. 10.5.2010 – 31 C 2339/10-74, RRa 2011, 193).

14   Dagegen kann ein vorgerichtlich übergebener, aber nicht eingelöster Scheck nach Ansicht des AG Rüsselsheim (16.9.2010 – 3 C 732/10-32, RRa 2011, 53 = LSK 2011, 410236) auf eine zu zahlende Ausgleichsleistung angerechnet werden.

15    Verzugsschäden, die sich dadurch ergeben, dass ein Luftfahrtunternehmen seiner Verpflichtung zur Zahlung der Ausgleichsleistung nicht nachkommt, stellen keinen „weiter gehenden Schadensersatz“ dar, weil sie nicht aufgrund der Annullierung, Verspätung oder Nichtbeförderung entstanden sind (LG Frankfurt, Beschl. v. 15.03.2011 – 2-24 S 1/11, RRa 2011, 134; AG Frankfurt, Urt. v. 17.01.20114 – 30 C 2462/13-68). Wenn also ein Luftfahrtunternehmen die berechtigten Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung dem Fluggast gegenüber abgelehnt hat, kann dieser einen Rechtsanwalt nochmals mit der außergerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche beauftragen und die Kosten der anwaltlichen Tätigkeit als Verzugsschäden ersetzt verlangen (AG Frankfurt, Urt. v. 10.05.2010 – 31 C 2339/10-74; AG Rüsselsheim 24.6.2010 − 3 C 320/10-32, RRa 2010, 232, BeckRS 2014, 17980; 10.8.2011 − 3 C 237/11-36, RRa 2011, 247; 5.7.2013 – 3 C 145/13-27; AG Frankfurt a.M. 6.12.12 – 31 C 2553/12-78, RRa 2013,138 = BeckRS 2013, 02560; AG Frankfurt a.M. 17.1.2014 – 30 C 2462/13-68, RRa 2014, 254).

16       Ein Anspruch auf Ersatz der infolge einer verspäteten Ankunft eines Fluges zusätzlich angefallenen Kosten für die Bahnfahrt vom Flughafen zum Wohnort des Reisenden kann nach Ansicht des LG Frankfurt (Urt. v. 05.12.2014 – 2-24 S 66/14, RRa 2015, 27) nach Art.12 Abs. 1 S.2 VO angerechnet werden.

17  Der als Minderung gewährte Rückerstattungsanspruch hinsichtlich verwendeter Bonusmeilen stellt nach einem Urteil des AG Köln vom 26.07.2011 – 126 C 96/09, RRa 2011, 56 keinen Anspruch dar, der nach Art. 12 Abs. 1 VO anzurechnen wäre.

III. Anrechnung von geleisteten Ausgleichszahlungen auf Forderungen gegen Dritte

18    Fraglich ist, wie nach geleisteter Ausgleichszahlung mit Forderungen gegen Dritte (z.B. Reiseveranstaltern) umzugehen ist. Das LG Frankfurt a.M. (29.11.2012 – 2-24 S 67/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 104222) hat entschieden, dass die vom Luftfahrtunternehmen gewährte Ausgleichszahlung auf einen danach gegenüber dem Reiseveranstalter geltend gemachten Anspruch auf Rückzahlung des (vollen oder anteiligen) Reisepreises nach eingetretener Minderung anzurechnen ist. Die Kammer vertritt die Auffassung, dass Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO auch für solche Ansprüche gilt, die gegenüber einem anderen Anspruchsgegner geltend gemacht werden und die auf einer Minderung beruhen. Der Bundesgerichtshof (30.9.2014 – X ZR 126/13, RRa 2015, 17 = NJW 2015, 553 = BeckRS 2014, 21087) vertritt die Ansicht, dass es sich bei einem Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises wegen Minderung aufgrund großer Verspätung um einen weitergehenden Schadensersatzanspruch nach Art. 12 Abs. 1 VO handelt und dass die nach der Fluggastrechte Verordnung allein wegen der großen Verspätung gewährte Ausgleichsleistung auf den Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises wegen Minderung nach § 651d BGB aufgrund derselben großen Verspätung anzurechnen ist. Der X. Zivilsenat hat hervorgehoben, dass die Anrechnung auch nicht im Hinblick darauf ausgeschlossen ist, dass Schuldner des Ausgleichsanspruchs nach der Fluggastrechte-Verordnung das ausführende Luftfahrtunternehmen und Schuldner des Anspruchs auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises nach § 651d BGB der Reiseveranstalter, also ein Dritter ist. Das Gericht hat unterstellt, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen bei Erfüllung der ihm aus der Fluggastrechte-Verordnung erwachsenden Verpflichtungen mit Wirkung für und gegen den Reiseveranstalter handelt. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung anklingen ließ, dass die Anrechnung einer bereits gewährten Ausgleichsleistung dann anzunehmen ist, wenn und soweit das Minderungsrecht allein auf dem Umstand der Flugverspätung gestützt wird. Da es sich bei dem verspäteten Flug um den Rückflug handelte, kann ausgeschlossen werden, dass ein Verlust von bezahlten Reiseleistungen nicht eingetreten ist. Hieraus ist im Umkehrschluss anzunehmen, dass bei einem erheblich verspäteten Hinflug und daraus resultierender Folge, dass bezahlte Leistungen im Zielgebiet nicht in Anspruch genommen werden können (z.B. eine Hotelübernachtung oder Kreuzfahrt), die Anrechnung nicht erfolgen kann, da die Minderung nicht nur auf den Umstand der Flugverspätung, sondern auf den Umstand des Eingriffs in das Äquivalenzverhältnis gestützt wird. Auf einen (weitergehenden) Anspruch auf Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit nach § 651f Abs. 2 BGB ist die gewährte Ausgleichszahlung aus diesem Grund anzurechnen.

18a       Fordert der Fluggast Ersatz für die durch die Ankunftsverspätung zusätzlich entstandenen Kosten für die Weiterbeförderung oder eine ungeplante Hotelübernachtung, ist auf diesen weitergehenden Schaden die Ausgleichszahlung nicht anzurechnen. Die u. a. von Bollweg (Fundstelle RRa) geäußerte Besorgnis der Überkompensation ist unbegründet, da nach der Ansicht des EuGH (Rs. 581/10 – Nelson ./. Lufthansa) unter Bezugnahme auf das Sturgeon-Urteil die Verordnung darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder von einer Annullierung oder großen Verspätung eines Fluges betroffen sind, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind. Es soll mit der Ausgleichszahlung nur der von den Fluggästen erlittene Zeitverlust kompensiert werden. Wenn durch die große Verspätung ein weiterer materieller Schaden eingetreten ist, kann die Ausgleichszahlung nicht hierauf angerechnet werden. Würde man das zulassen, wären die Fluggäste, die neben dem Zeitverlust eine Vermögenseinbuße erleiden, gegenüber den Fluggästen ohne materiellen Schaden benachteiligt.

1. Anrechnung von Zahlungen Dritter auf den Ausgleichsanspruch

19    Dem Wortlaut nach hat der europäische Gesetzgeber nur den Fall geregelt, bei dem zunächst eine Ausgleichsleistung gefordert und geleistet wurde und danach ein weitergehender Schadensersatz verlangt wird. In der Rechtsprechung und der Literatur wird dennoch die Frage diskutiert, ob umgekehrt auch ein geleisteter Schadensersatz auf eine danach geforderte Ausgleichsleistung angerechnet werden kann.

20   Nach einer Entscheidung des AG Rüsselsheim (10.08. 2011 − 3 C 237/11-36, RRa 2011, 244; aA AG Rüsselsheim 10.08.2010 − 3 C 1528/09-32, RRa 2010, 290) kann auch die Zahlung eines Dritten auf den geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlung angerechnet werden. Auch das AG Köln hat eine Anrechnung eines geleisteten Schadensersatzes auf einen Anspruch auf Ausgleichsleistung vorgenommen, ohne aber auf den entgegenstehenden Wortlaut der Verordnung einzugehen (18.08.2013 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44 = LSK 2007, 240214 = juris).

21   Demgegenüber rechnet das LG Darmstadt (1.12. 2010 − 7 S 66/10, RRa 2011, 89 = BeckRS 2011, 08685 = juris; 6.4.2011 − 7 S 122/10, RRa 2011, 290) nur gewährte Ausgleichsleistungen auf weiter gehende Schadensersatzansprüche an und schließt eine umgekehrte Anrechnung aus (ebenso: AG Frankfurt a.M. 4.12.2013 – 31 C 2243/13-17).

22    Der BGH hat im Urt. v. 18.02.2010 (Xa ZR 164/07, RRa 2010, 151) einen vom Berufungsgericht (unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Minderung des Flugpreises) anerkannten Teilbetrag als Teilerfüllung des Ausgleichsanspruchs aus Art. 7 VO berücksichtigt, dabei aber darauf hingewiesen, dass in der Verspätung des Fluges regelmäßig kein Mangel der Flugleistung gesehen werden könne, der einen zusätzlichen Minderungsanspruch begründen könnte (BGH, a.a.O, Rn. 19; so schon im Urt. v. 28.05.2009 – Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 = NJW 2009, 2743). Im Urteil vom 30.09.2014 (X ZR 126/13, Rn. 10, RRa 2015, 17) hat er dann aber entschieden, dass ein Anspruch auf teilweise Rückzahlung des Reisepreises wegen Minderung einen weitergehenden Schadenersatzanspruch darstellt, auf den eine Ausgleichsleistung nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO angerechnet werden kann (siehe dazu auch Schuster, RRa 2015, 2, (5 f)).

23     In einem weiteren Rechtsstreit hat das LG Frankfurt das Verfahren ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen am 31. Juli 2013 (ABl. EG Nr. C 325, S.13) an den EuGH gerichtet. In diesem Verfahren ging es um die Beantwortung der Frage, ob einem Fluggast eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO wegen großer Verspätung in voller Höhe auch dann zusteht, wenn zuvor ein nicht zu den Fluggästen zählender Dritter wegen der Verspätung dem Fluggast zum Ausgleich eine Zahlung geleistet hat. Für den Fall, dass die Anrechnung bejaht wird, hat das Landgericht die Frage gestellt, ob dies nur für Schadensersatzansprüche im Sinne der nationalen deutschen Rechtsordnung oder auch für Ansprüche auf Minderung gilt. Mit der Entscheidung in dieser Rechtssache C-431/13 – Vietnam Airlines ./. Voss hätten einige bislang noch ungeklärte Fragen einer Beantwortung zugeführt werden können. Leider ist das Verfahren zuvor beendet und am 05.06.2014 wieder aus dem Register beim EuGH gestrichen worden (ECLI:EU:C2014:2019).

24       Nachdem der BGH die Frage der Anrechnung zweimal zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte (Beschl. v. 30.07.2013 – X ZR 111/12, RRa 2013, 233; Beschl. v. 30.07.2013 – X ZR 113/12) hätte der EuGH zu dieser Rechtsfrage Stellung nehmen können, hätten sich nicht beide Verfahren zuvor erledigt Schuster, a.a.O., Fn. 21).

25     Auch das AG Hannover (13.08.2015 – 518 C 3469/15) hatte sich mit dieser Rechtsfrage zu befassen. Der Reiseveranstalter zahlte den Fluggästen aufgrund der Flugverspätung vorprozessual 450,- €. Die Fluggäste verlangten vom Luftfahrtunternehmen weiterhin die volle Ausgleichszahlung nach der Verordnung. Das Amtsgericht hat dem Luftfahrtunternehmen die Anrechnung des geleisteten Minderungsbetrages auf den im Prozess geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlung versagt. Es hat diese Entscheidung allein mit dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 S 2 VO begründet. Das LG Hannover erteilte in der Berufungsinstanz den Hinweis, dass auch Leistungen eines Reiseveranstalters auf einen Ausgleichsanspruch anzurechnen sind.

26    In der Literatur wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass nicht nur gewährte Ausgleichszahlungen auf weitergehende Schadensersatzansprüche, sondern auch Zahlungen Dritter auf den Anspruch auf Ausgleichszahlung anzurechnen sind (siehe Bollweg RRa 2009, 10 (11 f); Leffers RRa 2008, 258 (261); Staudinger/Schürmann NJW 2011, 2769, 2774; Hausmann S. 486 ff.; StaudBGB/Staudinger § 651f Rn.8; Wahl RRa 2013, 262 ff.; aA Wagner VuR 2006, 337, 339).

27     Bollweg (aaO) stellt darauf ab, dass es zu einer Überkompensation komme, wenn eine Anrechnung von Schadensersatzansprüchen auf Ausgleichsansprüche abgelehnt würde (so wohl auch BGH Beschl 30.07.2013 – X ZR 111/12, RRa 2013, 233 und X ZR 113/12; siehe dazu auch Schuster RRa2014, 2 [5]. Zudem dürfe die Anrechnung nicht von der Zufälligkeit abhängen, ob sich der Fluggast zunächst mit Ansprüchen aus der Verordnung an das ausführende Luftfahrtunternehmen wendet und danach weiter gehende Forderungen an den Reiseveranstalter bzw. bei einem Nur-Flug wiederum an das vertragliche Luftfahrtunternehmen stellt oder seine Rechte in umgekehrter Reihenfolge geltend macht. Die Verfahren wurden beim EuGH als verb Rechtssachen C-475/13 – 1 Rubin ./. easyJet und C-47613 – Wetzlaff ./. easyJet geführt, aber am 21.04.2014 nach Anerkenntnis der Forderungen durch das Luftfahrtunternehmen wieder aus dem Register gestrichen (ECLI:EU:C:2014:1386).

28   Hausmann  Kap 5 C II folgt Bollweg (aaO) und gibt der wechselseitigen Berücksichtigung der Leistungen den Vorzug (ihm folgend: StaudBGB/Staudinger § 651f Rn.8). Er geht davon aus, dass die ausdrückliche Normierung nur einer einzigen Konstellation in Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO darauf beruhe, dass die Verfasser der Verordnung diese als den Regelfall angesehen haben, weil der pauschalierte Ausgleichsbetrag schneller und einfacher zu erlangen sei als ein konkret nachzuweisender Schadensersatz auf anderer Rechtsgrundlage. Das ist aber reine Spekulation. Es ist nicht ausreichend, darauf hinzuweisen, es sei nicht erkennbar, dass der Unionsgesetzgeber die spiegelbildliche Anrechnungsmöglichkeit ausschließen wollte. Denn auch der gegenteilige Wille ist nicht auszuschließen.

29    Die Kommission hat schon 2003 in einer Stellungnahme zu einem Änderungsvorschlag des EU-Parlaments die Ansicht vertreten, dass Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO beibehalten werden müsse, um zu verhindern, dass ein Luftfahrtunternehmen einem doppelten Schadensersatz (Ausgleichsleistung und Schadensersatz aus anderem Rechtsgrund) auferlegt werde (siehe Stellungnahme vom 11.08.2003 zu den Abänderungen des Europäischen Parlaments betreffend den Vorschlag für die Verordnung [COD (2001)0305, dort unter 4.2, betreffend Abänderung 15). Auch wenn das nicht ausdrücklich gesagt wird, spricht das dafür, dass es auf die „Anrechnungsrichtung“ nicht ankommen soll.

30    Einer Anrechnung eines geleisteten Schadensersatzes auf einen Anspruch auf Ausgleichsleistung steht aber der Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO entgegen, der lediglich die erste Konstellation erfasst. Daher ist der engen, am Wortlaut orientierten Auslegung der Vorzug zu geben.

31         Auch wenn man Bollweg (a.a.O.) und Hausmann (a.a.O.)   folgt und von einer wechselseitigen Anrechnungsmöglichkeit ausgeht, darf bei einer Flugpauschalreise weder ein Luftfahrtunternehmen noch ein Reiseveranstalter einen Fluggast darauf verweisen, zunächst Ansprüche bei dem jeweils anderen Anspruchsgegner geltend zu machen, um dann nur noch den überschießenden Teil der eigenen Verpflichtung erfüllen zu müssen (so zutreffend: Hausmann S. 489; Tonner, VuR 2009, 209, 212; ders., in : Gebauer/Wiedmann, Rn. 131).

V. Die Berechtigung zur Anrechnung

32      Die Anrechnung ist nicht zwingend. Sie kann, muss aber nicht erfolgen.

33     Unklar ist,  an wen sich die Formulierung „kann“ richtet.

34         In der Literatur wird die Meinung vertreten, dass das Luftfahrtunternehmen Adressat dieser Vorschrift sei und deshalb die Anrechnung von diesem erklärt werden muss (Führich Reiserecht § 42 Rn. 37; ders. MDR 7/2007, Sonderbeilage S. 11); ein Gericht soll die Anrechnung nicht ohne Antrag des Luftfahrtunternehmens vornehmen können (Hausmann S. 489; Wahl RRa 203, 262 [268], offen lassend: StaudBGB/Staudinger, § 651f Rn. 9). Auch das AG Köln (18.5.2006 – 121 C 502/05, RRa 2017, 44) hat dem Luftfahrtunternehmen die Befugnis eingeräumt, sich auf die Anrechnung zu berufen, wenn der Fluggast neben dem vom Luftfahrtunternehmen anerkannten Ausgleichsanspruch weitergehenden Schadensersatz verlangt. In diesen Fällen soll das Gericht gebunden sein (so Staudinger/Keiler, HK FluggR/Bollweg, Art. 12 Rn. 96; Führich Rn. 37).

34a       Dagegen vertritt das LG Köln (09.04.2013 – 11 S 241/12) die zutreffende Auffassung, dass den Gerichten keine zwingende Anrechnung vorgeschrieben sei; vielmehr sei es Sache des Gerichts, zu entscheiden, ob eine Anrechnung unter den gegebenen Umständen des Einzelfalles angemessen ist. Das Gericht beruft sich dabei auf die Ausführungen der Generalanwältin beim EuGH Sharpston (28.06.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, Rn. 63 f., RRa 2011, 185 (188) Diese hat in Rn 64 ihrer Schlussanträge darauf hingewiesen, dass „keine Anrechnungspflicht“ bestehe und die Ansicht vertreten, dass es „stets“ Sache des zuständigen Gerichts sei, zu entscheiden hat, ob eine Anrechnung unter den Umständen des Einzelfalls angemessen ist oder nicht. Es bestehen keine Zweifel, dass sie als Adressaten des Art. 12 VO die nationalen Instanzgerichte sieht.

34b      Der EuGH hat in der Sousa Rodriguez-Entscheidung (13.10.2011, Rs. C-83/10, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916) in seinem Urteilsgründen zwar nicht ausdrücklich und klar Stellung genommen. Doch weist er in Rn 38 darauf hin, dass Art. 12 VO es dem nationalen Gericht ermögliche, „das Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des den Fluggästen wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrages entstandenen Schaden auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu verurteilen, d.h. insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal.“ Diesen Ausführungen kann man nur entnehmen, dass das Gericht der Rechtsansicht der Generalanwältin folgt.

35     Nach Art. 12 Abs. 2 VO gelten für einen Fluggast, der auf einem überbuchten Flug gebucht war und gemäß Art. 4 Abs. 1 VO als „Freiwilliger“ auf seine Buchung verzichtet und dafür aufgrund einer besonderen Vereinbarung mit dem Luftfahrtunternehmen als Äquivalent für den Ausgleichsanspruch eine Kompensation („entsprechende Gegenleistung“) erhalten hat, die Regelungen des Art. 12 Abs. 1 VO nicht. Das bedeutet zum Einem, dass die Anrechnungsregel des Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO (Anrechnung einer gewährten Ausgleichsleistung auf einen weitergehenden Schadensersatzanspruch) ausgeschlossen ist.

36    Zum anderen bedeutet die Regel des Art. 12 Abs. 2 VO auch, dass einem nach Art. 4 Abs. 1 VO freiwillig zurücktretenden Fluggast die Möglichkeit der Geltendmachung eines weiter gehenden Schadensersatzanspruch versperrt ist (so auch Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss [2. Aufl. 2010], Kap. 15, Rn. 132). Wer also als „Freiwilliger“ auf seinen Beförderungsanspruch verzichtet, muss dies bei der Verhandlung über die Höhe der Kompensation berücksichtigen und prüfen, ob ihm durch die Nichtbeförderung ein ersatzfähiger weiter gehender Schaden entstanden ist (z.B. Kosten für ein Hotelzimmer oder einen Mietwagen, die er am Zielort wegen der verspäteten Ankunft des Ersatzfluges nicht in Anspruch nehmen kann), der durch die Kompensation nicht abgedeckt ist. Tonner (a.a.O.) weist zu Recht darauf hin, dass bei einem freiwilligen Verzicht auf die gebuchte Beförderung das Luftfahrtunternehmen auch darauf hinweisen muss, dass ein „Freiwilliger“ i.S.d. Art. 4 VO von der Geltendmachung einer weiteren Schadensersatzleistung ausgeschlossen ist. Kommt das Luftfahrtunternehmen dieser Pflicht nicht nach, kann es sich nicht auf Art. 12 Abs. 2 VO berufen.

Artikel 11 – Personen mit eingeschränkter Mobilität oder mit besonderen Bedürfnissen

(1) Die ausführenden Luftfahrtunternehmen geben Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen oder Begleithunden mit entsprechender Bescheinigung sowie Kindern ohne Begleitung bei der Beförderung Vorrang.

(2) Im Fall einer Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung von beliebiger Dauer haben Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen sowie Kinder ohne Begleitung Anspruch auf baldmögliche Betreuung gemäß Artikel 9.

1    In Art. 11 VO hat der europäische Gesetzgeber für „Personen mit eingeschränkter Mobilität“ oder besonderen Bedürfnissen eine Vorrangregel aufgestellt. Das betrifft zum einen Personen, deren Mobilität bei der Benutzung von Beförderungsmitteln aufgrund einer körperlichen Behinderung (sensorischer oder motorischer Art, dauerhaft oder vorübergehend), einer geistigen Beeinträchtigung, ihres Alters oder aufgrund anderer Behinderungen eingeschränkt ist und deren Zustand besondere Unterstützung und eine Anpassung der allen Fluggästen bereitgestellten Dienstleistungen an die Bedürfnisse dieser Person erfordert (Art. 2 lit. i VO). Zu den Personen mit besonderen Bedürfnissen zählen Kinder, die ohne Begleitung (sog. UM = unaccompanied minors) fliegen.

2    Diese Personen haben Anspruch auf vorrangige Beförderung. Bei Personen mit eingeschränkter Mobilität bezieht sich das auch auf deren Begleitpersonen (Betreuer) oder Begleithunde.

3    Darüber hinaus können diese Personen die Betreuungsleistungen aus Art. 9 VO bereits dann in Anspruch nehmen, wenn die Fristen, die für eine Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen gelten, noch nicht abgelaufen sind. Dies hat vor allem Bedeutung bei der Nichtbeförderung und der Verspätung von Flügen.

4    Weitere Rechte sind behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität durch die Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 vom 05.07.2006 (ABl. EG 2006 L 204, 1) eingeräumt worden.

Artikel 10 – Höherstufung und Herabstufung

(1) Verlegt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast in eine höhere Klasse als die, für die der Flugschein erworben wurde, so darf es dafür keinerlei Aufschlag oder Zuzahlung erheben.

(2) Verlegt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast in eine niedrigere Klasse als die, für die der Flugschein erworben wurde, so erstattet es binnen sieben Tagen nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten

a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger 30 % des Preises des Flugscheins oder

b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km, mit Ausnahme von Flügen zwischen dem europäischen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und den französischen überseeischen Departements, und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km 50 % des Preises des Flugscheins oder

c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen, einschließlich Flügen zwischen dem europäischen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und den französischen überseeischen Departements, 75% des Preises des Flugscheins.

I. Allgemeines

1    In Art. 10 VO wird die Verlegung eines Fluggastes in eine andere als der gebuchten „Klasse“ geregelt. Dies kann sich z.B. ergeben, wenn der Flug in der gebuchten Klasse überbucht wurde oder wenn einem Fluggast nach Art. 8 Abs. 1 VO eine „anderweitige Beförderung zum Endziel“ angeboten wird, und auf diesem Flug kein Sitzplatz in der gebuchten Beförderungsklasse mehr frei ist. In solchen Fällen dürfen dem Fluggast durch eine Verlegung in eine andere Klasse aber keine finanziellen Nachteile entstehen. Anders verhält es sich aber, wenn die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 lit. a VO nicht vorliegen, z.B. wenn sich der Passagier nicht rechtzeitig zur Abfertigung einfindet. Wird dieser dann doch noch als Passagier angenommen, aber nur noch in einer niedrigeren als der gebuchten Klasse, weil (nach Annahme von auf der Warteliste stehenden Fluggästen) in der gebuchten Beförderungsklasse kein Sitzplatz mehr frei ist, kann er sich nicht auf Art. 10 VO berufen (so auch: Hausmann, Europäische Fluggastrechte, S. 334).

2    Mit dem Begriff „Klasse“ ist die Beförderungsklasse (First Class, Business Class, Comfort Class oder Economy Class) gemeint, nicht die (i.d.R. mit Buchstaben gekennzeichnete) „Buchungsklasse“ (Tarifklasse) innerhalb einer Beförderungsklasse, an die bestimmte Bedingungen wie Vorausbuchungsfrist, Mindestaufenthalt, Umbuchungsmöglichkeit etc. geknüpft sind (z.B. A = Discount First, C = Business Full Fare, D = Discount Business, F= Full fare First, J = Full Fare Business, interlinefähig, N = PAD, P = Economy, S = Discount Eco, usw.).

II. Höherstufung (upgrade)

3    Gemäß Art. 10 Abs. 1 VO darf für eine Verlegung in eine höhere Klasse kein Aufschlag verlangt werden, obwohl eigentlich eine Vertragsänderung vorliegt, sobald der Fluggast einer Beförderung in der höheren Beförderungsklasse zustimmt.

III. Herabstufung (downgrade)

4    Art. 10 Abs. 2 VO erfasst den Fall der Herabstufung in eine niedrigere Beförderungsklasse als gebucht. In einem solchen Fall entsteht dem Fluggast ein entfernungsabhängig gestaffelter Anspruch auf teilweise Erstattung des Flugpreises. Diese orientiert sich an den Entfernungsstaffeln des Art. 7 Abs. 1 VO, so dass je nach Flugentfernung 30 % des Preises des Flugscheines, 50 % oder 75 % des Preises des Flugscheines von dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zurückzuzahlen sind, je nachdem, ob es sich um einen Flug über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger, um einen Flug zwischen 1.500 km und 3.500 km oder um einen Flug über 3.500 km hinaus handelt. Damit ist nicht die Preisdifferenz zwischen der gebuchten und der niedrigeren (tatsächlichen) Beförderungsklasse zu zahlen (so auch: Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2. Aufl. 2010), Rn. 19; Hausmann, Europäische Fluggastrechte [2012], S. 340).

IV. Die Berechnung des zu erstattenden Flugpreises

5       Für den Fall der Herabstufung eines Fluggasts auf einem Flug hat der EuGH am 22.06.2016 (Rs. C-255/15 – Mennens ./. Emirates, RRa 2016, 181) entschieden, dass für die Ermittlung der dem betroffenen Fluggast geschuldeten Erstattung der Preis des Fluges zugrunde zu legen ist, auf dem der Fluggast herabgestuft wurde. Ist ein solcher Preis auf dem (den Fluggast zur Beförderung auf diesem Flug berechtigenden) Flugschein nicht angegeben, soll auf den Teil des Flugscheinpreises abgestellt werden, der dem Quotienten aus der Länge der betroffenen Flugstrecke und der der Gesamtstrecke der Beförderung entspricht, auf die der Fluggast einen Anspruch hat (Leitsatz).

6       Weiter ungeklärt ist die Frage, wie der Erstattungsbetrag zu berechnen ist, wenn der Flugscheinpreis dem Fluggast überhaupt nicht bekannt ist. Die Antwort auf diese Frage ist aber wichtig, wenn das Downgrading auf einem Flug stattfindet, der im Rahmen einer Flugpauschalreise durchgeführt wird. In diesen Fällen wird dem Fluggast in aller Regel nicht mitgeteilt, welchen Anteil des Pauschalreisepreises auf die Luftbeförderung entfällt. In solchen Fällen wird dem Fluggast nichts anderes übrig bleiben als im Wege einer vorgeschalteten Auskunftsklage das ausführende Luftfahrtunternehmen zu zwingen, ihm mitzuteilen, welchen Preis es vom Reiseveranstalter für die Durchführung des Fluges bezahlt hat. Ein solcher Auskunftsanspruch dürfte allerdings dann ins Leere gehen, wenn das Luftfahrtunternehmen, das ursprünglich mit der Durchführung der Luftbeförderung betraut wurde, ein andereLuftfahrtunternehmen im Wege des Subcharters mit der tatsächlichen Durchführung beauftragt.

 7       Der EuGH (a.a.O.) hat ferner entschieden, dass für die Ermittlung der einem Fluggast im Fall einer Herabstufung auf einem Flug nach Abs. 2 geschuldeten Erstattung nur der Preis des reinen Fluges ohne die auf dem Flugschein ausgewiesenen Steuern und Gebühren zu berücksichtigen ist (Leitsatz 2). Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Steuern und Gebühren weder dem Grunde noch der Höhe nach von der Klasse abhängen, für die der Flugschein erworben wurde. Da viele Fluggesellschaften aber zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit mit sog. Billig-carriern häufig „Steuern“ oder „Gebühren“ angeben, die rechtlich gesehen keine sind (z.B. eine „Administrationsgebühr“ oder eine „261-Gebühr“) oder die in der angegebenen Höhe nicht angefallen (und an den Gebührengläubiger nicht abgeführt worden) sind, wird der Fluggast die vom Gesamtflugpreis in Abzug gebrachten (echten) „Steuern und Gebühren“ genau prüfen müssen, ob diese dem Grunde nach oder in der behaupteten Höhe angefallen und gezahlt worden sind. Sobald auch nur ernsthafte Zweifel an der richtigen Berechnung bestehen, sollte der Fluggast die Fluggesellschaft auffordern, diese »Steuern und Gebühren« dem Grunde und/oder der Höhe nach zu belegen. Wird das verweigert, ist eine vorgeschaltete Auskunftsklage geboten. Entstehen die Zweifel erst im Laufe eines Gerichtsverfahrens, dürfte es ausreichen, wenn der Fluggast, die von der Fluggesellschaft in Abzug gebrachten Steuern und Gebühren dem Grunde und/oder der Höhe nach bestreitet. Dann muss das Luftfahrtunternehmen konkret darlegen und beweisen, dass diese a) auf den konkreten Flug, b) in der geltend gemachten Höhe tatsächlich vom Gebührengläubiger erhoben und c) vom Luftfahrtunternehmen auch tatsächlich an den jeweiligen Gebührengläubiger abgeführt worden sind.

8       Da der EuGH sich nur mit den konkreten Vorlagefragen befassen muss, ergibt sich aus dem Urteil des EuGH leider auch kein Hinweis, wie der (Netto-) Flugpreis ermittelt werden soll, wenn dieser dem Fluggast gar nicht bekannt ist. Dieses Problem entsteht insbesondere bei Flügen, die im Rahmen einer Flugpauschalreise durchgeführt werden, bei der der Flugpreis Teil des Gesamt-Reisepreises ist und dem Fluggast vom Reiseveranstalter bewusst nicht offen gelegt wird.

Denkbar ist zwar grundsätzlich auch hier eine Auskunftsklage gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, das so gezwungen werden kann, den Flugpreis, den der Reiseveranstalter bezahlt hat, offenzulegen und Auskunft darüber zu geben, welchen (echten) Steuern und Gebühren abgeführt wurden.

Dieser Weg ist aber wohl nicht möglich, wenn das vom Reiseveranstalter beauftragte Luftfahrtunternehmen die Luftbeförderung im Wege des Subcharters durch ein anderen Unternehmen hat durchführen lassen. Dieses dürfte im Regelfall den zwischen dem Reiseveranstalter und dem ursprünglichen Luftfahrtunternehmen ausgehandelten Flugpreis nicht kennen und schon gar nicht den Anteil, den der Netto-Flugpreis am Gesamt-Flugpreis ausmacht. Das Subcharter-Unternehmen wird allenfalls mitteilen können, welchen Preis es von beauftragenden Luftfahrtunternehmen für die Ersatz-Beförderung erhalten hat. Dieser Preis dürfte aber in aller Regel nicht identisch sein mit dem Flugpreis, den der Reiseveranstalter an das von ihm beauftragte Luftfahrtunternehmen gezahlt hat. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis der BGH oder der EuGH sich auch mit dieser Frage befassen werden.

9    Für die Rückerstattung setzt die Verordnung eine Frist von 7 Tagen, wobei die in Art. 7 Abs. 3 VO bezeichneten Zahlungswege genutzt werden müssen. Letzten Endes regelt die Verordnung insoweit eine prozentuale Minderung, gerechnet auf den Preis des Flugscheins.

Artikel 9 – Anspruch auf Betreuungsleistungen

1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so sind Fluggästen folgende Leistungen unentgeltlich anzubieten:

  1. a) Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit,
  2. b) Hotelunterbringung, falls 

–   ein Aufenthalt von einer Nacht oder mehreren Nächten notwendig ist oder 

–   ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig ist,

  1. c) Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel oder Sonstiges).

(2) Außerdem wird den Fluggästen angeboten, unentgeltlich zwei Telefongespräche zu führen oder zwei Telexe oder Telefaxe oder E-Mails zu versenden.

(3) Bei der Anwendung dieses Artikels hat das ausführende Luftfahrtunternehmen besonders auf die Bedürfnisse von Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen sowie auf die Bedürfnisse von Kindern ohne Begleitung zu achten. 

1           Wie die Ereignisse um tagelange Streiks an europäischen Flughäfen oder die Folgen der Sperrung des europäischen Luftraums wegen der verschiedenen isländischen Vulkanaschewolken gezeigt haben, hat der Anspruch auf Betreuungsleistungen gemäß Art. 9 VO seine besondere Berechtigung. Im Vordergrund der allgemeinen Diskussion mag zwar der Ausgleichsanspruch auf pauschalen Schadensersatz (Art. 7 VO) stehen; im Zusammenhang mit geschlossenen Flughäfen, gesperrten Lufträumen und wegen Streiks abgesagten Flügen können sich die ausführenden Luftfahrtunternehmen aber bei Flugannullierung oder großen Ankunftsverspätungen von mehr als 3 Stunden entlasten, indem sie sich auf „außergewöhnliche Umstände“ (Art. 5 Abs. 3 VO) berufen (zum Fluglotsenstreik: AG Königs Wusterhausen 31.1.2011 – 4 C 308/10, RRa 2011, 240 = BeckRS 2011, 21454) .

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2           Gleichwohl sind an europäischen oder auch außereuropäischen Flughäfen gestrandete Fluggäste von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft (Art. 2 lit. c VO) rechtlich nicht allein gelassen. Denn in solchen Fällen bestehen – neben den vielfältigen Ansprüchen auf Unterstützung durch das ausführende Luftfahrtunternehmen gemäß Art. 8 VO – auch umfangreiche Ansprüche auf unentgeltliche Betreuungsleistungen nach Art. 9 VO (→ Rn.4).

 3      Die in Art. 9 VO statuierten Ansprüche sind zwingendes Recht (Art. 15 Abs. 1 VO). Sie dürfen daher durch die Luftfahrtunternehmen in Allgemeinen Beförderungsbedingungen weder beschränkt noch aus- geschlossen werden. Bei Verstößen kann der Reisende Schadensersatzansprüche geltend machen (Art. 15 Abs. 2 VO).

4         Viele Luftfahrtunternehmen haben in der Vergangenheit die Ansicht vertreten, bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, keine Unterstützungs- und Betreuungsleistungen erbringen zu müssen. Es ist aber inzwischen h.M. in der Judikatur, dass Art. 5 Abs. 3 VO weder unmittelbar noch analog auf Unterstützungs- und Betreuungsleistungen angewendet werden kann. Luftfahrtunternehmen sind daher auch bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände zur Erbringung von Betreuungsleistungen verpflichtet (EuGH 31.1.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373; OLG Koblenz 11.1.2008 – 10 U 385/07, RRa 2008, 181 f.; AG Rüsselsheim 11.1.2011 – 3 C 1698/ 10-32, RRa 2011, 93 = NJW-RR 2011, 560; AG Rüsselsheim 21.12.2011 − 3 C 229/11-36; AG Nürnberg 14.9.2011 – 18 C 6053/11, RRa 2011, 297; AG Frankfurt a.M. 1.6.2011 – 29 C 2320/10-21, RRa 2012, 32 = LSK 2012, 390063). Diese Betreuungsleistungen sind also von dem ausführenden Luftfahrtunternehmen verschuldensunabhängig und ohne Entlastungsmöglichkeit zu gewähren. (Siehe dazu auch Führich, MDR-Sonderbeilage 7/2007, S. 9).

5           Den Fluggästen sind nach Art. 9 Abs. 1 lit. a – c, Abs. 2 VO unentgeltlich Betreuungsleistungen anzubieten in Form von

  • Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit,
  • Hotelunterbringung, falls ein Aufenthalt von einer Nacht oder mehreren Nächten notwendig ist oder ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig ist,
  • Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel),
  • Möglichkeit der unentgeltlichen Kommunikation (zwei Telefongespräche oder zwei Telexe, Telefaxe oder Emails).

6     Die Inanspruchnahme dieser Betreuungsleistungen kommt in Betracht, wenn Fluggästen entgegen ihrem Willen die Beförderung verweigert wird (Art. 4 Abs. 1 VO); in diesem Fall sind neben der Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 VO und den Unterstützungsleistungen des Art. 8 VO auch die Betreuungsleistungen des Art. 9 VO zu gewähren.

7    Auch wenn ein Flug annulliert wird, hat das ausführende Luftfahrtunternehmen den betroffenen Fluggästen als Betreuungsleistungen Mahlzeiten und Erfrischungen und die genannten Kommunikationsmöglichkeiten in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit anzubieten.

8     Im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, ist als Unterstützungsleistung eine angemessene Hotelunterbringung für eine oder mehrere Nächte anzubieten und die Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Art. 5 Abs. 1 lit. b, Art. 9 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 bzw. 9 Abs. 1 lit. b und c VO).

9      Im Falle einer Verspätung sieht Art. 6 VO ein abgestuftes Betreuungskonzept vor: Ist für das ausführende Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug

  • bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder  weniger um 2 Stunden oder mehr oder
  • bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km um 3 Stunden oder mehr oder
  • bei allen sonstigen Flügen um 4 Stunden oder mehr

gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit sowie unentgeltlichen Kommunikationsmöglichkeiten mit 2 Telefonaten, Telexen, Telefaxen oder Emails angeboten (Art. 9 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 VO).

10         Wird beim Hinflug eine Wartezeit von einer oder mehreren Nächten notwendig oder ist beim Rückflug ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig, muss ein Luftfahrtunternehmen für eine Hotelunterkunft unentgeltlich Sorge tragen (Art. 9 Abs. 1 lit. b VO). Diese kann nur dann nicht verlangt werden, wenn der Ersatzflug oder der verspätete Flug noch am selben Tag erfolgt. Ist aber absehbar, dass die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, ist eine Hotelunterbringung für eine oder mehrere Nächte anzubieten sowie die Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung. Ein Luftfahrtunternehmen darf aber die Pflicht zur Unterbringung in einem Hotel nicht dadurch umgehen, dass es die Abflugzeit in kurzen Intervallen immer wieder verschiebt, also z.B. erst auf 22:00 Uhr, dann auf 24:00 Uhr, dann auf 02:00 Uhr usw. (so auch Tonner, in: Zivilrecht unter europäischem Einfluss [2. Aufl. 2010], Kap. 15, Rn. 115).

11       Nach Meinung des AG Frankfurt (Urt. v. 25.09.2012 – 30 C 1275/12-71) soll es ausreichen, wenn ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen der Betreuung gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. b VO eine einfache und zweckmäßige Unterkunft zur Verfügung stellt. Das kann aber nicht bedeuten, dass einfachste Unterkünfte wie Jugendherbergen, Hostels etc. ausreichen. Zum einem, weil nach dem Text der Verordnung nicht (irgendeine) Unterkunft, sondern die Unterbringung in einem Hotel vorgeschrieben ist. Zum anderen ist ein Luftfahrtunternehmen verpflichtet, eine Unterkunft mittlerer Art und Güte zur Verfügung zu stellen. Dem entspricht im Gebiet der Europäischen Union nur ein solches Hotel, das die Voraussetzungen einer Drei-Sterne-Klassifizierung des deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (DEHOGA) – wenigstens im Wesentlichen – erfüllt oder erfüllen würde. (Einzelheiten dazu: http://www.hotelsterne.de/index.php?id=kriterien); bei Hotels im nicht europäischen Ausland wird ein entsprechender Standard zu fordern sein. Sollte ausnahmsweise die Unterbringung nur in einem Gasthaus, einem Gasthof oder einer Pension erfolgen, ist ein solches zu wählen, das die sog. G-Klassifizierung erfüllt. (Details dazu unter: http://www.g-klassifizierung.de/index.php?id=start).

12         In der Vergangenheit hat sich in solchen Situationen häufig her- ausgestellt, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen entweder nicht bereit oder nicht in der Lage war, die von der Verordnung vorgeschriebenen, unentgeltlich und unverzüglich anzubietenden Betreuungsleistungen zu gewähren. In der Not der Situation haben sich die betroffenen Fluggäste häufig selbst geholfen und sich auf eigene Kosten verpflegt, eine Hotelunterkunft gesucht und/oder eine Alternativ-Beförderung organisiert. Wurden die ausführenden Luftfahrtunternehmen dann wegen dieser Kosten auf Schadensersatz in Anspruch genommen, haben die angerufenen Gerichte den Fluggästen durchweg den Schadensersatz zugesprochen: So hat der EuGH entschieden, dass auch bei Annullierung eines Fluges wegen „außergewöhnlicher Umstände“ von erheblicher Dauer ein Luftfahrtunternehmen der Pflicht zur unentgeltlichen Betreuung der Fluggäste nachkommen muss. Kommt ein Luftfahrtunternehmen dieser Verpflichtung nicht nach, kann der Fluggast einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe der von ihm aufgewendeten Kosten einer selbst beschafften Unterkunft oder Verpflegung verlangen (EuGH, Urt. v. 31.01.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 f. = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373; BGH, Urt. v. 28.08.2012 – X ZR 128/12, RRa 2012, 285, 287; so schon: AG Köln, Urt. v. 18.08.2006 – 121 C 502/05, RRa 2007, 44; AG Erding Urt. v. 15.11.2006 – 4 C 661/06, RRa 2007, 85; AG Simmern, Urt. v. 20.04.2007 – 3 C 688/06, RRa 2008, 51 f.; AG Dortmund, Urt. v. 04.03.2008 – 431 C 11621/07, RRa 2008, 188; AG Nürnberg, Urt. v. 14.09.2011 – 18 C 6053/11; AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.01.2011 – 3 C 1698/10. Zur Kritik an der Entscheidung des EuGH bzgl. einer möglichen Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots auf Grund der fehlenden zeitlichen oder finanziellen Beschränkung der Betreuungspflicht siehe Staudinger, Staudinger EuZW 2013, 227; Staudinger/Krüger NJW 2013, 913 (916); Müller-Rostin, euvr 2013, 138 (147)). In diesem Fall kann ein Luftfahrtunternehmen dem Fluggast nicht vorhalten, er hätte ein günstigeres wählen müssen, ohne hinreichend substantiiert vorzutragen, welches günstigere Hotelzimmer zu welchem Zimmerpreis verfügbar gewesen wäre. (AG Rüsselsheim 21.9.2011 – 3 C 56/11-36, RRa 2012, 134 m. Anm. Schmid = Beck RS 2012, 13660).

13         Nach Ansicht des EuGH ergibt sich der Anspruch auf Schadensersatz wegen verweigerter Betreuungsleistungen unmittelbar aus Art. 9 VO (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, RRa 2012, 282 f. = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916; offen gelassen: BGH, Urt. v. 28.08.2012 – X ZR 128/12, RRa 2012, 285, (287)).

14     Ein Fluggast kann aber nur solche Beträge erstattet bekommen, die sich in Anbetracht der jeweiligen Umstände als notwendig, angemessen und zumutbar erweisen, um den Ausfall der Betreuung des Fluggastes durch das Luftfahrtunternehmen auszugleichen (EuGH, Urt. v. 31.01.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 f. = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373). Allerdings muss der Fluggast in einer konkreten und für das Gericht nachvollziehbaren Weise darlegen, dass solche Kosten ihm selbst entstanden sind und welche einzelnen Verpflegungsleistungen er während der Wartezeit selbst bezahlt hat (LG Frankfurt a. M. 26.07.2013 – 2-24 S 120/12). Ebenso ist konkret darzulegen, warum welche Telefonkosten in welcher Höhe angefallen sind und inwieweit sie erforderlich waren. Haben mehrere Reisende einer Familie oder Reisegruppe telefoniert, muss nachvollziehbar dargelegt werden, dass und warum alle Kläger in gleicher Weise telefonieren mussten. Bei minderjährigen mitreisenden Kindern ist es in aller Regel wenig plausibel, dass diese eigene Telefonate führen müssen (so auch LG Frankfurt a. M., a.a.O.).

14a       Ein Luftfahrtunternehmen kann einem Fluggast, der sich ein Hotelzimmer selbst beschaffen musste, aber nicht vorhalten, er habe ein günstigeres Zimmer beschaffen können, ohne zugleich darzulegen, welche Buchungsmöglichkeiten konkret bestanden hatten (AG Rüsselsheim 21.9.2011 – 5 C 56/11-36, RRa 2012, 134 f. mAnm Schmid).

15         Hat der Reisende aber keine solchen Übernachtungskosten aufbringen müssen (z.B. weil er freiwillig auf dem Flughafen oder unentgeltlich bei Freunden übernachtet hat), hat er auch keinen Ersatzanspruch in Höhe fiktiver Kosten gegen das Luftfahrtunternehmen (so auch: AG Erding, Urt. v. 15.11.2006 – 4 C 661/06, RRa 2007, 85 f.; AG Düsseldorf, Urt. v. 28.08.2013 – 53 C 6463/13, RRa 2014, 40).

16         Verzögert sich der Flug erheblich, ist es dem Fluggast nicht zuzumuten, am Flughafen zu verharren, wenn er in der Nähe des Abgangsflughafens wohnt. Er ist auch nicht verpflichtet, Unterbringungs- und Verpflegungsleistungen der Fluggesellschaft anzunehmen, wenn er mit geringem Aufwand wieder nach Hause fahren kann (LG Frankfurt, Urt. v. 26.07.2007 – 2-24 S 290/06, RRa 2008, 41 f. zu einer Abflugverzögerung von 11 Stunden).

17         Alle Unterstützungsleistungen müssen innerhalb der in Art. 9 genannten Zeiträume je nach Entfernungskategorie angeboten werden (Art. 9 Abs. 1 lit. b und c VO).

18     Behauptet ein Luftfahrtunternehmen, dass der Fluggast von ihm Verpflegung und eine Hotelübernachtung erhalten habe, muss es konkret vortragen, welche Leistungen dem klagenden Reisenden im Einzelnen gewährt wurden; es genügt nicht, allgemein auf „die Verpflegung und Hotelunterbringung aller Passagiere“ zu verweisen (AG Bremen, Urt. vom 29.11.2013 – 2 C 49/13).

19     Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen oder -hunde sowie Kinder ohne Begleitung können nach Art. 11 Abs. 2 VO die Betreuungsleistungen aus Art. 9 VO bereits dann in Anspruch nehmen, wenn die Fristen, die für eine Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen gelten, noch nicht abgelaufen sind. Dies hat vor allem Bedeutung bei der Verspätung von Flügen. Unabhängig davon muss ein Luftfahrtunternehmen die im Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 vom 5.7.2006 (ABl. EG 2006 L 204, 1) niedergelegten Hilfeleistungen erbringen

20     Ein Reisender hat einen Anspruch auf Schmerzensgeld wegen Gesundheitsbeeinträchtigung, wenn ein Luftfahrtunternehmen einem Reisenden nach einer (faktischen) Annullierung des Fluges bis zum Weitertransport mehr als 10 Stunden lang keinerlei Betreuungsleistungen (wenigstens Wasser und Verpflegung) anbietet und der Reisende dem Luftfahrtunternehmen mitgeteilt hat, dass er an Diabetes mellitus erkrankt sei und deswegen in vierstündigen Abständen Medikamente mit Wasser einnehmen muss. Dies gilt jedenfalls dann, wenn am Flughafen kein Geschäft mehr geöffnet ist, in dem sich der Reisende selbst mit Wasser hätte versorgen können (AG Rüsselsheim, Urteil vom 11.07.2013 – 3 C 479/13-36, , RRa 2014, 152 = BeckRS, 12204).

Artikel 8 – Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung

(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zu-rückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,

b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder

c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Flug-gastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.

(2) Absatz 1 Buchstabe a) gilt auch für Fluggäste, deren Flüge Bestandteil einer Pauschalreise sind, mit Ausnahme des Anspruchs auf Erstattung, sofern dieser sich aus der Richtlinie 90/314/EWG ergibt.

(3) Befinden sich an einem Ort, in einer Stadt oder Region mehrere Flughäfen und bietet ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einem Fluggast einen Flug zu einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen an, so trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen die Kosten für die Beförderung des Fluggastes von dem anderen Flughafen entweder zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen oder zu einem sonstigen nahe gelegenen, mit dem Fluggast vereinbarten Zielort. 

1      Art. 8 VO gibt dem Fluggast eine Wahlrecht auf verschiedene Unterstützungsleistungen, die er vom ausführenden Luftfahrtunternehmen beanspruchen kann.

2       Ansprüche auf Betreuungsleistungen entstehen

  • im Falle der Nichtbeförderung, Art. 4 Abs. 3 VO,
  • bei einer Flugannullierung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a VO und
  • im Falle der großen Verspätung mit mindestens 5 Stunden, Art. 6 Abs. 1 lit. i – iii, Abs. 2 VO.

3       Die Ausgleichsansprüche des Art. 7 Abs. 1 VO (250 EUR bei Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger; 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km; 600 EUR bei allen sonstigen Flügen) können um 50 % gekürzt werden, wenn den Fluggästen gemäß Art. 8 VO eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten wird, dessen Ankunftszeit bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger nicht später als 2 Stunden oder

  • bei allen innergemeinschaftlichen Flügen bei einer Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km nicht später als 3 Stunden oder
  • bei allen sonstigen Flügen nicht später als 4 Stunden

nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt (Art. 7 Abs. 2 VO).

 4       Der Fluggast kann die vollständige Erstattung der Flugscheinkosten für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte zu dem Preis verlangen, zu dem der Flugschein erworben wurde, Gleiches gilt für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist. Dieser Anspruch besteht gegebenenfalls in Verbindung mit einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt (Art. 8 Abs. 1 lit. a VO).

5       Wählt der Fluggast diese Möglichkeit, wird der Luftbeförderungsvertrag im Ergebnis rückabgewickelt, soweit er noch nicht erfüllt ist bzw. soweit die Erfüllung des Luftbeförderungsvertrages ihren Zweck verfehlt hat. Dies bedarf einer ausdrücklichen Erklärung des Fluggastes, die im Ergebnis das ausführende Luftfahrtunternehmen aus seiner Pflicht entlässt, sich um eine anderweitige Beförderung zum Endziel zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder um eine anderweitige Beförderung zum Endziel zu bemühen und diese darzustellen.

6       Entscheidet sich der Fluggast also für den Rücktritt und die Erstattung der Flugscheinkosten, verzichtet er auf die übrigen Wahlrechte, bekommt zwar binnen 7 Tagen die Flugscheinkosten auf den üblichen Zahlungswegen zurück (Art. 7 Abs. 3 VO), ist aber bezüglich einer Rückbeförderung oder Weiterbeförderung oder auch der sonstigen Betreuungsleistungen des Art. 9 VO, auf sich allein gestellt.

7       Ein Fluggast übt deshalb bei Rückforderung des Flugpreises sein Wahlrecht nach Art. 8 VO im Zweifel nur dann rechtswirksam aus, wenn er zuvor auf die Rechtsfolgen seines Handelns, insbesondere den hierin liegenden Verzicht auch auf weitergehende Schadensersatzansprüche, ausdrücklich hingewiesen wurde (AG Bremen, Urt. v. 04.08. 2011 – 9 C 135/11, Rn 23, NJW-RR 2012, 378 f. = juris).

 8       Auch wenn der Fluggast die Erstattung der Flugscheinkosten wählt, hat er immer noch den Anspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf einen Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist.

9       Die anderen Wahlrechte des Fluggastes (Art. 8 Abs. 1 lit. b und c VO) betreffen die anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt bzw. auf eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze. Von „vergleichbaren Bedingungen“ kann man nach Ansicht des LG Köln (Urt. v. 09.04.2013 – 11 S 241/12, RRa 2014, 34) bei einer Beförderung mittels Bahn statt Flugzeug nicht ausgehen.

 10     In der Literatur wird die Ansicht vertreten, der Begriff „zum  frühestmöglichen Zeitpunkt“ sei so auszulegen, dass sich das Luftfahrtunternehmen auf die Grenzen seiner eigenen Kapazität berufen kann und damit eine Begrenzung auf den nächsten verfügbaren, eigenen Platz des Luftfahrtunternehmens enthält (Führich, Reiserecht [6. Aufl.] Rn. 1049; Lienhard, GPR 2004, 259, 263). Dem kann nicht zugestimmt werden, weil dies im Widerspruch zu dem die Verordnung tragenden Gedanken der Sicherung und Erhöhung des Schutzstandards für Fluggäste stünde.

11     Denn auch bei Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes (z.B. Fluglotsenstreik) trifft ein Luftfahrtunternehmen die Obliegenheit zur Sicherstellung der frühestmöglichen Rückbeförderung der Fluggäste. Das Luftfahrtunternehmen ist grundsätzlich zum Schadensersatz (nicht aber zur Ausgleichszahlung) verpflichtet, wenn der Fluggast in Eigenregie die Beförderung zum Zielort organisieren muss, weil die vom Luftfahrtunternehmen angebotene Alternativ-Beförderung erst zu einem unangemessen späteren Zeitpunkt erfolgt wäre; denn das Luftfahrtunternehmen ist bei einer Flugannullierung gehalten, die Beförderungsverpflichtung notfalls durch Inanspruchnahme von Leistungen Dritter, insbesondere anderer Fluglinien, zeitnah zu erfüllen (AG Bremen, Urt. v. 04.08.2011 – 9 C 135/11, NJW-RR 2012, 378 f.). Ein Luftfahrtunternehmen, das sich bei einem Fluglotsenstreik entlasten will, muss daher vortragen, in welcher Form es sich bemüht hat, den Fluggast zum frühestmöglichen Zeitpunkt zum Endziel zu befördern (so auch AG Hannover, Urt. v. 26.11.2014 – 506 C 3954/14, RRa 2015, 36).

 12     So wird auch vertreten, der Anspruch aus Art. 8 Abs. 1 lit. b oder c VO stelle keinen Schadensersatzanspruch, sondern eine verschuldens- unabhängige Unterstützungsleistung (im Sinne des Fortbestehens der ursprünglichen Leistungsverpflichtung) dar und beschränke sich auf eine „anderweitige Beförderung“ durch das betroffene Luftfahrtunternehmen „vorbehaltlich verfügbarer Plätze“, nicht aber durch ein anderes Luftfahrtunternehmen, geschweige denn eine „sonstige Beförderungsart“ (z.B. Mietwagen oder Bahn) bzw. die Unterbringung in einem Hotelzimmer (LG Potsdam, Urt. v. 27.10.2010 – 13 S 89/10, RRa 2011, 87 f.). Diese Entscheidung lässt sich mit dem klaren Wortlaut der Vorschrift nicht in Einklang bringen, der gerade keine solche Beschränkung auf eigene Flugdienste vorsieht. Ein solch einschränkendes Verständnis würde auch dem Zweck der Verordnung, ein hohes Schutzniveau der Fluggäste zu erreichen (Erwägungsgrund 1) und Ärgernisse und Unannehmlichkeiten für Fluggäste zu verringern (Erwägungsgrund 12), ausdrücklich widersprechen.

13     Jedenfalls bestehen die Ansprüche des Fluggastes auf Unterstützungsleistungen nach Art. 8 VO, ohne dass es darauf ankäme, ob das ausführende Luftfahrtunternehmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO nachweisen könnte, dass die Annullierung, Nichtbeförderung oder Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Denn: Art. 5 Abs. 3 VO kann weder unmittelbar noch analog auf Unterstützungs- und Betreuungsleistungen der Art. 8 und 9 VO angewendet werden (EuGH 31.1.2013, Rs C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 f. = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 373). So zuvor schon: AG Rüsselsheim 11.1.2011 – 3 C 1698/10-32, RRa 2011, 93 f. = NJW-RR 2011, 560 f.; AG Rüsselsheim 21.12.2011 – 3 C 229/11-36, RRa 2012, 95 = LSK 2012, 160675; AG Frankfurt a.M. 1.6.2011 – 29 C 2320/10-21, RRa 2012, 32 (33 ) = LSK 2012, 390063).

 14     Die Ersatzbeförderungspflicht des ausführenden Luftfahrtunternehmens bezieht sich für die anderweitige Beförderung zum Endziel nach Art. 8 Abs. 3 VO auch auf nahegelegene Flughäfen. Insoweit gilt: Der Ausschlussgrund des Art. 5 Abs. 3 VO bezieht sich nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 VO und nicht auf Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 VO, so dass die Ansprüche gemäß Art. 8 VO vom ausführenden Luftfahrtunternehmen verschuldensunabhängig und ohne Exkulpationsmöglichkeit zu leisten sind. Erfolgt der Transport zu einem anderen als zu dem vereinbarten Zielflughafen mit einem anderen Transportmittel als einem Flugzeug, gilt Art. 8 Abs. 3 VO gleichermaßen (AG Frankfurt, Urt. v. 01.06.2011 – 29 C 2320/10-21, RRa 2012, 32 (33 ) = LSK 2012, 390063).

15     Was den Anspruch auf vollständige Erstattung der Flugscheinkosten (Art. 8 Abs. 1 lit. a VO) angeht, ergibt sich nach Art. 8 Abs. 2 VO eine Modifizierung, falls der Flug Teil einer Flugpauschalreise gewesen ist. Insoweit gilt der Vorrang der Gewährleistungs- und Schadensersatzrechte aus Reisevertrag gemäß §§ 651a ff. BGB, mit denen die in der Verordnung erwähnte Pauschalreise-Richtlinie 90/314/EWG in deutsches Zivilrecht umgesetzt worden ist. Diese Modifizierung bezieht sich aber nur auf die Erstattung von Ticket-Kosten und kommt nicht zum Tragen, wenn der Fluggast etwa die anderweitige Beförderung mittels Ersatzflug wählt oder in Bezug auf den Anspruch auf Ersatzbeförderung mit Bahn, Bus oder Schiff.

16     In der Literatur wird vertreten, die Erheblichkeitsschwelle von 5 Stunden bei Rücktritt wegen Verspätung (Art. 6 Abs. 1, iii VO) sei grundsätzlich auch im Rahmen von Art. 8 VO zu berücksichtigen (Führich, Reiserecht [6. Aufl.], Rn. 1049, 1002 f.), obwohl Art. 6 VO doch diese Erheblichkeitsschwelle von 5 Stunden lediglich für den Fall der Verspätung vorgibt.

17   Die Unterstützungs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Fall der erheblichen Verspätung eines Fluges i.S.d. Art. 6 VO stellen standardisierte sofortige Maßnahmen zur Wiedergutmachung des Schadens dar, der mit den Unannehmlichkeiten verbunden ist, die Ver- spätungen bei der Beförderung von Fluggästen zur Folge haben (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA ./. Depart- ment of Transport, Rn. 43, Slg. 2006, I-403 = RRa 2006,127 = NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112; EuGH, Urt. v. 19.11.2009, verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck und Lepuschitz ./. Air France, Rn. 51 f., Slg. 2009, I-10923 = RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 = EuZW 2009, 890).

18   Die in Art. 8 VO statuierten Ansprüche dürfen durch die Luftfahrtunternehmen weder beschränkt noch ausgeschlossen werden; sie sind zwingendes Recht (Art. 15 Abs. 1 VO). Bei Verstößen kann der Reisende Schadensersatzansprüche geltend machen (Art. 15 Abs. 2 VO).

Artikel 7 – Ausgleichsanspruch

(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger,

b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Ent-fernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km,

c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde ge-legt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.

(2) Wird Fluggästen gemäß Artikel 8 eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten, dessen Ankunftszeit

a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger nicht später als zwei Stunden oder b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 und 3.500 km nicht später als drei Stunden oder

c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen nicht später als vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ur-sprünglich gebuchten Fluges liegt, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 um 50 % kürzen.

I. Die Rechtsnatur des Anspruchs auf
Ausgleichszahlung

1           Zur Rechtsnatur des Anspruchs auf Ausgleichszahlung wird auf die Kommentierung in den Vorbemerkungen verwiesen. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass es sich bei diesem Anspruch um einen Schadensersatzanspruch handelt, mit dem materielle wie immaterielle Schäden pauschal kompensiert werden sollen.

II. Die Höhe des Ausgleichsanspruchs

1. Der Grundsatz

2           Die Höhe des Ausgleichsanspruchs orientiert sich an der Flugentfernung. Die Verordnung bestimmt, dass bei der Ermittlung der Entfernung der letzte Zielort des Fluges (Art. 7 Abs. 1 VO) zu Grunde zu legen ist und dass die genannten Entfernungen nach der Methode der „Großkreisentfernung“ ermittelt werden müssen (Art. 7 Abs. 4 VO). Die gesetzliche Berechnung der Entfernung erfolgt durch die Bestimmung der kürzesten Strecke zwischen Startflughafen und Zielflughafen entlang der kugelförmigen Erdoberfläche (Orthodrome).

3           Fraglich ist, ob auch bei der Durchführung von Direktflügen (z.B. Hamburg – München – Palma de Mallorca) die Entfernung zwischen dem Startflughafen (im Beispiel: Hamburg) und dem im vorgelegten Flugschein angegebenen Endziel (im Beispiel: Palma de Mallorca) die Berechnung auf der kürzesten Strecke erfolgen muss oder nicht die Summe der Entfernungen der einzelnen Strecken (z.B. Hamburg – München und München – Palma des Mallorca) zugrunde zu legen ist.

4           Der BGH hat im Urteil vom 14.10.2010 − Xa ZR 15/10 (RRa 2011, 33 = NJW-RR 2011, 355 = ZLW 2012, 297) entschieden, dass nach Art. 7 Abs. 1 Satz 2 VO bei der Ermittlung der Entfernung der letzte Zielort (Endziel) zugrunde gelegt werden muss, an dem der Fluggast infolge der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt. Es ist nicht allein auf den Zielort des einzelnen Beförderungsvorganges abzustellen, der annulliert worden ist. Damit ist klargestellt, dass bei Annullierung einer ersten, kurzen Teilstrecke nicht diese Entfernung bei Bemessung der Höhe der Ausgleichszahlung zugrunde zu legen ist, sondern die Entfernung zum Endziel des einheitlich gebuchten Fluges (so auch LG Hannover, Urt. v. 10.10.2012 – 12S 19/12, RRa 2013, 88; LG Hannover, Beschl. v. 08.11.2013 – 14 S 1/13). Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob die Entfernungen der Teilstrecken einer gemeinschaftlich gebuchten Flugreise ausgeschlossen sind oder nicht.

5         Blankenburg (RRa 2013, 61, (68)) will hinsichtlich des Endziels differenzieren: Hat der Fluggast bereits vor Reisebeginn beide Flüge als „einheitliche Reise“ gebucht und wird er entsprechend auch vor Beginn der Reise abgefertigt, soll sein Endziel der Reise der letzte Ankunftsflughafen sein. Anders bei der Konstellation, wenn die Flüge nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, d.h. keine einheitliche Buchung vorliegt oder die Flugabschnitte durch einen längeren Aufenthalt unterbrochen sind, der auch zu einem Auschecken nach dem ersten Flugabschnitt führt. In diesem Fall fehle die tatsächliche Komponente, die es rechtfertige, das Ziel des zweiten Fluges noch als Endziel der Flugreise anzunehmen.

6        Das AG Frankfurt (Urt. v. 11.10.2013 – 29 C 1952/123-81, RRa 2014, 150 = BeckRS 2014, 12199) vertritt die zutreffende Meinung, dass bei einer einheitlich gebuchten Reise, die aus mehreren Flügen eines Luftfahrtunternehmens zusammengesetzt ist, die Entfernung aus der Summe der Teilstrecken zu berechnen ist. Aus der streckenabhängigen Staffelung der Ausgleichsansprüche in Art. 7 VO lasse sich erkennen, dass der europäische Gesetzgeber davon ausgehe, dass die Unannehmlichkeiten für den Fluggast mit der Entfernung wüchsen. Aus diesem Bezug zur tatsächlich geflogenen Strecke lasse sich ableiten, dass bei der Bemessung der Entfernung bei Umsteigefügen auf die Summe der Entfernungen der Teilstrecken, also der zwischen dem Startflughafen und Zwischenlandeort einerseits und der zwischen diesem und dem Endziel andererseits abzustellen ist. So haben inzwischen auch das HG Wien, (Urt. v. 07.08.2015 – 60 R 48/15m, RRa 2016, 50) und das Bezirksgericht für Handelssachen in Wien (Urt. v. 15.02.2015 – 16 C 129/15k-12, RRa 2016, 154; ebenso: Führich, Reiserecht [7. Aufl., 2015] § 42 Rn. 4) entschieden. Diese Ansicht ist im Lichte des Zwecks der Verordnung, die die Ärgernisse und Unannehmlichkeiten der Fluggäste verringern will (Erwägungsgrund 12), konsequent. Aus dem Umstand, dass der europäische Gesetzgeber die Ausgleichsansprüche an der Entfernung orientiert gestaffelt hat, lässt sich ableiten, dass er der Tatsache Rechnung tragen wollte, dass mit wachsender Flugentfernung auch die Unannehmlichkeiten des Fluggastes wachsen. So gesehen ist es folgerichtig, dass bei einer einheitlich gebuchten Umsteigeverbindung, bei der größere Enfernungen zurückgelegt werden (z.B. 1700 km statt 1450 km) gleich dem Fluggast behandelt wird, der auf einer Non-stop geflogenen Strecke über 1700 km befördert wurde.

6a         Dagegen vertreten zahlreiche andere Gerichte (LG Landshut, Urt. v. 16.12.2015  – 13 S 2291/15; LG Hamburg, Beschl. v. 19.01.2016 – 320 S 8/15; AG Köln, Urt. v. 03.12.2013 – 113 C 428/13; AG Hamburg, Urt. v. 03.06.2015 – 120a C 28/15; AG Nürtingen, Urt. v. 28.05.2015 – 12 C 394/15; AG Wedding, Urt. v. 14.10.2015 – 22a C 193/15) die Ansicht, dass der Begriff der „Entfernung“ auch bei einer einheitlich gebuchten Umsteigeverbindung lediglich die unmittelbare Entfernung zwischen Abflugs- und letzten Zielort umfasst und zwar unabhängig von der im Einzelfall tatsächlich zurückgelegten Flugstrecke. Das LG Hamburg (a.a.O.) hat diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, doch ist davon aus zugehen, dass das beklagte Luftfahrtunternehmen die Forderung nunmehr anerkennt, um eine Entscheidung des EuGH zu verhindern.

7           Bei der Festlegung des Ausgangsortes des Fluges und des Endziels des Fluges sind nicht die im Flugschein und gegebenenfalls von der Fluggesellschaft selbst bestimmten Orte zugrunde zu legen, sondern die tatsächlich angeflogenen Flughäfen. Ausgangspunkt der Berechnung sind die jeweiligen Flugplatzbezugspunkte (engl. aerodrome reference point, ARP). Hierbei handelt es sich jeweils um den luftrechtlich genehmigten Punkt auf dem Gelände des jeweiligen Flugplatzes, der für alle Positions- und Höhenangaben maßgeblich ist. Bedeutsam ist dies in der Praxis, weil einige Fluggesellschaften beispielsweise den Flughafen Hahn im Hunsrück als „Frankfurt-Hahn“, den Flughafen Memmingen im Allgäu als „München-West“ oder den Flughafen Weeze als „Düsseldorf-Weeze“ bezeichnen. Diese Flughäfen liegen aber teilweise 100 Kilometer von den Großstädten, die die Flugstrecke markieren sollen, entfernt. Bei teleologischer Auslegung der Verordnung kann man nur zu dem Ergebnis gelangen, dass die jeweiligen regionalen Flugplätze, denen ein anderer Buchstabencode als den Flughäfen nahe den Großstädten zugewiesen ist, zugrunde zu legen sind. Die jeweiligen Orte, in deren Gebiet die Regionalflughäfen belegen sind, bestimmen auch den Gerichtsstand gemäß § 29 ZPO.

8    Liegen die Voraussetzungen für den Anspruch auf Ausgleichszahlungen vor, beträgt diese bei Entfernungen bis zu 1500 km 250 EUR je Fluggast. 400 EUR können Fluggäste bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km verlangen. Damit ist klargestellt, dass Nichtbeförderungen, Annullierungen und Verspätungen von innergemeinschaftlichen Flügen, nur eine Ausgleichszahlung von maximal 400 Euro nach sich ziehen können, auch wenn deren Flugentfernung über 3500 km liegt. So beispielsweise Flüge von Hamburg oder Berlin zu einem Flughafen auf den kanarischen Inseln. Von der Begrenzung auf 400 EUR ebenso betroffen sind z.B. auch Flüge in die französischen Übersee-Departements (z.B. Martinique in den Kleinen Antillen).

9    Bei allen übrigen Flügen, d.h. solchen mit einer Entfernung von über 3500 km, die nicht als innergemeinschaftliche Flüge gelten, beträgt die Ausgleichszahlung 600 EUR je Fluggast.

2. Die Kürzung der Ausgleichsleistung

10    Einschränkungen erfährt die Höhe der Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 Abs. 2 VO, wenn Fluggästen eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten wird, dessen Ankunftszeit

  • bei Flugentfernungen bis zu 1.500 km oder bei innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km nicht später als zwei Stunden,
  • bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 und
  • 500 km nicht später als drei Stunden oder
  • bei allen übrigen Flügen nicht später als vier Stunden

nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt. In diesen Fällen kann vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichszahlungen um 50 Prozent gekürzt werden. Das AG Rüsselsheim hat im Urt. v. 03.04.2014 (3 C 4193/13-38) zutreffend entschieden, dass eine Kürzung bei Verspätungen nicht in Betracht kommt, da Art. 8 Abs. 1 lit. b), lit. c) auf eine anderweitige Beförderung durch einen Alternativflug abstellt. Wird der Fluggast aber nicht mit einen Alternativflug, sondern mit dem ursprünglich geplanten, verspätet durchgeführten Flug zum Endziel befördert, kommt eine Kürzung nicht in Betracht ( AG Köln, Urt. v. 26.06.2013 – 125 C 390/12).

11         Diese Kürzung ist aber nicht von Amts wegen zu beachten; vielmehr muss wegen der Formulierung „kann das ausführende Luftfahrtunternehmen“ die Kürzungsmöglichkeit ausdrücklich geltend gemacht werden. Klagt ein Fluggast nach einer die Kürzung rechtfertigenden Alternativbeförderung den vollen Anspruch ein, muss das angerufene Gericht bei fehlender Berufung des Luftfahrtunternehmens auf die Kürzungsmöglichkeit den vollen Anspruch zuerkennen. Gleiches gilt bei Erlass eines Versäumnisurteils.

12         Nach dem Wortlaut des Art. 7 VO kommt eine Kürzung nur bei Annullierungen oder Nichtbeförderungen in Betracht. Nachdem der EUGH im Urteil vom 19.11.2009 (verbundene Rs. C-402/07 und C-432/07 – Sturgeon ./. Condor und Böck ./. Air France, Slg. 2009 I-10923 = RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 = EuZW 2009, 890) entschieden hat, dass den Fluggästen auch bei großen Verspätungen ein Anspruch auf eine Ausgleichsleistungen zusteht, ist umstritten, ob damit Luftfahrtunternehmen auch bei großer Verspätung die Möglichkeit haben, bei Flügen mit einer Entfernung von mehr als 3.500 km die Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO um 50 % zu kürzen, wenn die Verspätung der Ankunft unter vier Stunden bleibt (bei allen übrigen Flügen ist die Kürzungsmöglichkeit aber nicht gegeben).

13     Unmittelbar ist diese Vorschrift nicht anwendbar, weil Art. 7 Abs. 2 VO auf eine „anderweitige Beförderung i.S. des Art. 8 zu ihrem Endziel mit einen Alternativflug“ abstellt und damit erkennbar eine Nichtbeförderung oder Annullierung voraussetzt (AG Köln, Urt. v. 26.06.2013 – 125 C 390/12). Bei einer verspätet durchgeführten Beförderung ist der Fluggast aber befördert und der Flug nicht annulliert worden.

14     Ob eine analoge Anwendung der Berechtigung zur Kürzung der Ausgleichsleistung nach Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO möglich ist, ist höchstrichterlich noch ungeklärt.

15     Das AG Rüsselsheim hat im Urt. v. 03.04.2014 – 3 C 4193/13-38 die analoge Anwendung abgelehnt und damit die Möglichkeit der Kürzung verneint. Dieser Ansicht kann im Licht des Sturgeon-Urteils (→ Rn. 12) nicht gefolgt werden. Der EuGH hat dort unter Rn. 63 ausgeführt: „Es ist darauf hinzuweisen, dass die einem Fluggast nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 geschuldete Ausgleichszahlung um 50 % gekürzt werden kann, wenn die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung vorliegen. Auch wenn in dieser letztgenannten Vorschrift nur auf den Fall der anderweitigen Beförderung des Fluggastes Bezug genommen wird, ist festzustellen, dass die Kürzung der vorgesehenen Ausgleichszahlung allein von der Verspätung abhängig ist, der die Fluggäste ausgesetzt sind, so dass einer entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift auf Ausgleichszahlungen an Fluggäste verspäteter Flüge nichts entgegensteht. Daraus folgt, dass die Ausgleichszahlung, die dem Fluggast eines verspäteten Fluges geschuldet wird, der sein Endziel nicht früher als drei Stunden nach der ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht, nach Art. 7 Abs. 2 lit. c) der Verordnung Nr. 261/2004 um 50 % gekürzt werden kann, wenn die Verspätung bei einem Flug, der nicht Art. 7 Abs. 2 lit. a) und b) unterliegt, unter vier Stunden bleibt.“

Artikel 6 – Verspätung

(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug

  1. a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger um zwei Stunden oder mehr oder 
  2. b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km um drei Stunden oder mehr oder 
  3. c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen um vier Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, 

so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen 

 i) die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten,

ii) wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und,

iii) wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) angeboten.

(2) Auf jeden Fall müssen die Unterstützungsleistungen innerhalb der vorstehend für die jeweilige Entfernungskategorie vorgesehenen Fristen angeboten werden.

I. Adressat der Norm

1    Die Verpflichtungen aus Art. 6 VO treffen das ausführende Luftfahrtunternehmen. Nach der Definition in Art. 2 lit. b VO wird als ausführendes Luftfahrtunternehmen die Fluggesellschaft bezeichnet, die im Rahmen eines Vertrages mit dem Fluggast oder im Namen einer anderen juristischen oder natürlichen Person, die mit dem Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt.

2     Diese Formulierung wirft in der Praxis einige Fragen auf, die bislang nicht höchstrichterlich geklärt sind, wenn ein Flug
als Code-Share-Flug von Partner-Airlines von einem Tochterunternehmen oder von einem beauftragten Luftfahrtunternehmen als Subcharter ausgeführt wird.

3    Keine Schwierigkeit bereitet die erste Fallkonstellation. Wird ein Flugschein von einem Luftfahrtunternehmen zur Beförderung durch ein anderes Luftfahrtunternehmen unter der Flugnummer der den Vertrag schließenden Fluggesellschaft verkauft, erfolgt in der Praxis regelmäßig der Hinweis auf den sog. operating carrier („operated by XY“). Luftfahrtunternehmen sind nach Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/2005 (ABl. EU 2005  L 344,15) verpflichtet, diesen Hinweis auf die Durchführung des Fluges durch einen Code-Share-Partner zu erteilen (siehe dazu Art. 15 VO). Damit ist für den Fluggast bereits bei Erwerb des Flugscheins erkennbar, wer ausführendes Luftfahrtunternehmen ist. In diesen Fällen kann das vertragliche Luftfahrtunternehmen nicht in Anspruch genommen werden. Bei Code-Share-Flügen kann nur das Unternehmen, das die Beförderung tatsächlich durchführt oder durchzuführen beabsichtigt, in Anspruch genommen werden, soweit die Voraussetzungen vorliegen. Dies führt wegen Art. 3 Abs. 1 VO (Anwendungsbereich) dazu, dass der in Deutschland startende Hinflug unter dem Schutz der Verordnung steht, der Rückflug hingegen nicht, wenn Ziel des Hinfluges und Startflughafen des Rückfluges außerhalb eines Mitgliedstaates liegen und der Code-Share-Partner seinen Sitz außerhalb der Europäischen Union hat. Wird entgegen der Hinweispflicht aus Art. 11 VO Nr. 2111/2005 das Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Code-sharing-Fluges den Flug auf dem betreffenden Streckenabschnitt tatsächlich ausführt, in den Buchungsunterlagen nicht benannt, ist als ausführendes Luftfahrtunternehmen das Luftfahrtunternehmen anzusehen, das in den Buchungsunterlagen angegeben ist (so auch BGHS Wien, Urt. v. 23.04.2014 – 11 C 4143k-16, RRa 2014, 192).

4     Wird der Flug von einem Tochterunternehmen, das für den Laien als solches (auch optisch) nicht erkennbar ist (z.B. KLM Cityhopper, Lufthansa CityLine oder Air France Regional) unter der Flugnummer des Mutterunternehmens durchgeführt, so kann nach Ansicht des AG Bremen (Urt. v. 10.10. 2011 – 16 C 89/11, RRa 2012, 22) der Anspruch gegen das Mutterunternehmen geltend gemacht werden. Das gilt insbesondere dann, wenn das Tochterunternehmen den Flug zwar durchführt, aber unter einer Flugnummer des Mutterunternehmens (AG Bremen 18.1.2013 – 4 C 516/11, RRa 2013, 191 = BeckRS 2013, 13955). Das AG Erding (19.12.2012 − 3 C 893/12) hat entschieden, dass „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ das Mutterunternehmen ist, soweit es auf die Durchführung eines Fluges der 100%-igen Tochtergesellschaft faktisch Einfluss nimmt oder nehmen kann. Dies gilt nach Ansicht des AG Hannover (6.12.2012 – 452 C 5686/12, RRa 2014, 56 = juris) jedenfalls dann, wenn bei einer Umsteigeverbindung (z.B. Hannover – Paris – Havanna) auf dem Flugschein als „Luftfahrtunternehmen“ für beide Flüge nur das Mutterunternehmen angegeben wird. Hat das Tochterunternehmen den streitgegenständlichen Flug ausgeführt und das in Anspruch genommene Mutterunternehmen stellt dies in vorgerichtlichen Verhandlungen mit dem Fluggast nicht klar, kann es sich im nachfolgenden Prozess nicht auf eine fehlende Passivlegitimation berufen. Dies stellt Rechtsmissbrauch dar.

5    Schwieriger wird es, wenn die verbundenen Unternehmen unter verschiedenen Namen operieren, wie beispielsweise Lufthansa und Germanwings und Lufthansa CityLine, Iberia und Air Nostrum oder Air France und HOP!. Hier muss sich für den Fluggast auch dann, wenn im Flugschein die Flugnummer des beherrschenden Mutterunternehmens angegeben wird, der Eindruck aufdrängen, dass ein anderes Luftfahrtunternehmen den Flug tatsächlich durchgeführt hat.

6     Entscheidet sich ein Luftfahrtunternehmen, unter seiner Flugnummer kurzerhand das Fluggerät eines anderen Unternehmens für den Flug einzusetzen, bleibt das Luftfahrtunternehmen, unter dessen Flugnummer der Flug geplant und ausgeführt wurde, „ausführendes“ Luftfahrtunternehmen iSd Artikel 2 lit. b VO. Die Eigentumsverhältnisse an dem zum Einsatz gekommenen Flugzeug spielen bei der Beurteilung, wer ausführendes Luftfahrtunternehmen ist, keine Rolle (AG Frankfurt a.M. 19.4.2013 – 32 C 1916-18, RRa 2014, 104 Ls).

II. Die Betreuungs- und Unterstützungsleistungen

7    Die Verordnung hält nach ihrem Wortlaut für die Fluggäste verspäteter Flüge lediglich drei Rechtsfolgen parat:

  • Betreuungsleistungen gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 VO (Mahlzeiten, Erfrischungen, Kommunikationsmöglichkeiten),
  • Unterstützungsleistungen gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. b und c VO (Hotelunterbringung und Transport dorthin),
  • Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. a und b VO (Flugpreiserstattung und anderweitige Beförderung).

Zur Zahlung einer Ausgleichsleistung ist ein Luftfahrtunternehmen nach dem Wortlaut der Verordnung dagegen nicht verpflichtet. Siehe dazu aber unten → Rn. 13 ff.

8    Das Entstehen des Anspruchs und die Art der Unterstützungsleistung hängen von dem jeweiligen Verspätungssachverhalt ab. Je kürzer die Strecke des geplanten Fluges ist, desto früher greifen die Rechte für den Fluggast ein. Je gravierender die Verspätung ausfällt, desto mehr muss das Luftfahrtunternehmen an Betreuungsleistungen erbringen. Die Einzelheiten ergeben sich unmittelbar aus dem Text der Verordnung. Die Methode der Entfernungsberechnung wird in Art. 6 VO zwar nicht erwähnt, allerdings werden in der Praxis entsprechend Art. 7 Abs. 4 VO die Entfernungen nach der Methode der Großkreisentfernung ermittelt. Das ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf einer Kugeloberfläche (die sogenannte Orthodrome). Bei Flügen mit geplanten Zwischenlandungen (in der Praxis meist als „Direktflüge“ bezeichnet) sind die Entfernungen der Teilstrecken (z.B. von Hamburg nach München und die von München nach Barcelona) zu addieren (AG Frankfurt a.M. 11.10.2013 – 29 C 1952/13-81, RRa 2014, 150 = BeckRS 2014, 12199; ebenso: HG Wien, 7.8.2015 – 60 R 48/15m, RRa 2016, 50; AG Düsseldorf 28.9.2015 – 45 C 21/15, NJW-RR 2016, 249; BGHS 21.3.2016 – 16 C 296/15v); BG Schwechat 27.1.2016 – 16 C 508/15z; aA früher: Schmid ZLW 2006, 81 ff.; aufgegeben). Bei einer ungeplanten Zwischenlandung ist dagegen nur auf die Entfernung zwischen dem Abflugort und dem Endziel zugrunde zu legen. Das LG Landshut vertritt dagegen die Ansicht, dass auch bei Umsteigeverbindungen nur die Entfernung zwischen Abgangsflughafen und dem Endziel maßgeblich sind (16.12.2015 – 13 S 2291/15, RRa 2016, 133 = BeckRS 2016, 41186); die Strecken zum Zwischenlandort und von dort zum Endziel können daher nicht addiert werden (ebenso: AG Köln 3.12.2013 – 113 C 428/13, juris = NRWE; AG Hamburg 3.6.2015 – 20 C 28/15; AG Nürtingen 28.5.2015 – 12 C 394/15; AG Wedding 14.9.2015 – 22a C193/15).

8a    Einen Rechner zur Berechnung von Strecken auf dem Großkreis findet man im Internet unter http://gc.kls2.com. 

9   Nach Art. 9 VO haben die Fluggäste im Falle von Verspätungen Anspruch auf unentgeltliche Bereitstellung von Mahlzeiten und Erfrischungen sowie gegebenenfalls Anspruch auf Hotelunterbringung (einschließlich Transfer zum Hotel), soweit sich die Verspätung auf eine oder mehrere Nächte erstreckt. Des Weiteren ist den Fluggästen die Möglichkeit einzuräumen, unentgeltlich zwei Telefongespräche zu führen oder zwei Telexe, Telefaxe oder E-Mails zu versenden. Der eindeutige Wortlaut verpflichtet die Luftfahrtunternehmen, die vorgenannten Leistungen ihren Fluggästen unentgeltlich bereitzustellen, ohne dass diese mit eigenen Mitteln in Vorlage treten müssen. Diese Vorschrift dient demzufolge der Verhinderung des Eintritts von materiellen Schäden bei dem Fluggast.

10     Nach Art. 8 VO haben Fluggäste das Wahlrecht zwischen

  • Erstattung der Flugscheinkosten innerhalb einer Frist von sieben Tagen,
  • einem Rückflug zum ersten Abgangsort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
  • anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Bedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
  • anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Bedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.

11    Soweit das Luftfahrtunternehmen im Falle einer Verspätung keine Mahlzeiten, Erfrischungen oder Übernachtungsmöglichkeit bereitstellt, wird der Fluggast diese Betreuungsleistungen auf eigene Kosten zu erwerben haben. Die Fluggesellschaft muss dann die notwendigen Kosten zur Beschaffung der verweigerten Betreuungsleistungen dem Fluggast ersetzen, auch dann, wenn der Fluggast die Betreuungsleistungen nicht unmittelbar im maßgeblichen Zeitpunkt von der Fluggesellschaft gefordert hat (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodriguez ./. Air France, RRa 2012, 282 = NJW 2011, 3776 = EuZW 2011, 916 = TranspR 2012, 73). Eine Anrechnung von Ausgleichszahlungen auf Kosten, die dem Fluggast infolge unterlassener Betreuungsleistungen entstanden sind, ist nicht möglich (EuGH, a.a.O.).

12    Zur Erbringung der Betreuungs- und Unterstützungsleistungen ist das Luftfahrtunternehmen verpflichtet, wenn absehbar ist, dass sich der Abflug je nach Flugentfernung um zwei Stunden oder mehr verspätet. Hierbei stellt sich die Frage, welcher Zeitpunkt als Abflug im Sinne des Art. 6 Abs. 1 VO in Erwägung zu ziehen ist. Auch hier sind wieder verschiedene Zeitpunkte denkbar. Im Einklang mit dem Zeitpunkt des Abfluges aus dem Montrealer Übereinkommen könnte er in dem Zeitpunkt liegen, in dem das Flugzeug „Off blocks“ geht, d.h. wenn an der Maschine die Bremsklötze beseitigt werden und der Rollvorgang beginnen kann. Andererseits kann von einem „Abflug“ aber auch erst dann ausgegangen werden, wenn das Flugzeug tatsächlich abhebt und seinen Flug in Richtung des vorgesehenen Ziels aufnimmt. In einem Rechtsstreit kommen Unstimmigkeiten immer dann auf, wenn das Flugzeug vom Flugsteig zurückgeschoben (Push back) wurde, in Richtung Startbahn rollte, den Rollvorgang dann aber wegen eines technischen Problems vor dem Erreichen der Startbahn beendet oder den begonnenen Startlauf abgebrochen hat und zu einer Parkposition zurückrollte, an der die Passagiere das Flugzeug dann wieder verlassen mussten. Luftfahrtunternehmen haben sich in vielen Fällen darauf berufen, dass der „Start pünktlich“ gewesen sei, da das Fluggerät wie geplant Off blocks gegangen sei, und Ansprüche wegen Verspätung daher nicht bestünden. Diese Frage hatte besondere praktische Relevanz, als die Verspätung des Abfluges noch Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf die Ausgleichszahlung gewesen ist (siehe dazu unten unter IV). Allerdings haben die Gerichte in diesen Fällen zu Gunsten der Passagiere entschieden, dass der Abflug erst dann erfolgt sei, wenn das Flugzeug tatsächlich mit allen RädeRn.den Boden verlassen habe (AG Rüsselsheim – 21.1.2011 − 3 C 1392/10-31, RRa 2011, 92 = BeckRS 2011, 08690; so auch LG Frankfurt a.M. 23.9.2010 – 2-24 S 28/10, RRa 2010, 273 = BeckRS 2011, 00384). Damit ist klargestellt, dass Betreuungsleistungen auch dann erbracht werden müssen, wenn sich ein abgefertigtes Flugzeug zur Startbahn begeben hat und der Start abgebrochen werden musste. Entgegen der Auffassung der Fluggesellschaften liegt hier nicht ein pünktlicher Start, sondern eine Abflugverspätung vor, so dass − wenn die in Art. 6 Abs. 1 VO genannten zeitlichen Grenzen erreicht sind − Betreuungsleistungen bzw. Unterstützungsleistungen angeboten werden müssen.

III. Ausgleichsleistung auch bei großer Verspätung

13    Nach dem Wortlaut des Art. 6 VO hat der Fluggast keine Ansprüche auf Zahlung einer Ausgleichsleistung. Da sich bei einigen Luftfahrtunternehmen Fälle großer Verspätungen häuften und teilweise das Ausmaß von bis zu 50 Stunden und mehr annahmen, stellte sich die Frage, ob eine Verspätung zu irgendeinem Zeitpunkt in eine faktische Annullierung umschlägt, auch wenn der Flug noch nachgeholt werden konnte. Diese Frage war Gegenstand des Rechtsstreits Sturgeon ./. Condor, der sich – zusammen mit dem zeitgleich bei einem österreichischen Gericht anhängigen Rechtsstreit Böck und Lepuschitz ./. Air France – zu einer Leitentscheidung des EuGH entwickelte.

14     Die Chronologie dieses Rechtsstreits stellt sich wie folgt dar: Die Kläger flogen im Jahre 2005 mit einer mehr als eintägigen Verspätung in Toronto ab und kamen entsprechend verspätet in Frankfurt a.M. an. Sie begehrten von dem beklagten Luftfahrtunternehmen u. a. eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600 EUR pro Person. Zur Begründung führten die Kläger an, die große Verspätung sei faktisch als Annullierung zu betrachten, so dass Ansprüche aus Art. 5 Abs. 1 lit. c iVm Art. 7 Abs. 1 lit. c VO bestünden. Das angerufene AG Rüsselsheim hat die Klage mit Urteil vom 17.3.2006 – 3 C 109/06-35 abgewiesen; das LG Darmstadt hat die Entscheidung bestätigt (12.7.2006 – 21 S 82/06, RRa 2006, 277 = BeckRS 2010, 06369) und die Revision zugelassen.

15     Auf Vorlage des BGH (Beschl 17.7.2007 − X ZR 95/06, RRa 2007, 233 = NJW 2007, 3437 = EuZW 2007, 709) ) und des HG Wien in einem gleich gelagerten Fall (Beschl. v. 26.06.2007 − 60 R 114/06d) hat der EuGH in seinem bahnbrechenden Urteil vom 19.11.2009 (verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 − Böck u.a. ./. Air France, Slg 2009 I-10923 = RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 = ZLW 2010, 75 m. Anm. Gogl) entschieden, dass – obwohl der Wortlaut der Verordnung das nicht vorsieht – Fluggästen in analoger Anwendung des Art. 7 Abs. 1 VO auch bei großer Verspätung Ausgleichszahlungen zustehen, sofern sie einen Zeitverlust von mindestens drei Stunden erleiden. Dem von der Generalanwältin gerügten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz begegnete der EuGH dadurch, dass er die Rechtsfolgen einer Annullierung für den Tatbestand einer großen Verspätung in richterlicher Rechtsfortbildung entsprechend anwendet. Die „zu extensive Rechtsfortbildung des EuGH“ ist teils auf heftige Kritik gestoßen (siehe für viele Lienhard, GPR 2003/2004, 259 ff.; Arnold/Mendes de Leon, Air & Space Law 2010, 91, 99; Balfour, Air & Space Law 2010, 71 ff.; Müller-Rostin, TranspR 2010, 93 ff.; ders., euvr 2013, 1, 7; Hobe/Müller-Rostin/Recker, ZLW 2010, 149, 155 ff. m.w.N.; Staudinger, RRa, 2010, 10 ff.; ders., RRa 2012, 261; Teichmann/Menke, RRa 2013, 106; AG Köln, Beschl. v. 04.10.2010, RRa 2011, 42; ausf. Nachw. bei Hausmann S. 301 ff.). Beanstandet wird zum einen die (behauptete) Kollision des Art. 6 VO in der Lesart des EuGH mit dem (als Völkerrecht höherrangigen) Montrealer Übereinkommen. Zum anderen wird kritisiert, dass der EuGH eine Ausgleichsleistung auch bei großen Verspätungen für erforderlich angesehen hat (Überschreitung der Jurisdiktionsbefugnis), obwohl sich aus der Entstehungsgeschichte der Verordnung (siehe KOM 82001] 784 final vom 21.12.2001, S. 8) ergäbe, dass der europäische Gesetzgeber „mit Bedacht“ von einer Gewährung von Ausgleichsleistungen bei Verspätungen abgesehen hat (so u.a. Müller-Rostin, TranspR 2013, 329, (331)). Dabei würde aber übersehen, dass auch eine bedachte Maßnahme einen Verstoß gegen den europarechtlich hochrangigen Gleichbehandlungsgrundsatz darstellen kann. Von einem solchen Verstoß seien sowohl die Generalanwaltschaft als auch der EuGH ausgegangen.

16    Diese Entscheidung hat inzwischen aber in Literatur und Rechtsprechung überwiegend Akzeptanz gefunden, z.B. durch das LG Köln, Beschl. v. 23.05.2014 – 11 S 374/13. Das Gericht hat entschieden, dass der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 VO generell – und damit auch in dem Anwendungsfall einer Verspätung nach Art. 6 VO – nicht als Schadensersatzanspruch im Sinne der Art. 19, 29 MÜ anzusehen sei. Darüber hinaus hat es festgestellt, dass eine richterliche Rechtsfortbildung nicht auf den Fall der Lückenausfüllung wegen planwidriger Unvollständigkeit beschränkt sein könne; vielmehr dürfe ein Gericht ein Gesetz im Rahmen des Gesetzeszwecks und der Wertentscheidung des Grundgesetzes auch ohne konkreten Nachweis einer Lücke ausdifferenzieren und ergänzen, wenn die Rechtsordnung Wertentscheidungen, sei es auch nur in unvollkommener Form, für eine Rechtsfortbildung in einem bestimmten Sinne enthält.

16a    Staudinger (RRa 2010, 10, 11) weist zutreffend darauf hin, dass dem Urteil des EuGH über das Ausgangsverfahren hinausgehende (faktische) Bindungswirkung für alle Spruchkörper des gesamten Binnenmarktes zukommt (erga-omnes-Wirkung) und die Missachtung durch ein nationales Gericht einen Verstoß gegen Europa- und Verfassungsrecht darstellte (ihm folgend: Hausmann S. 296; so auch LG Stuttgart 20.4.2011 – 13 S 227/10, RRa 2011, 234; 7.11.2012 – 13 S 95/12, RRa 2013,131; LG Düsseldorf 13.12.2013 – 22 S 234/12, RRa 2014, 208 = BeckRS 2014, 17370 = juris).

17    Der sog. Sturgeon-Entscheidung folgten weitere Vorabentscheidungsersuchen zur Frage der großen Verspätung. So bat der High Court of Justice of England and Wales, Queen´s Bench Division, mit einem Vorabentscheidungsersuchen den EuGH um Beantwortung der Frage, ob die Art. 5 bis 7 VO dahin auszulegen seien, dass die in Art. 7 VO vorgesehenen Ausgleichsleistungen solchen Fluggästen gezahlt werden müssten, deren Flüge verspätet i.S.v. Art. 6 VO sind (EuGH, Rs. C-629/10 − TUI u.a. ./. Civil Aviation Authority). Das vorlegende Gericht warf erneut die Frage der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf und stellte ein weiteres Mal die Vereinbarkeit der Art. 5 ff. VO mit dem Montrealer Übereinkommen in Zweifel. Auch das AG Köln (Beschl. v. 04.10. 2010 – 142 C 535/08, RRa 2011, 42) legte dem EuGH Fragen zum Verhältnis zwischen der Verordnung und dem Montrealer Übereinkommen vor und bat das Gericht zu klären, ob Art. 7 VO einen nicht-kompensatorischen Schadensersatzanspruch i.S.v. Art. 29 S. 2 MÜ darstelle und in welchem Verhältnis der Ausgleichsanspruch in diesem Fall zum Anspruch bei Verspätungen aus Art. 19 MÜ unter Berücksichtigung des Ausschlusses nach Art. 29 MÜ stehe.

18    Der EuGH hat im Urteil vom 23.10.2012 (verb. Rs. C‑581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C‑629/10 – TUI Travel u.a. ./. CAA, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671 = EuZW 2012, 906; krit. dazu Staudinger, RRa 2012, 261) nach Prüfung der Vorlagefragen erneut festgestellt, dass die Art. 5 bis 7 VO dahin auszulegen sind, „dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch nach dieser Verordnung zusteht, wenn sie aufgrund dieser Flüge einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der vom Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen.“ Eine solche Verspätung begründet nach Ansicht des EuGH jedoch nur dann keinen Ausgleichsanspruch der Fluggäste, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, also auf Umstände, die von dem Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen gewesen sind (Art. 5 Abs. 3 VO).

19    Erst diese Entscheidung ließ die Kritik der meisten Luftfahrtunternehmen an der Sturgeon-Entscheidung weitgehend verstummen; nunmehr werden die Ansprüche auf Ausgleichszahlung nach einer großen Verspätungen überwiegend vorgerichtlich, von manchen Luftfahrtunternehmen erst im Lauf des gerichtlichen Verfahrens anerkannt. Lediglich eine Abteilung des AG Nürtingen hielt an seiner bisherigen Praxis fest und weist Klagen auf Ausgleichszahlung, die auf große Verspätung gestützt werden, ab (vgl. für viele 27.9.2010 – 11 C 1219/10; 5.7.2013 – 46 C 520/13, RRa 2013, 240 = BeckRS 2013, 11350). Das LG Stuttgart ändert diese Urteile mit Hinweis auf die erga-omnes-Wirkung der Urteile des EuGH aber regelmäßig ab (z.B. 20.4.2011 – 13 S 227/10, RRa 2011, 234; 07.11.2012 – 13 S 95/12, RRa 2013, 131). Kritik an der EuGH-Entscheidung wird aber auch von Stimmen in der Literatur (Staudinger RRa 2012, 261; Müller-Rostin euvr 2013, 138 (144); Hobe/Müller-Rostin/Recker, ZLW 2010, 149 (156); Teichmann/Menk, RRa 2013, 106 (107); s. auch das Vorabentscheidungsersuchen der Rechtsbank Breda, RRa 2011, 233) im Hinblick darauf geäußert, dass sowohl die Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO als auch die Schadensersatzleistung nach Art. 19 MÜ an eine verspätete Ankunft am Zielort anknüpften und auf der Rechtsfolgenseite jeweils Geldleistungen stünden, so dass die Ausschlusswirkung des Art. 29 S. 1 MÜ greife. Doch wird übersehen, dass die Ausgleichsleistung wegen Verspätung nach Art. 7 VO ein Anspruch ist, mit dem allein die Unannehmlichkeit der Wartezeiten (am Abflugort oder bei einer Zwischenlandung) und vor allem die längere Reisezeit (immaterieller Schaden) ausgeglichen werden soll, während Art. 19 MÜ einen konkret entstandenen materiellen Schaden ausgleichen soll, der dem Fluggast durch die verspätete Ankunft am Zielflughafen („Endziel“) entstanden ist. Der EuGH hätte sich viel Kritik ersparen können, hätte er den Anspruch auf eine Ausgleichsleistung nach Art. 6 VO an die große Verspätung beim Abflug am Startflughafen oder einem Ort der Zwischenlandung geknüpft.

 

IV. Die verspätete Ankunft

1. Der Begriff „Verspätung“

20         Die Verordnung definiert den Begriff „Verspätung“ nicht. Der EuGH hat ihn aber in seinem Urteil vom 19.11.2009 (verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck und Lepuschitz ./. Air France, Rn 29 ff., RRa 2009 282 ff.) „anhand seines Kontextes“ definiert: Danach ist ein Flug „verspätet iSd Art. 6, wenn er entsprechend der ursprünglichen Planung durchgeführt wird und sich die tatsächliche Abflugzeit gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert“. Zugleich grenzte er die Verspätung von der Annullierung ab, indem er darauf hinwies, dass die Annullierung im Gegensatz zur Verspätung eines Fluges Folge der Nichtdurchführung eines geplanten Fluges ist (Rn 33). Dann führte er aus: „Wenn Fluggäste mit einem Flug befördert werden, dessen Abflugzeit sich gegenüber der ursprünglich vereinbarten Abflugzeit verzögert, kann der Flug nur dann als ‚annulliert‘ bezeichnet werden, wenn das Luftfahrtunternehmen die Fluggäste mit einem anderen Flug befördert, dessen ursprüngliche Planung von der des ursprünglich geplanten Fluges abweicht“ (Rn 35).

2. Der Abflug

21    Da die Verordnung in Art. 6 VO auf den „Abflug“ eines Fluges abstellt, war lange streitig, ob bei der Bemessung der Verspätung auf die Abflugszeit oder die Ankunftszeit abzustellen ist. In seiner Sturgeon-Entscheidung (oben Rn. 20) hatte der EuGH noch ausgeführt: „Zudem ergibt sich aus Art. 6 VO, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber einen Begriff der ‚Verspätung eines Fluges‘ gewählt hat , der nur auf die planmäßige Abflugzeit abstellt und damit impliziert, dass nach der Abflugzeit die anderen den Flug betreffenden Umstände unverändert bleiben müssen“ (Rn. 31). Das LG Frankfurt (Urt. v. 29.09.2011 – 2-24 S 56/11, RRa 2012, 20 = BeckRS, 05645) hatte daraufhin entschieden, dass zur Entstehung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung bei großen Verspätungen auch eine Abflugverspätung in den Grenzen des Art. 6 Abs. 1 VO vorliegen müsse (so zuvor schon Staudinger, RRa 2010, 10 ff.; ihm folgend: Hausmann, a.a.O., S. 309 ff.). Damit wurden all diejenigen Fluggäste aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten herausgenommen, deren Flüge nach pünktlichem Start aber unplanmäßiger Verlängerung einer Zwischenlandung oder einer unvorhergesehenen Zwischenlandung verspätet das Endziel erreichten. Diese Rechtsprechung führte teilweise zu kuriosen Ergebnissen: Bei zusammengesetzten Flügen, deren Start pünktlich erfolgte und bei denen sich die Zwischenlandung so verlängerte, dass das Endziel mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreicht wurde, hat der Fluggast, der am Ausgangspunkt des Fluges eingestiegen ist, keine Ansprüche, während der Fluggast, der erst bei der Zwischenlandung zugestiegen ist, Ansprüche auf Ausgleichszahlung geltend machen kann.

3. Die Ankunft

21a       Der EuGH hat aber in der Entscheidung Folkerts ./. Air France (Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-11/11, RRa 2013, 78 = NJW 2013, 1291 = EuZW 2013, 434) klargestellt, dass zur Entstehung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung nicht auf den Zeitpunkt des Abfluges, sondern allein auf den Zeitpunkt der Ankunft abzustellen ist. Seither steht außer Zweifel, dass Fluggäste auch dann Ansprüche auf Ausgleichszahlung haben, wenn der Flug zwar pünktlich startet, infolge einer unplanmäßigen Verlängerung der Flugzeit das Endziel aber um mindestens drei Stunden verspätet erreicht wird.

22    Lange Zeit  unklar war die Rechtslage allerdings bei zusammengesetzten Flügen, bei denen der Anschlussflug (anders als in der Rechtssache Folkerts ./. Air France; dort fand der Umsteigeaufenthalt in Paris statt) auf einem Flughafen außerhalb der Europäischen Union stattfindet. Würde man auf diese Fälle strikt die Rechtsprechung des BGH anwenden, wonach bei zusammengesetzten Flügen die Voraussetzungen für das Entstehen der Rechtsfolgen aus der VO für jeden Flug getrennt zu prüfen sind (BGH, Urt. vom 30.04.2009 – Xa ZR 78/08, RRa 2009, 239 = NJW 2009, 2740), käme man zum Ergebnis, dass Ansprüche auf Ausgleichszahlung nicht bestehen, weil der Bundesgerichtshof dort ausgeführt hat, dass der Begriff „Flug“ nicht gleichzusetzen ist mit einer „Flugreise“. Wie Art. 2 lit. h VO zeige, sei auch bei einem einheitlichen Beförderungsvertrag die einzelne Einheit jeweils eine Luftbeförderung, die von einem Luftverkehrsunternehmen durchgeführt wird. Bei Anwendung vorgenannter Grundsätze muss man zum Ergebnis kommen, dass trotz einer relevanten Ankunftsverspätung (ab drei Stunden) Ansprüche auf Ausgleichszahlung nicht bestehen, da der Anwendungsbereich der Verordnung nicht eröffnet erscheint.

23    Den Grundsatz, dass ein zusammengesetzter Flug nicht als „einziger Flug“ anzusehen ist, hat der BGH in seinem Urteil vom 07.05.2013 – X ZR 127/11 (RRa 2013, 237 =  NJW-RR 2013, 1065 = TranspR 2013, 451) weiterhin aufrechterhalten. Er hat betont, dass der Zubringerflug im Ausgangspunkt von dem Anschlussflug zu unterscheiden sei. Allerdings ändere diese Selbständigkeit der Flüge nichts daran, dass nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 VO für die Beurteilung der Frage, ob die Verspätung den für eine Ausgleichszahlung vorausgesetzten Umfang erreicht habe und in welcher Höhe hierfür ein Ausgleich zu erbringen sei, nicht das Ziel der einzelnen Flüge, sondern der letzte Zielort („Endziel“) maßgeblich sei, an dem der Fluggast infolge der Verspätung zu einer späteren als der planmäßigen Ankunftszeit ankommt. Entscheidend sei hierbei, dass eine Annullierung oder Verspätung des Zubringerfluges die Verspätung am Endziel verursacht. Fluggäste haben demzufolge auch dann Ansprüche auf Ausgleichszahlung, wenn sich die Ankunft des Zubringerfluges weit unterhalb der drei Stunden-Grenze verspätet und aus diesem Grund der Anschlussflug verpasst und das Endziel später als drei Stunden erreicht wird.

24   In dem vom BGH zu beurteilenden Fall lag der Umsteigeflughafen im Gebiet der Europäischen Union. Fraglich blieb bis dahin, welchen Einfluss es auf die Beurteilung hat, wenn der Fluggast auf einem Flughafen außerhalb des Gebietes der Europäischen Union umsteigt. Das LG Frankfurt a.M. (26.7.2013 – 2- 24 S 147/12, RRa, 2013, 283 = BeckRS 2013, 22007) , dass auch dann Ansprüche auf Ausgleichszahlung bestehen, wenn sowohl der letzte Zielort des Fluges als auch der Umsteigeflughafen außerhalb der Europäischen Union liegen. Maßgeblich für die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung der Ausgleichsleistung sei allein der Umstand, dass der Zubringerflug, der in Frankfurt startete, geringfügig verspätet war und aus diesem Grund der Anschlussflug nicht erreicht werden konnte. Auf den Ort, an dem die Flüge gewechselt werden oder auf das Luftfahrtunternehmen, das den verpassten Anschlussflug durchführen sollte, komme es hingegen nicht an. Ebenso hat das HG Wien für einen Flug von Wien über Dubai nach Singapur entschieden (Urt. v. 27.10.2015 – 1 R 136/15v, RRa 2016, 48). Dem ist zuzustimmen.

4. Der maßgebliche Zeitpunkt der „Ankunft“

25    Noch nicht gerichtlich geklärt ist die Frage, was als maßgeblicher Zeitpunkt der „Ankunft“ gilt. Dies ist von besonderer Relevanz bei Verspätungen von ungefähr drei Stunden (Entstehung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung dem Grunde nach) bzw. ungefähr vier Stunden (Möglichkeit der Kürzung der Ausgleichszahlung bei Flügen mit einer Entfernung von über 3.500 km). Die Verordnung definiert die „Ankunftszeit“ nicht.

26     Die Beendigung eines Fluges erfolgt aus Sicht eines Fluggastes in mehreren Phasen, von denen jede für die Bestimmung der „Ankunft“ maßgeblich sein könnte:

  • der Zeitpunkt des Aufsetzens auf der Rollbahn (Touch down),
  • das Setzen der Parkbremse nach Erreichen der Parkposition,
  • das Legen der Bremsklötze (On blocks),
  • das Öffnen der Türen nach Heranfahren von Treppen oder Fluggastbrücken oder
  • die Erlaubnis zum Verlassen des Flugzeuges.

Bei großen Verkehrsflughäfen liegen zwischen dem ersten in Betracht kommenden Zeitpunkt (touch down) und dem Öffnen der Kabinentüren unter Umständen bis zu 30 Minuten, so dass eine exakte Bestimmung der Ankunftszeit im Einzelfall erforderlich sein kann.

27     Die Frage, nach welchen Kriterien die „Zeit der Ankunft“ festzustellen ist, war unter anderem Gegenstand eines Rechtsstreits, der zunächst vor dem BG Salzburg (26.11.2012 – 17 C 861/12y-16, RRa 2013, 154 = juris) geführt wurde. Dieses Gericht hat das beklagte Luftfahrtunternehmen zur Leistung der Ausgleichszahlung verurteilt, da die erste Tür zum Verlassen des Flugzeuges mit einer Verspätung von 182 Minuten geöffnet worden war. Das Luftfahrtunternehmen hat gegen diese Entscheidung Berufung zum LG Salzburg eingelegt mit der Begründung, dass der Touch down, der vorliegend mit einer Verspätung von 178 Minuten erfolgte, als Ankunft des Flugzeuges zu werten sei. Das LG Salzburg als Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 31.07.2013 (53 R 92/13f) das Berufungsverfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, wie der maßgebliche Zeitpunkt der Ankunft zu bestimmen sei. Es wollte vom EuGH insbesondere wissen, ob

  • der Zeitpunkt des Aufsetzens des Flugzeuges auf der Rollbahn
  • der Zeitpunkt, zu dem das Flugzeug seine Parkposition erreicht hat
  • der Zeitpunkt des Öffnen der Flugzeugtür oder
  • ein von den Parteien im Rahmen der Privatautonomie definierter Zeitpunkt maßgeblich für die Beurteilung der Frage der Ankunft des Flugzeuges ist.

28    Zutreffend hat Keiler (RRa 2013, 163, 167) darauf hingewiesen, dass der EuGH in der Entscheidung Rehder ./. Air Baltic (Urt. v. 09.07.2009, Rs. C-204/08, Rn. 40, Slg 2009, I-6073 = RRa 2009, 205 = EuZW 2009, 569 mAnm. Leible) darauf abgestellt hat, dass eine Luftbeförderung mit „der Abfertigung und dem An-Bord-gehen der Fluggäste“ beginnt und „mit dem sicheren Verlassen des Flugzeuges durch die Fluggäste am Ort der Landung zur im Vertrag vereinbarten Zeit“ endet. Folglich ist der Ansicht, dass ein Flug im Sinne der „Ankunft“ beendet ist, wenn die Möglichkeit des Verlassens des Flugzeuges besteht, der Vorzug zu geben. Die anderen Auffassungen führen zu ungerechten Ergebnissen. Wenn sich beispielsweise nach dem Touch down und dem Erreichen der Parkposition die Türen des Flugzeuges infolge technischer Probleme nicht öffnen lassen und die Passagiere vier Stunden warten müssen, bevor Techniker die Blockade beseitigen, stünden ihnen in diesem Fall keine Ansprüche auf Ausgleichszahlungen zu, obwohl der Fall vergleichbar mit der Situation ist, dass das Flugzeug während des Fluges einen technischen Defekt erleidet und zu einer Reparatur zwischenlanden muss. Demzufolge kann nur die tatsächlich vorhandene Möglichkeit, das Flugzeug zu verlassen als Ankunftszeitpunkt zur Beurteilung der Verspätung dienen. Das hat auch der EuGH so entschieden (04.09.2014, Rs. C-452/12 – Germanwings ./. Henning, RRa 2014, 291 = NJW 2015, 221).

28a     Hinsichtlich des für die Ankunftsverspätung maßgeblichen Zeitpunkts der Türöffnung handelt es sich zwar um eine anspruchsbegründende Tatsache, die der Fluggast somit darzulegen und zu beweisen hat (AG Hamburg, Urt. v. 28.10.2014 – 18b C 290/13). Da dieser aber (insbesondere bei Großraumflugzeugen) in der Regel keine eigene Wahrnehmungen machen kann (etwa weil die maßgeblichen Flugzeugtüren für ihn nicht einsehbar waren), reicht es, wenn er die Zeit angibt, zu der er das Flugzeug verlassen konnte. Das Luftfahrtunternehmen muss dann ihm Rahmen der sekundären Darlegungslast vortragen, wann die erste Tür zum Ausstieg (nicht irgendeine Tür!) geöffnet wurde und die tatsächliche Möglichkeit des Ausstiegs bestand. Diese Auffassung hat bislang auch die 7. Zivilkammer des LG Darmstadt in mündlichen Verhandlungen vertreten, konnte das aber bislang – soweit ersichtlich – nicht in einem Urteil neiderlegen, weil das beklagte Luftfahrtunternehmen auf diesen Hinweis hin die Klageforderung stets anerkannt hat. Wenn ein Fluggast eine bestimmte „Ankunftszeit“ behauptet, reicht es nach zutreffender Ansicht des AG Eilenburg (05.07.2016 – 2 C 119/16) nicht aus, dass das Luftfahrtunternehmen vorträgt, wann irgendeine Tür geöffnet worden ist; es muss vielmehr konkret die maßgeblichen Tatsachen hinschlich der tatsächlichen Möglichkeit des Ausstiegs darlegen und beweisen. Das ist auch zumutbar, weil das Luftfahrunternehmen diesen Zeitpunkt dokumentiert oder dokumentieren kann, sei es entweder durch technische Einrichtungen des Flugzeuges oder durch entsprechende Eintragungen im Bordbuch durch den Kommandanten oder den verantwortlichen Flugbegleiter (Purser).

29     Problematisch in der Beurteilung sind Konstellationen, in denen sich der Abflug um mehrere Stunden verspätet und der Fluggast Abstand von der verspäteten Beförderung nimmt, etwa weil er die Reise nicht mehr oder mit einem selbst organisierten Ersatzflug antreten möchte. In einem Rechtsstreit vor dem AG Rüsselsheim (Urt. v. 26.03.2012 − 3 C 2647/11-33), dem eine rund 30-stündige Verspätung des Abfluges zu Grunde lag, wurde die Klage abgewiesen, mit der Begründung, der Fluggast habe von seinem Recht auf Rücktritt vom Beförderungsvertrag nach Art. 6 Abs. 1 lit. b VO i.V.m Art. 8 Abs. 1 lit. a VO Gebrauch gemacht; hieraus erwachse aber lediglich das Recht, die Flugscheinkosten zurückzufordern, nicht jedoch der Anspruch auf die Ausgleichsleistung.

30   Das LG Darmstadt hat mit Urteil vom 19.09.2012 (7 S 81/12) dieses Urteil bestätigt. Voraussetzung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung sei bei großen Verspätungen, dass der Fluggast an Bord gewesen ist und auch tatsächlich verspätet befördert wurde. Das Gericht hat sehr formalistisch auf die Entscheidungen des EuGH und des BGH im Rechtsstreit Sturgeon ./. Condor verwiesen, wonach der Anspruch auf Ausgleichszahlung erst dann entsteht, wenn der Fluggast tatsächlich verspätet auf dem Zielflughafen landet. Für eine Analogie zu den Fällen, in denen aufgrund einer großen Abflugverspätung die Ankunftsverspätung nicht mehr vermieden werden kann, sei kein Raum. Das Gericht hat diese Auffassung im Verfahren 7 S 120/13 erneut vertreten; in der zugelassenen Revision (X ZR 11/14) hat die Beklagte den Anspruch dann aber anerkannt.

31   Anders hat das LG Frankfurt mit Urteil vom 25.04.2013 (2-24 S 213/12, RRa 2015, 78) in einem gleichgelagerten Fall entschieden: Danach entsteht ein Anspruch auf Ausgleichszahlung auch dann, wenn ein Rücktritt vom Beförderungsvertrag in dem Zeitpunkt erklärt wird, in dem die Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden nicht mehr vermeidbar ist. Die Teilnahme an dem verspäteten Flug ist für das Entstehen des Anspruchs auf Ausgleichszahlung keine Voraussetzung (so auch AG Bremen, Urt. v. 22.11.2012 – 9 C 270/12, Rn. 18j uris; AG Hamburg, Urt. v. 26.04.2016 – 12 C 238/15, BeckRS 2016, 08572). Diese Ansicht überzeugt. Denn nach Ansicht des EuGH ist die Ausgleichsleistung eine Kompensation für Zeitverlust und andere Unannehmlichkeiten (Urt. v. 23.10.2013, Rs. C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa, Rn. 51, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671; s. dazu Vorb. Rn. 18). Dabei kann es aber nicht darauf ankommen, ob die Verspätung während der Beförderung auf dem ursprünglich gebuchten Flug oder einem Ersatzflug entstanden ist. Das AG Hamburg (a.a.O., Rn. 13) hat darüber hinaus zutreffend ausgeführt: „Angesichts des mit der Verordnung bezweckten hohen Schutzniveaus (Erwägungsgrund Nr. 1) wäre eine Auslegung, die Fluggäste zwingt, einen derart verspäteten Flug anzutreten, um einen Ausgleich für die erlittenen Unannehmlichkeiten zu erhalten, mit dem Regelwerk der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 nicht vereinbar, zumal eine erhebliche (mindestens dreistündige), schon vor dem Abflug feststehende Verspätung eine Reise widersinnig machen (Wochenendreise) oder den mit ihr verfolgten Zweck gänzlich vereiteln kann (Geschäftstermin).“

32     Wenn sich der Fluggast nach großer Verspätung seines Fluges selbst einen Alternativflug bucht und dadurch das geplante Endziel mit einer Verspätung von unter drei Stunden erreicht, stehen ihm Ansprüche auf Ausgleichszahlungen nicht zu. Das LG Frankfurt (29.11.2012 – 2-24 S 141/12, RRa 2013, 129 = LSK 2013,320324) hat entschieden, dass eine hypothetische Ankunftsverspätung nicht zum Anspruch auf Ausgleichszahlung führt. Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 23.10. 2012 (verb. Rs. C‑581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C-629/10 – TUI ./. CAA, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671) ließe sich unzweifelhaft entnehmen, dass für eine relevante Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden selbstverständlich auch eine tatsächliche Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden vorgelegen haben muss. Eine bloß hypothetische Ankunftsverspätung von mindestens drei Stunden bei Zugrundelegung des in Anspruch genommenen Ersatzfluges sei nicht ausreichend.

Artikel 5 – Annullierung (einschl. Entlastungsgründe)

(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

b) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten und im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, Unter-stützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

 i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder  ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur      anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmä-ßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

(2) Wenn die Fluggäste über die Annullierung unterrichtet werden, erhalten sie Angaben zu einer möglichen anderweitigen Beförderung.

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

(4) Die Beweislast dafür, ob und wann der Fluggast über die Annullierung des Fluges unterrichtet wurde, trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen.

I. Die Annullierung

1. Begriff

1   Aus der Angabe „annulliert“ oder „verspätet“ auf der Anzeigetafel eines Flughafens oder entsprechenden Angaben des Abfertigungspersonals des Luftfahrtunternehmens oder seiner Leute kann nach Ansicht des EuGH (Urt. v. 19.11.2009, verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432/07 – Böck und Lepuschitz ./. Air France, Rn. 32, 34, Slg I-10923 = RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 = EuZW 2009, 890) grundsätzlich nicht auf das Vorliegen einer Verspätung oder einer Annullierung eines Fluges geschlossen werden. Ausschlaggebend ist grundsätzlich auch nicht, dass den Fluggästen ihr Gepäck wieder ausgehändigt wird oder dass sie neue Bordkarten erhalten. Diese Umstände stehen nämlich in keinem Zusammenhang mit den objektiven Merkmalen des Fluges als solchen. Sie können Fehlbeurteilungen oder Faktoren zuzuschreiben sein, die auf dem entsprechenden Flughafen vorherrschen, oder angesichts der Wartezeit und der Notwendigkeit, dass die betroffenen Fluggäste eine Nacht im Hotel verbringen, geboten sein.

2    Unerheblich ist auch, ob die Zusammensetzung der Gruppe von Fluggästen, die ursprünglich gebucht hatte, mit der der später beförderten Gruppe im Wesentlichen übereinstimmt. Denn in dem Maße, in dem sich die Verspätung gegenüber der ursprünglich geplanten Abflugzeit verlängert, kann die Zahl der Fluggäste, die die erste dieser Gruppen bilden, abnehmen, weil einige Fluggäste eine ihnen angebotene Umbuchung auf einen anderen Flug angenommen und andere Fluggäste aus persönlichen Gründen darauf verzichtet haben, den verspäteten Flug zu nehmen. Umgekehrt ist das Luftfahrtunternehmen – soweit für den ursprünglich geplanten Flug Plätze freigeworden sind – durch nichts daran gehindert, vor dem Abheben des Flugzeugs, dessen Flug verspätet ist, zusätzliche Fluggäste aufzunehmen.

3    Für die Frage, ob ein Flug annulliert ist, muss auf die Definition in Art. 2 lit. l VO abgestellt werden. Danach ist von einer Annullierung auszugehen, wenn ein geplanter Flug, für den zumindest ein Platz reserviert war, nicht durchgeführt wird. Daraus folgt, dass annullierte und verspätete Flüge insoweit zwei klar getrennte Kategorien von Flügen darstellen. Ein Flug, der entsprechend der ursprünglichen Planung durchgeführt wird, kann – auch wenn sich die tatsächliche Abflugzeit gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert – nicht als „annullierter Flug“ qualifiziert werden (EuGH, a.a.O., Rn. 32, 34). Wenn sich aber die Abflugzeit des geplanten Fluges gegenüber der ursprünglich geplanten Abflugzeit verzögert und der Flug deshalb auf einen anderen Flug verlegt wird, d. h., wenn die Planung des ursprünglichen Fluges aufgegeben wird und die Fluggäste dieses Fluges zu den Fluggästen eines anderen, ebenfalls geplanten Fluges stoßen, kann grundsätzlich von einer Annullierung ausgegangen werden, und zwar unabhängig von dem Flug, für den die so umgebuchten Fluggäste gebucht hatten (EuGH, a.a.O., Rn. 35 f.).

4    Der EuGH hat aber mit Urteil vom 13.10.2011 in der Rs. C-83/10 − Sousa Rodriguez u.a. ./. Air France (RRa 2011, 282) klargestellt, dass der Begriff „Annullierung“ auch den Fall, dass ein Flugzeug zwar pünktlich startet, aber anschließend zum Ausgangsflughafen zurückkehren muss und die Passagiere auf andere Flüge umgebucht werden, umfasst (so schon LG Hamburg, Urt. v. 25.02.2011 − 332 S 104/10, NJW-RR 2011, 852. Vgl. dazu überdies das Vorabentscheidungsersuchen des LG Frankfurt, Beschl. v. 03.03.2011 − 2-24 S 108/10, RRa 2011, 133). Diese Ansicht ist nun herrschende Meinung (vgl. für viele: LG Darmstadt, Urt. v. 18.04.2012 – 7 S 216/11, RRa 2012, 231 = BeckRS 2012, 11456).

5    Bei der Unterscheidung zwischen „Verspätung“ und „Annullierung“ stellt der BGH (Urt. v. 14.10.2008 − X ZR 15/08, RRa 2009, 43) auf die äußeren Umstände und nicht auf die tatsächliche subjektive Absicht des Luftfahrtunternehmens bzw. der für dieses handelnden Personen ab. Allein die Tatsache, dass sämtliche Fluggäste das Flugzeug wieder verlassen mussten, das Gepäck wieder ausgehändigt wurde, die Flugnummer gewechselt und jene schließlich mit neuen Bordkarten im Flugzeug einer anderen Fluggesellschaft befördert wurden, genüge nicht, um zwingend eine Annullierung anzunehmen. Vgl. die weiteren Nachweise bei Staudinger/Schürmann, NJW 2009, 2788, 2793, Fn. 111 zur Differenzierung nach der „Verzögerungszeit“.

6    Bietet ein Luftfahrtunternehmen seinem Kunden eine Umbuchung an, kommt dem Angebot nach einer Entscheidung des LG Berlin (Urt. v. 20.08.2009 − 57 S 44/07, RRa 2009, 291) eine Indizwirkung für eine vollständige Aufgabe der Flugdurchführung zu (ebenso BGH, Urt. v. 14.10.2008 − X ZR 15/08, RRa 2009, 43, 45). Etwas anderes gilt dann, wenn das Luftfahrtunternehmen lediglich eine Umbuchungsmöglichkeit anbietet, ohne zwingend auf diese zu verweisen. Dass die Anzeigetafel den betreffenden Flug als „cancelled“ ausweise, bedeute zudem nicht die Absicht zur Aufgabe des Fluges. Wird den bereits abgefertigten Passagieren, die das Flugzeug wieder verlassen müssen, das Gepäck wieder ausgehändigt, ohne dass eine Information darüber erfolgt, ob ein anderer Flug stattfindet, ist nach zutreffender Meinung des AG Schöneberg darin eine konkludente Information über die Annullierung des Fluges zu sehen (Urt. v. 21.09.2005 – 5a C 92/05).

7   Das LG Köln (Urt. v. 19.03.2008 − 10 S 391/06, RRa 2008, 141) hat entschieden, dass ein Flug, der nicht durchgeführt wird, auch dann annulliert ist, wenn der Luftfahrtunternehmer den Passagier auf einen anderen Flug umbucht und der Fluggast mit diesem anderen Flug nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abfliegt und sein Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht. Einem Fluggast steht ein (weiterer) Anspruch auf eine Ausgleichsleistung zu, wenn auch der dem Fluggast angebotene und bestätigte Alternativ-Flug annulliert wird (AG Frankfurt a. M., Urt. v. 16.05.2013 – 31 C 3349/12-78, RRa 2014, 47 = BeckRS 2014, 140408).

7a    Die Überbuchung eines Fluges durch einen Reiseveranstalter ist kein „vertretbarer Grund“ i.S.d. Art. 2 lit. j VO (AG Rüsselsheim, Urt. v. 16.07.2014 – 3 C 1447/14-36)

8    Nach AG Bremen (Urt. v. 22.11.2012 – 9 C 0270/12) entsteht der Ausgleichsanspruch auch, wenn der Fluggast auf dem (verspäteten) Flug tatsächlich nicht befördert wurde.

9    Zur rechtlichen Bewertung der Vorverlegung eines Fluges als Annullierung oder Nichtbeförderung siehe Art. 2 Rn. 21a.

II. Die rechtzeitige Information

10    Wird ein Flug kurzfristig annulliert, muss das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast eine Ausgleichsleistung zahlen und Unterstützungs- und Betreuungsleistungen erbringen. Davon ist es nur befreit, wenn der Fluggast über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit informiert wurde. Geschieht dies erst in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der geplanten Abflugzeit, ist ihm ein Angebot zur anderweitigen Beförderung zu unterbreiten, das es ihm ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und sein Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen. Erfolgt die Information dagegen erst weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit, muss das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast mit der Information ein Angebot zur anderweitigen Beförderung unterbreiten, das es ihm ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und sein Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

11    Ein Fluggast ist über die Annullierung eines Fluges nicht rechtzeitig unterrichtet worden, wenn das Luftfahrtunternehmen zwar den Reiseveranstalter bzw. den Reisemittler rechtzeitig unterrichtet hat, letzterer die Information aber nicht oder erst nach Ablauf der in Art. 5 Abs. 1 lit. c VO genannten Zeiträume weitergegeben hat (so zutreffend LG Frankfurt, Urt. v. 01.09.2011 − 2-24 S 92/11, RRa 2012, 93). Das hat das LG Frankfurt, Urt. v. 01.09.2011 − 2-24 S 92/11, RRa 2012, 93) so entschieden mit der zutreffenden Begründung, dass der Reiseveranstalter kein Empfangsvertreter und Wissensvertreter des Fluggastes ist (a.A. ohne nähere Begründung: AG Rüsselsheim, Urt. v. 18.05.206 – 3 C 3043/15-31). Das Luftfahrtunternehmen muss sich den Fehler des Reiseveranstalters zurechnen lassen, kann aber u.U. bei diesem Regress nehmen.

12    Da es sich bei dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 lit. c VO um einen Ausnahmetatbestand zur bestehenden Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsleistung handelt und die Vorschrift daher eng auszulegen ist (EuGH, Urt. v. 22.12.2008, Rs. C-549/07 – Wallentin-Herrmann. /. Alitalia, Rn. 20, Slg 2008 I-11061 = RRa 2009, 35 = NJW 2009, 347 = EuZW 2009, 111 = NZV 2009, 435 mAnm Müller-Rostin, NZV 2009, 430 ff.; ebenso: BGH, Urt. v. 14.10.2010 – Xa ZR 15/10, Rn. 28, RRa 2011, 33 = NJW-RR 2011, 355), trägt das Luftfahrtunternehmen die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Information des Fluggastes rechtzeitig erfolgt ist (AG Rüsselsheim, Urt. v. 27.06.2012 – 3 2655/11-36, RRa 2012, 295 = BeckRS 2013, 00244). Wird die Information per SMS gesendet, muss das Luftfahrtunternehmen darlegen und beweisen, dass die Mitteilung so in den Empfangsbereich des Fluggastes gelangt ist, dass dieser unter normalen Umständen die Möglichkeit hatte, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen (AG Frankfurt, Urt. v. 09.10.2006 – 32 C 1788/06-84, RRa 2007, 134).

III. Die Entlastungsgründe bei Annullierungen und großen Verspätungen

A. Der „außergewöhnliche Umstand“

13    Bei der Annullierung eines Fluges soll sich der Luftfahrtunternehmer entlasten können, wenn „außergewöhnliche Umstände“ (Art. 5 Abs. 3 VO) vorliegen. Sicher hat der europäische Gesetzgeber – anders als für Nichtbeförderungen in Art. 2 VO – bewusst die Worte „unvertretbarer Grund“ nicht gewählt, so dass es bei Annullierungen und Verspätungen auf ein Vertretenmüssen nicht ankommt.

14   Seit dem Urteil des EuGH vom 19.11.2009 in der Rechtssache Sturgeon ./. Condor (Rs. C-408/07, Slg I-10923 = RRa 2009, 282) gilt Art. 5 Abs. 3 VO auch, wenn Ansprüche auf Ausgleichsleistungen infolge großer Verspätungen i.S.d. Art. 6 VO geltend gemacht werden.

15     Art. 5 Abs. 3 VO bezieht sich allein auf die Ausgleichsleistungen nach Art. 7 VO und gilt nicht für Unterstützungs- und Betreuungsleistungen. Der EuGH hat entschieden, dass ein Luftfahrtunternehmen bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen nur von seiner Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO entbunden ist und demzufolge seine Betreuungspflicht nach Art. 9 VO bestehen bleibt ( 31.1.2013, Rs. 12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921 = ZLW 2013, 273, Rn.39; OGH, 03.7.2013 – 7 Ob 65/13d, RRa 2013, 256 = ecolex 2013,960 = ZVR 2014, 71 mAnm. Huber ZVR 2014, 126; siehe auch 12.5.2011 − Eglītis und Ratnieks, Rs. C-294/10, Rn.23 und 24, RRa 2011, 125; so auch zuvor: OLG Koblenz, 11.1.2008 – 10 U 385/07, RRa 2008, 181 f.; AG Rüsselsheim   11.1.2011 – 3 C 1698/10-32, RRa 2011, 93 f. = NJW-RR 2011, 560 f.; AG Rüsselsheim 21.12.2011 – 3 C 229/11-36, RRa 2012, 95 = LSK 2012, 160675; AG Frankfurt a.M. 1.6.2011 – 29 C 2320/10-21, RRa 2012, 32 = LSK 2012, 390063.; AG Nürnberg 14.9.2011 – 18 C 6053/11, RRa 2011, 297 f.; Staudinger/ Schmidt-Bendun VersR 2004, 971; Führich Reiserecht [6. Aufl.], Rn.1030). Zur Kritik an der Entscheidung des EuGH bzgl. einer möglichen Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots aufgrund der fehlenden zeitlichen oder finanziellen Beschränkung der Betreuungspflicht s. Staudinger EuZW 2013, 227; Staudinger/Krüger NJW 2013, 913, 916; Müller-Rostin euvr 2013, 138, 147; ders. TranspR 2013, 329, 332.

16     Die Verordnung lässt offen, was genau unter einem „außergewöhnlichen Umstand“ zu verstehen ist. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung den Begriff „außergewöhnlich“ und nicht „ungewöhnlich“ verwendet. Darüber hinaus muss bei der Auslegung des Begriffs „außergewöhnlicher Umstand“ dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Art. 5 Abs. 1 VO den Grundsatz aufstellt, dass Fluggäste bei Annullierung (und: Verspätung) Anspruch auf Ausgleichsleistungen haben und deshalb Abs. 3, der die Voraussetzungen festlegt, unter denen das ausführende Luftfahrtunternehmen von der Zahlung des entsprechenden Ausgleichs befreit ist, als Ausnahme vom Grundsatz anzusehen ist. Daher ist diese Ausnahmebestimmung eng auszulegen (nach Ansicht des EuGH (Urt. v. 22.12.2008, C-549/07 – Wallentin-Herman ./. Alitalia, Rn. 19, RRa 2009, 35, 38).

17    Der Erwägungsgrund 14 VO, der bei der Interpretation mit heranzuziehen ist, nennt in der nicht abschließenden Aufzählung Sachverhalte, die nicht zwingend als „außergewöhnliche Umstände“ angesehen werden können. Das LG Korneuburg (25.08.2015 – 22 R 43/15b) hat zutreffend darauf hingewiesen, dass diese nur „Hinweischarakter“ haben und „der (damalige) Gemeinschaftsgesetzgeber die genannten Vorkommnisse nicht selbst als „außergewöhnliche Umstände angesehen hat, sondern nur ausdrücken wollte, dass sie solche eintreten lassen können.“ Daraus folge, dass „nicht alle Umstände, die mit solchen Vorkommnissen einhergehen, unbedingt Gründe für eine Befreiung von der in Art. 5 Abs. 1 lit. c VO niedergelegten Ausgleichsplicht darstellen“. Daher obliege es demjenigen, der sich darauf beruft, darüber hinaus zu behaupten und den Nachweis zu führen, dass die Annullierung (oder Verspätung) sich jedenfalls nicht durch der Situation angepasste Maßnahmen hätte vermeiden lassen.

17a       Alle aufgezählten Ereignisse zeichnen sich dadurch aus, dass sie außerhalb des Gewöhnlichen liegen und das ist mehr als dass sie etwa nur „ungewöhnlich“ oder „unerwartet“ sein müssen.

18    Der EuGH hat in der Entscheidung McDonagh ./. Ryanair (Urt. v. 31.01.2013, Rs. 12/11, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 273) hervorgehoben, dass der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch wörtlich auf Umstände „abseits des Gewöhnlichen“ abstellt. Im Zusammenhang mit dem Luftverkehr bezeichnet er ein Vorkommnis, das der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens nicht innewohnt und aufgrund seiner Natur oder Ursache von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist (so schon EuGH, Urt. v. 22.12.2007, Rs. 459/07 − Wallentin-Hermann ./. Alitalia, Rn. 23, Slg I-11061 = RRa 2009, 35 = VuR 2009, 225 = ZLW 2009, 295; bestätigt im Urt. v. 17.09.2015, Rs. C-257/14 – van der Lans ./. KLM, RRa 2015, 287 = NJW 2015, 3427). Daher werden alle Umstände erfasst, die das Luftfahrtunternehmen nicht kontrollieren kann, welcher Natur und Schwere sie auch sein mögen. Zu berücksichtigen ist aber auch – so der EuGH (a.a.O., Rn. 31) – dass aus den Erwägungsgründen eindeutig hervorgehe, dass die Verordnung ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherstellen und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen Rechnung tragen soll, da die Annullierung eines Fluges den Fluggästen große Unannehmlichkeiten bereitet. Folgerichtig hat der BGH festgestellt, dass der Gesetzgeber nicht jedes unvermeidbare Ereignis genügen lassen wollte, sondern nur solche, die aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Luftverkehrs herausragen (Urt. v. 21.08.2012 – X ZR 146/11, Rn. 15 f., unveröff.). Für die Qualifizierung der Umstände als außergewöhnlich ist somit maßgeblich, dass sie sich von denjenigen Ereignissen unterscheiden, mit denen typischerweise bei der Durchführung eines einzelnen Flugs gerechnet werden muss (so auch Schuster, RRa 2014, 2 ff.).

18a    Das Kriterium der Beherrschbarkeit muss danach bemessen werden, ob der betreffende Vorgang unmittelbar in den betrieblichen Ablauf der Fluggesellschaft fällt (so auch: AG Frankfurt a.M. 03.02.2010 – 29 C 2088/09, RRa 2010, 289 = NJW-RR 2010, 1360 = BeckRS 2010, 11001; 14.04.2011 – 29 C 2034/10-21).

19    D er BGH (21.08.2012 – X ZR 138/11, Rn 18, RRa 2012, 288 f.) hat klargestellt, dass die vom EuGH für technische Defekte entwickelten Maßstäbe auch bei anderen Vorkommnissen anzulegen sind.

20    Der EuGH hat in der Ryanair-Entscheidung (31.01.2013, Rs. C-12/11, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 = ZLW 2013, 273) in Rn. 31 ausdrücklich die Ansicht vertreten, die Verordnung enthalte keinen Hinweis darauf, dass über die in Art. 5 Abs. 3 VO genannten außergewöhnlichen Umstände hinaus eine gesonderte Kategorie von „besonders außergewöhnlichen“ Ereignissen anerkannt würde, die ein Luftfahrtunternehmen von allen Verpflichtungen aus der Verordnung einschließlich der Unterstützungs- und Betreuungsleistungen freistellen würde. Eine solche Auslegung liefe nicht nur der Bedeutung des Begriffs im gewöhnlichen Sprachgebrauch entgegen, sondern auch den Zielen des Regelwerks zuwider. Es gibt daher keine „besonders außergewöhnlichen Umstände“ (EuGH, Rs. 12/11 – McDonagh, aaO., Rn. 32; kritisch zu dieser Entscheidung Staudinger, EuZW 2013, 227).

21    Ein „außergewöhnlicher Umstand“ muss objektiv vorgelegen haben; der bloße Verdacht, ein solcher hätte eintreten können, reicht nicht. Ein Luftfahrtunternehmen kann sich daher nicht darauf berufen, es habe einen Fluggast allein deshalb nicht zu einem Umsteigeflughafen befördert, weil es davon ausgegangen sei, dass der Anschlussflug „mit großer Wahrscheinlichkeit“ ausfallen würde und der Fluggast deshalb am Umsteigeflughafen „stranden“ würde (AG Hamburg, Urt. v. 04.10.2013 – 20a C 206/12, RRa 2014, 94, BeckRS 2014, 08343).

22    Setzt ein Luftfahrtunternehmen nach dem Wegfall eines außergewöhnlichen Umstandes (z.B. ein generelles Flugverbot wegen Aschewolke, Sperrung eines Flughafens) einen neuen Startzeitpunkt fest und wird der Flug danach aufgrund eines anderen Umstandes (z.B. technischen Problems) erneut verspätet oder annulliert, ist als Ursache der Verspätung auf das zweite Ereignis abzustellen (AG Rüsselsheim, Urt. v. 25.07.2012 – 3 C 1132/12-36, RRa 2012, 234 f.; diese Rspr. wurde bestätigt durch LG Darmstadt).

23    Viele (wenn auch nicht alle) Ereignisse sind sicherheitsrelevant. Gemäß der RL 2003/42/EG vom 13.06.2003 über die Meldung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt (ABl. 2003 EG Nr. L 167, 23) sind Betreiber oder Führer eines in Deutschland eingetragenen turbinengetriebenen Luftfahrzeugs oder eines gewerbsmäßig betriebenen Luftfahrzeugs mit einer höchstzulässigen Startmasse von mindestens 5,7 t. oder mehr, verpflichtet, sicherheitsrelevante Ereignisse dem Luftfahrt-Bundesamt zu melden (§ 5b Abs. 1 LuftVO); die zu meldenden Ereignisse ergeben sich aus den Anlagen 6 und 7 zur LuftVO. Dazu zählen u.a. ein rechtswidriger Eingriff in den Luftverkehr (einschließlich Bombendrohung oder Entführung), Schwierigkeiten bei der Kontrolle betrunkener, gewalttätiger oder sich Anordnungen widersetzender Fluggäste, aber auch Brand, Explosion, Rauch oder giftige oder schädliche Gase an Bord, erhebliche Verletzungen von Fluggästen oder Besatzungsmitgliedern, Blitz- oder Hagel- oder Vogelschlag, der zu Schäden am Luftfahrzeug oder zum Ausfall oder zu Störungen wesentlicher Funktionen geführt hat. Ein Luftfahrtunternehmen, das sich wegen eines solchen Ereignisses auf einen außergewöhnlichen Umstand beruft, muss vortragen, wann die Beschädigung an dem Fluggerät festgestellt wurde, sowie wann welche Maßnahmen durchgeführt wurde, um das Flugzeug schnellstmöglich wieder instand zu setzen. Zudem muss es (jedenfalls dann, wenn ein solches Ereignis bestritten wird) im Rahmen eines schlüssigen gerichtlichen Vortrages eine Meldung an das Luftfahrt-Bundesamt (oder die jeweilige nationale Behörde) und das Luftfahrtunternehmen vorlegen.

23a    Ein außergewöhnlicher Umstand muss kausal gewesen sein für die Annullierung, Verspätung oder Nichtbeförderung. Wenn ein Luftfahrtunternehmen seinen Flugplan infolge eines außergewöhnlichen Umstandes (hier: Streik des Sicherheitspersonals) „umorganisiert“ hat, beruht die Annullierung / große Verspätung / Nichtbeförderung eines nachfolgenden, umorganisierten Fluges nicht mehr kausal auf dem Streik, sondern auf einer unternehmerischen Entscheidung, auch wenn diese mittelbar durch einen außergewöhnlichen Umstand i.S.d. Art. 5 Abs. 3 VO bedingt worden ist (so zutreffend: LG Frankfurt, Urt. v. 29.10.2015 – 2-24 S 68/15, RRa 2016, 19; ebenso: AG Hannover 20.05.2016 – 511 C 11581/15. Siehe auch: Sendmeyer NJW 2011, 808 [811]).

23b    Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen vorgerichtlich auf einen „außergewöhnlichen Umstand“ gemäß Art 5 Abs. 3 VO, ohne diesen jedoch konkret zu benennen, hat ein Fluggast gegen dieses einen Anspruch auf Erteilung der Auskunft, aus welchem Grund sich der Flug verspätet hat, wenn es dem Fluggast nicht möglich ist, die Information über den abstrakt behaupteten außergewöhnlichen Umstand auf andere Weise als durch das Luftfahrtunternehmen zu erhalten (AG Rüsselsheim, Urt. v. 20.01.2015 -3 C 3644/14-31, RRa 2015, 87).

Einzelne außergewöhnliche Umstände im Spiegel der Judikatur

1. Technische Probleme

a. Grundsätzliches

24    Auf ein Vorabentscheidungsersuchen des HG Wien hat der EuGH in seinem Urteil vom 22.12.2008 (Rs. C-549/07 − Wallentin-Hermann ./. Alitalia, Slg 2008 I-11061 = RRa 2009, 35 = VuR 2009, 225 = ZLW 2009, 295; bestätigt im Urt. v. 17.09.2015, Rs. C-257/14 – van der Lans ./. KLM, RRa 2015, 287 = NJW 2015, 3427) klargestellt, dass ein bei einem Flugzeug aufgetretenes technisches Problem, das zur Annullierung eines Fluges führt, nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt. Dieser Ansicht ist der BGH (12.11.2009 – Xa ZR 76/07, RRa 2010, 34 = NJW 2010, 1070, Rn 2; bestätigt 21.08.2012 – X ZR 138/11, Rn, 16 ff., RRa 2012, 288 [290] und X ZR 146/11, openJur 2012, 123859) gefolgt: Es können daher nur solche Vorkommnisse als „außergewöhnliche Umstände“ qualifiziert werden, die nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind. (EuGH, a.a.O., Rn. 23 ff.; siehe dazu Bartlik, RRa 2009, 272; Schmid, RRa 2009, 1). Das wäre z. B. der Fall, wenn der Hersteller von Flugzeugen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde entdeckte, dass die bereits in Betrieb genommenen Luftfahrzeuge mit einem versteckten Fabrikationsfehler behaftet sind, der die Flugsicherheit beeinträchtigt. Gleiches würde bei durch Sabotageakte oder terroristische Handlungen verursachten Schäden an den Flugzeugen gelten (EuGH, a.a.O. Rn. 26).

25    Der BGH hat diese Rechtsprechung nicht nur aufgegriffen, sondern zugleich klargestellt, dass ein Fabrikationsfehler nur dann außerhalb des Rahmens der normalen Betriebstätigkeit des Luftverkehrsunternehmens liegt, wenn nicht nur ein einzelnes Flugzeug, sondern die gesamte oder ein wesentlicher Teil der Flotte des Luftverkehrsunternehmens betroffen ist (Urt. v. 21.08.2012 – X ZR 138/11, Rn. 16 ff., RRa 2012, 288, 290 und X ZR 146/11, Rn. 17 f., unveröff.; im Anschluss daran auch: AG Frankfurt, Urt. v. 18.10.2013 – 30 C 1848/12-47; LG Baden-Baden, Urt. v. 28.06.2013 -1 S 47/12, RRa 2014, 31; LG Darmstadt, Urt. v. 16.04.2014 – 7 S 161/13, RRa 2014, 137 = BeckRS 2014, 12185). Außerhalb des Rahmens der normalen Betriebstätigkeit eines Luftverkehrsunternehmens liegt es auch, wenn beispielsweise die technischen Einrichtungen eines Flughafens versagen und davon nicht nur ein einzelnes Flugzeug betroffen ist, sondern der gesamte über einen Flughafen abgewickelte Luftverkehr oder die gesamte Flotte eines Luftverkehrsunternehmens (BGH, a.a.O.).

26    Die Behebung eines technischen Problems, das auf die fehlerhafte Wartung eines Luftfahrzeuges zurückzuführen ist, ist nach Ansicht des EuGH (EuGH, a.a.O., Rn. 24) als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens anzusehen. Folglich können technische Probleme (in Österreich: „technische Gebrechen“), die sich bei der Wartung von Flugzeugen zeigen oder infolge einer unterbliebenen Wartung auftreten, keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen. (EuGH, a.a.O., Rn. 24). Auch aus der Häufigkeit der bei einem Luftfahrtunternehmen festgestellten technischen Probleme oder aus dem Umstand, dass ein Luftfahrtunternehmen die gesetzlichen Mindesterfordernisse an Wartungsarbeiten befolgt habe, ließe sich nicht ohne Weiteres auf einen außergewöhnlichen Umstand und die Anstrengung aller zumutbaren Maßnahmen schließen (EuGH, a.a.O. Leitsätze 2 und 3; ebenso: BGH, Urt. v. 12.11.2009 – Xa ZR 76/07, RRa 2010, 34 = NJW 2010, 1070 = ZLW 2012, 427, Rn. 23; vgl. dazu auch Kober-Dehm/Meier-Beck, RRa 2010, 250, (254 f.)). Wenn eine notwendige Reparatur oder Serviceleistung ohne Notwendigkeit nicht rechtzeitig durchgeführt wird, liegt kein außergewöhnlicher Umstand vor (LG Korneuburg, Urt. v. 21.11.2013 – 21 R 223/13m).

27    In Fortführung der Begriffsbestimmung der außergewöhnlichen Umstände durch den EuGH im vorgenannten Urteil erklärte das AG Köln (Urt. v. 10.03.2010 − 132 C 304/07, RRa 2010, 230 = ZLW 2011, 151), dass nicht nur solche technischen Probleme, die sich bei der Wartung von Flugzeugen zeigen oder infolge einer unterbliebenen Wartung auftreten, als „außergewöhnliche Umstände“ ausscheiden, sondern auch solche, die bei Instandhaltungsarbeiten nicht zum Vorschein kämen, z.B. ein unerwartet eingetretener Strömungsabriss an einem Triebwerk (sog. engine stall).

28    Das LG Darmstadt stellte in seinem Urteil vom 20.07.2011 (7 S 46/11, RRa 2011, 236 = BeckRS 2011, 24162) fest, dass für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände unabhängig von der Kategorisierung als „technischer Defekt“ oder „unerwarteter Sicherheitsmangel“ maßgeblich sei, ob das zugrundeliegende Geschehen ein typisches und in Ausübung der betrieblichen Tätigkeit vorkommendes Ereignis darstelle oder ob es der Beherrschbarkeit der Fluggesellschaft völlig entzogen sei. So dürfe aus der Seltenheit eines derartigen Defekts und/oder aus dem zeitlichen bzw. logistischen Aufwand zur Mangelbeseitigung nicht ohne Weiteres auf eine Entlastung des Luftfahrtunternehmens geschlossen werden. (So bereits auch LG Darmstadt, 06.06.2010 − 7 S 200/08, RRa 2010, 275 = ZLW 2010, 658 = BeckRS 2010, 15322; AG Rüsselsheim, Urt. v. 10.08.2010 − 3 C 1528/09-32, RRa 2010, 290; AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.08.2010 − 3 C 774/10-31, RRa 2010, 290 = ZLW 2010, 660 [Defekt im Kompressor eines Triebwerks]).

29    Nach Ansicht des LG Düsseldorf (Urt. v. 07.05.2009 − 22 S 215/08, RRa 2009, 186) beurteilt sich die Frage der Beherrschbarkeit eines technischen Problems nach Verantwortungs- und Risikosphären und nicht nach der subjektiven Vorwerfbarkeit oder Vermeidbarkeit eines technischen Defekts. Ein Triebwerkschaden liege demnach im direkten Einfluss- und Organisationsbereich des Luftfahrtunternehmens.

30    Das AG Frankfurt (Urt. v. 07.10.2010 − 29 C 1351/10-46, RRa 2011, 140) konkretisierte Art. 5 Abs. 3 VO dahingehend, dass auch technische Defekte, die nur gelegentlich auftreten könnten, keinen außergewöhnlichen Umstand begründen. Dies gelte auch dann, wenn alle vorgeschriebenen Wartungsarbeiten frist- und ordnungsgemäß ausgeführt worden seien.

Fallbeispiele aus der Praxis

31    Der plötzliche Austritt von Hydrauliköl an der Verschlusskappe des Hauptfahrwerks stellt lediglich einen Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens dar (LG Stuttgart, Urt. v. 20.04.2011 − 13 S 227/10, RRa 2011, 234; AG Nürtingen, Urt. v. 27.09.2010 – 11 C 1219/11; AG Rüsselsheim, Urt. v. 28.05.2010 − 3 C 390/10-35 und Urt. v. 27.08.2010 − 3 C 517/10-35, RRa 2010, 290, wonach ein Problem mit dem Ölfilter eines Triebwerks keinen außergewöhnlichen Umstand begründet). Gleiches gilt für einen schadhaften Dichtungsring an der Tanköffnung (LG Korneuburg 11.03.2014 – 21 R 287/13y, RRa 2015, 157) oder einen Defekt in der Kerosinzufuhr zu einem Triebwerk und einen Fehler im elektronischen System (HG Wien 13.03.2010 − 60 R 114/06d, RRa 2010, 238). Löst sich die Notrutsche aus unerklärlichen Gründen, scheidet die Anwendung des Art. 5 Abs. 3 VO gleichermaßen aus (AG Rüsselsheim 20.07.2010 − 3 C 1316/09-32, RRa 2010, 290). Ein durch unreines Kerosin verstopfter Kerosinfilter stellt auch dann keinen „außergewöhnlichen Umstand“ dar, wenn der Treibstoff von einem Dritten geliefert wird (AG Rüsselsheim 18.04.2013 – 3 c 2265/12-39, RRa 2014, 50). Auch ein defektes Ventil an der Kraftstoffpumpe ist kein außergewöhnlicher Umstand (UK Court of Appeal 11.062014 B2/2013/3277/CCRTF – Jet2 vs. Huzar): „Ein schadhafter Dichtungsring an der Tanköffnung ist kein „außergewöhnlicher Umstand“.

32    Der Defekt des Reverse Flow Check Controllers ist kein außergewöhnlicher Umstand (AG Rüsselsheim 20.04.2012 – 3 C 2273/11-37, RRa 2012, 189). Zum Defekt eines Sensors, der zum Einfahren des Fahrwerks benötigt wird, siehe LG Berlin 07.02.2008 − 57 S 26/07, RRa 2008, 89. Auch der Defekt des bordseitigen Wetterradars ist kein „außergewöhnlicher Umstand“ (AG Rüsselsheim 27.02.2012 – 3 C 2644/11-33; ebenso AG Emden 27.01.2010 – 5 C 197/09, RRa 2010, 135). Gleiches gilt für eine beschädigte Scheibe des Cockpitfensters (LG Korneuburg 15.07.2014 – 21 R 106/14g, RRa 2015, 101 = juris; BG Schwechat 07.01.2015 – 1 C 199/14x).

33    Nicht als außergewöhnlicher Umstand angesehen wurden auch: eine Kraftstoffleckage (AG Köln, Urt. v. 09.04.2010 − 124 C 407/09; AG Hannover, Urt. v. 22.01.2014 – 526 C 7704/12), ein Fehler der Höhenrudersteuerung (LG Köln 21.09.2011 − 13 S 123/11); der Defekt der Höhenruderanzeige (AG Rüsselsheim, Urt. v. 23.11.2011 – 3 C 1552/ 11-36, RRa 2012, 26; der Schaden am Stabilisator (Höhen- oder Seitenflosse) zur Trimmung des Flugzeuges (BG Schwechat, Urt. v. 19.01.2015 – 1 C 294/14t); ein Hydraulikleck an der Höhenrudersteuerung (AG Rüsselsheim, Urt. v. 25.03.2011 − 3 C 289/11) oder ein defekter Flow Sensor mit der Folge der Überhitzung im Cockpit (AG Düsseldorf, Urt. v. 23.07.2011 − 37 C 3495/11), ein geplatzter Hydraulikschlauch (LG Darmstadt, Urt. v. 03.11.2010 – 7 S 29/09), ein Defekt in der Kerosinzufuhr (HG Wien, Urt. vom 16.03.2010 − 60 R 114/60), ein Defekt der Benzinpumpe (AG Frankfurt  27.06.2013 – 30 C 1055/13-29, BeckRS 2014, 23444; ein sich nicht schließender Fahrwerksschacht (LG Frankfurt 6.2.2012 – 2-24 O 219/11, RRa 2012, 125); ein defektes Triebwerksteil im Reverse Flow Check Controller (AG Rüsselsheim 3 C 2562/11) etc. Das gilt auch für die Verstopfung von Toiletten durch Fluggäste, da ein Luftfahrtunternehmen angehalten ist, sich auf unsachgemäßes Verhalten von Fluggästen einzurichten (AG Rüsselsheim, Urt. v. 12.09.2011 – 3 C 1047/11; AG Köln, Urt. v. 09.12.2011 − 145 C 15/11).

34    Auch der Ausfall zweier unabhängig voneinander arbeitender Motoren, die die Funktion eines Ventils steuern (AG Rüsselsheim, Urt. v. 31.05.2010 − 3 C 146/10, RRa 2011, 55) als auch für die Anzeige eines Ventildefekts durch den Bord-Computer (AG Rüsselsheim, Urt. v. 19.07.2010 − 3 C 257/10-35, RRa 2011, 56). Auch der Ausfall eines Wetterradargeräts in einem Flugzeug ist ebenso wenig ein außergewöhnlicher Umstand (AG Emden, Urt. v. 27.01.2010 − 5 C 197/09, RRa 2010, 135), wie ein Defekt am Kurzwellenfunkgerät (AG Rüsselsheim, Urt. v. 17.04.2013 – 3 C 3319/12-36).

35    Es gibt keine wartungsfreien Bauteile mit unbegrenzter Lebensdauer (so auch: LG Darmstadt, Urt. v. 16.06.2010, ZLW 2010, 658; LG Darmstadt, Urt. v. 29.10.2008 – 7 S 200/08, NJW-RR 2009, 858; AG Rüsselsheim, Urt. v. 19.08.2010 – 3 C 1528/09-32, RRa 2010, 290;). Das gilt insbesondere für bewegliche Bauteile, die einem Verschleiß unterliegen. Auch wenn ein derartiger Defekt selten auftritt oder wenn der zeitliche bzw. logistische Aufwand zur Beseitigung dieses Mangels, vor dessen Behebung offenbar aus zwingenden Sicherheitsgründen nicht gestartet werden durfte, erheblich sein sollte, entlastet das den Luftfrachtführer nach Art. 5 Abs. 3 VO nicht (LG Darmstadt, Urt. v. 01.12.2010 – 7 S 66/10, RRa 2011, 89 = BeckRS 2011, 08685, 20.07.2011 – 7 S 46/11, RRa 2011, 236, 237 = BeckRS 2011, 08685). Das gilt auch, wenn alle vorgeschriebenen Wartungsarbeiten frist- und ordnungsgemäß ausgeführt wurden (AG Frankfurt, Urt. v. 07.10.2010 – 29 C 1352/10-46, RRa 2011, 140, (142) = juris). Auch die fehlende Verpflichtung, die defekten Teile einer ständigen Wartung und Kontrolle zu unterziehen, rechtfertigen nicht die Annahme eines „außergewöhnlichen Umstandes“ i.S.v. Art. 5 Abs. 3 VO (AG Rüsselsheim, 11.08.2010 – 3 C 774/10-31, RRa 2010, 290 = ZLW 2010, 660 = BeckRS2010, 32250; 10.8.2010 – 3 C 1528/09-32, RRa 2010, 290).

36    Der Ausfall oder die Fehlanzeige eines Geschwindigkeitsanzeigers (air speed indicator, Fahrtmesser) ist ein technisches Problem, das der Risikosphäre des Luftfahrtunternehmens zuzurechnen ist. Dies gilt auch dann, wenn der Ausfall durch eine Biene im zur Berechnung der Geschwindigkeit des Flugzeugs verwendeten Staurohr (Pitot-Rohr) verursacht wurde. Denn diese Ursache ist durch Abdecken des Staurohrs während der Bodenzeit des Flugzeuges beherrschbar (a.A. AG Rüsselsheim, Urt. v. 24.07.2013 – 3 C 2159/12-36, RRa 2014, 43; offen gelassen: AG Rüsselsheim, Urt. v. 30.08.2013 – 3 C 1483/13-37; AG Düsseldorf, Urt. v. 27.09.2013 – 36 C 6837/13, RRa 2014, 42).

37    Rauch und giftige Dämpfe in der Kabine oder im Cockpit stellen keinen außergewöhnlichen Umstand dar. Sie sind bloße Folge eines technischen Problems (AG Rüsselsheim, Urt. v. 04.04.2013 – 3 C 327/13-34).

38   Löst ein Fluggast während der Bodenzeit eines Flugzeuges ohne Anweisungen des Bordpersonals die Notrutsche aus, liegt nach Ansicht des AG Rüsselsheim (Urt. v. 11.07.2011 – 3 C 497/12-36) und des AG Hamburg (Urt. v. 18.09.2013 – 22a C 214/12) ein außergewöhnlicher Umstand vor (a.A. AG Rüsselsheim, Urt. v. 20.07.2010 – 3 C 1316/09-32, RRa 2010, 290). Doch muss das Luftfahrtunternehmen darlegen, ob es hinreichende Maßnahmen (z.B. Positionierung eines Flugbegleiters an den Notausstiegstüren bzw. -fenstern) getroffen hat, um das zu vermeiden. Löst dagegen ein Besatzungsmitglied durch einen Fehler bei der Öffnung einer Flugzeugtür eine Rutsche aus, liegt kein außergewöhnlicher Umstand vor.

39    Das Fehlen eines qualifizierten Mechanikers an dem Ort, wo ein reparaturbedürftiges Flugzeug steht, ist kein außergewöhnlicher Umstand (AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.06.2013 – 3 C 387/10-35, RRa 2010, 290).

40    Wird ein auf dem Flughafengelände herumliegender Gegenstand (z.B. eine Schraube) vom Triebwerk angesaugt, soll der dadurch entstandene Schaden am Triebwerk nach Ansicht des AG Rüsselsheim (Urt. v. 09.07.2013 – 3 C 2910/12-32; LG Darmstadt, Urt. v. 23.07.2014 – 7 S 126/13, RRa 2015, 73) einen außergewöhnlichen Umstand darstellen, weil das als „Eingriff von außen“ dem Luftfahrtunternehmen nicht zuzurechnen sei. Die Sauberkeit der Startbahn liege im Verantwortungsbereich des Flughafenbetreibers. Leider hat das Gericht sich nicht mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass ein Flughafenbetreiber aufgrund des mit dem Luftfahrtunternehmen geschlossenen Flughafennutzungsvertrages verpflichtet ist, den Flughafen, insbesondere aber die Start- und Landebahnen in einem betriebssicheren Zustand zu halten. Ob ein etwaiges Verschulden des Vertragspartners und Leistungsträgers (§ 278 BGB) zum typischen Risiko beim Betrieb eines Luftfahrtunternehmens gehört, ist in Deutschland bislang nicht höchstrichterlich entschieden worden. Siehe dazu aber in Österreich: OGH, TranspR 2013, 128. Allerdings fällt die Beschädigung eines Triebwerks durch eine auf dem Vorfeld liegende Plastikfolie als normaler Geschehensablauf in den Verantwortungsbereich eines Luftfahrtunternehmens, ist also kein außergewöhnlicher Umstand i.S.d. Art. 5 Abs. 3 VO (AG Rüsselsheim, Urt. v. 31.10.2013 – 3 C 2715/13-38).

40a    Wenn eine notwendige Reparatur oder Serviceleistung ohne Notwendigkeit nicht rechtzeitig durchgeführt wird, liegt kein außergewöhnlicher Umstand vor (LG Korneuburg, Urt. v. 21.11.2013 – 21 R 223/13m).

2. Wetterbedingungen

41  Zunächst ist festzustellen, dass „widrige Wetterbedingungen“ für sich noch nicht als „außergewöhnliche Umstände“ anzusehen sind, sondern bloß zu solchen führen können (LG Innsbruck, 18.07.2014 – 3 R 214/14p; ebenso LG Korneuburg 25.08.2015 – 22 R 34/15h; BG HS 21.03.2016 – 16 C 296/15v, RRa 2016, 199). Sie stellen somitnur einen Hinweis auf das mögliche Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen dar (BG Schwechat, Urt. v. 11.06.2015 – 16 C 813/14a). Deswegen ist ein solcher Vortrag, auf die sich Luftfahrtunternehmen zu ihrer Entlastung gerne ohne nähere Substantiierung berufen, nicht geeignet für eine Entlastung nach Art. 5 Abs. 3 VO (ebenso LG Innsbruck, aaO.; BG Schwechat, aaO.). Nach zutreffender Ansicht des AG Frankfurt (Urt. v. 15.05.2013 – 29 C 1954/11-21, RRa 2014, 49 und 261 = LSK 2014, 140410) stellen Wetterbedingungen nur dann einen „außergewöhnlichen Umstand“ dar, wenn sie aus den üblichen und zu erwartenden Abläufen des Luftverkehrs herausragen. Dabei ist von „widrigen Wetterbedingungen“ erst dann auszugehen, wenn diese geeignet gewesen sind, den Luftverkehr oder die Betriebstätigkeit eines oder mehrerer Luftverkehrsunternehmen ganz oder teilweise zum Erliegen zu bringen (AG Frankfurt, a.a.O.; BG HS, Urt. v. 21.03.2016 – 16 C 296/15v).

41a    Gewitter zählen zu Vorkommnissen, die häufig bei oder im Vorfeld eines Fluges auftreten und mit denen ein Flugunternehmen stets rechnen muss. Es handelt sich deshalb nicht um ein außergewöhnliches Wetterphänomen. Dass ein Gewitter gegebenenfalls der planmäßigen Durchführung eines Fluges entgegenstehen kann, macht es aber noch nicht zu einem außergewöhnlichen Umstand, weil einem Luftfahrtunternehmen auch die unvermeidbaren Hindernisse für die planmäßige Durchführungen eines Fluges seiner Risikosphäre zugewiesen werden, die nicht aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Luftverkehrs herausragen ( so zutreffend AG Köln, Urt. v. 17.02.2016 – 114 C 208/15). Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen darauf, dass die Betankung des Flugzeuges wegen Brand- und Explosionsgefahr nicht vorgenommen oder unterbrochen werden musste und das Flugzeug deshalb nicht rechtzeitig abgefertigt werden konnte, muss es vortragen, wie lange das Gewitter andauerte und warum eine Betankung keinesfalls möglich war. Dabei muss vorgetragen werden, ob eine Betankung grundsätzlich nicht möglich war oder eine solche nur an fehlenden organisatorischen Vorkehrungen scheiterte (so zutr. AG Köln aaO).

41b     Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen darauf, dass ein Flug annulliert werden musste, weil das Flugzeug beim Landeanflug durch Hagelschlag beschädigt worden ist, ist die bloße Vorlage einer behördlichen Bescheinigung (z.B. der Austro Control oder eines Flugsicherungsunternehmens) über die Wetterbedingungen am Flugtag auch dann kein geeignetes Beweismittel, wenn daraus hervorgeht, dass es zur fraglichen Zeit gehagelt hat. Das BG Schwechat (Urt. v. 08.10.2015 – 18 C294/15v) begründet das damit, dass Flugzeuge in der Regel auch bei Niederschlägen aller Art starten und landen können und Hagelschlag nicht stets Schäden an Flugzeugen verursacht, die zu deren Fluguntauglichkeit führen. Das ist zutreffend. Ob ein Flugzeug nach Durchzug eines Hagelgebietes noch eingesetzt werden kann, kann nur durch Begutachtung von Sachverständigen festgestellt werden.

41c    Ist der Luftraum über dem Start- oder Zielflughafen gesperrt (z.B. wegen Kontamination durch Vulkanasche), so ist darin ein außergewöhnlicher Umstand zu sehen, wenn der Zielflughafen nur über den gesperrten Luftraum erreicht werden kann (so für Sperrung wegen Gewitters: LG Korneuburg, Urt. v. 03.02.2015 – 21 R 384/14i).  Anders ist es aber zu beurteilen, wenn der gesperrte Luftraum umflogen und der Zielflughafen so erreicht werden kann. Gleiches gilt, wenn ein Flughafen voll gesperrt wird. Wenn die Start- und Anflugfrequenz auf einem Flughafen wegen Nebels vorübergehend reduziert wurde, muss ein Luftfahrtunternehmen konkret darlegen, welche Auswirkungen die Lande- und Startbeschränkungen wegen Nebels auf den annullierten oder verspäteten Flug gehabt haben (AG Frankfurt, Urt. v. 31.08.2006 – 30 C 1370/06-25, RRa 2007, 42)

42    Herrscht am Startflughafen starker Regen, starker Schneefall oder ein schweres Unwetter, was kein sicheres Anfliegen des Flugzeuges erlaubt, können außergewöhnliche Umstände vorliegen (AG Hamburg, Urt. v. 28.02.2006 – 11B C 329/05; LG Frankfurt a. M., Urt. v. 14.03.201 – 2-24 S 110/13, ZLW 2014, 506; BG Schwechat, Urt. v. 07.10.2011 – 4 C 454/11i-13); grundsätzlich unerheblich ist es, ob der Annullierungsgrund möglicherweise bei Abwarten entfallen wäre, sofern nicht von vornherein mit einem kurzfristigen Wegfall des Hindernisses zuverlässig gerechnet werden konnte (OLG Koblenz, Urt. v. 11.01.2008, RRa 2008, 181 = VersR 2009, 569). So vertritt das BG Schwechat (Urt. v. 12.09.2011 – 1 C 326/12) die zutreffende Ansicht, dass „starker Regen“ für sich allein kein außergewöhnlicher Umstand ist. Auch Schneefall und tiefe Temperaturen stellen im November in Mitteleuropa aber keinen außergewöhnlichen Umstand dar, da zu dieser Zeit mit Winterwetter zu rechnen ist (BG Schwechat, 12.10.2012 – 4 C 580/11v-10, RRa 2012, 101; BG HS, Urt. v. 21.03.2016 – 16 C 296/15v).

42a    Starke Schneefälle, die zur Schließung eines Flughafens führen, stellen kein beherrschbares Risiko dar (AG Rostock, Urt. v. 03.11.2011 – 47 C 240/10). Auch bei Wetterbedingungen, die den Luftverkehr oder die Betriebstätigkeit eines oder mehrerer Luftverkehrsunternehmen ganz oder teilweise zum Erliegen bringen (z.B. Vulkanasche im Luftraum), kann von einem außergewöhnlichen Umstand gesprochen werden (AG Frankfurt, Urt. v. 15.05.2013 – 29 C 1954/11-21, RRa 2014, 49).

43    Auch ein Sandsturm am Start- oder Zielflughafen kommt als außergewöhnlicher Umstand in Betracht (AG Hamburg 01.11. 2013 – 23a C 157/13; 10.01.2014 – 36a C 251/13, RRa 2014, 255 = BeckRS 2014,18888; LG Innsbruck 18.07.2014 – 3 R 214/14p). Ist einem Luftfahrtunternehmen aber zwei Tage vor der Durchführung eines Fluges bekannt, dass über einem Zielflughafen des Vorfluges ein Sandsturm erwartet wird, kann von einem plötzlich aufgetretenen Ereignis nicht gesprochen werden (LG Innsbruck aaO).

43a    Gleiches gilt für starke Winde auf einem Flughafen. Doch ist es nicht ausreichend, sich pauschal auf „starke Winde“ zu berufen. Ein Luftfahrtunternehmen muss nachprüfbar darlegen, welche konkreten Windverhältnisse zum Zeitpunkt des geplanten Starts oder der geplanten Landung geherrscht haben und bei welchen Seiten- oder Rückenwind-Komponenten der konkret eingesetzte Flugzeugtyp nach den Herstellervorgaben nicht mehr betrieben werden darf (so auch AG Frankfurt, Urt. v.16.03.2016 – 29 C 2878/14-21).

43b    Auch wenn sich ein Luftfahrtunternehmen auf „extremen Gegenwind“ als mögliche Ursache für eine Flugverspätung beruft, muss es konkrete Angaben dazu machen; die bloße Behauptung reicht nicht (AG Hannover, Urt. v. 06.12.2012 – 552 C 7701/12, RRa 2013, 143 = BeckRS 2013, 102127).

43c    Entscheidet ein Pilot, dass eine Landung des Flugzeuges wegen schlechte Wetterbedingungen zu gefährlich ist, kann dies wegen § 3 Abs. 1 LuftVO (nautische Entscheidungsgewalt) von einem Gericht nur eingeschränkt auf grobe Fehler überprüft werden (vgl. AG Geldern, Urteil vom 3.8.2011 – 4 C 242/09, RRa 2012, 35 = BeckRS 2011, 20576; offen lassend: AG Frankfurt a.M. 16.3.2016 – 29 C 2878/14-21). Doch muss das Luftfahrtunternehmen in einem solchen Fall hinreichende Anknüpfungstatsachen vortragen, damit das Gericht die Entscheidung des Piloten ggf. auf grobe Fehler durch ein Sachverständigengutachten überprüfen lassen kann (AG Geldern aaO; AG Frankfurt a.M. aaO).

44      Nebel am Zielflughafen ist ein außergewöhnlicher Umstand, wenn alle Luftfahrtunternehmen gleichermaßen von diesen Umständen betroffen sind (BG Schwechat 28.09.2011 – 4 C 612/11z-14, RRa 2012, 254) und alle Flüge zu diesem Zielflughafen umgeleitet werden (LG Korneuburg 15.03.2012 – 21 R 332/11p, RRa 2012, 250 = juris).  Wenn aber ein Luftfahrzeug des Luftfahrtunternehmens, das sich wegen Nebels am Flughafen auf „außergewöhnliche Umstände“ berufen will, nur mit den Mindest-Instrumenten ausgerüstet ist und ein Pilot daher allein deshalb nicht landen kann, weil er mit diesen Instrumenten nur bei einer Mindestsicht von 400 m in einer Entscheidungshöhe von 30 m (100 ft.; sog. CAT II), landen darf, dann ist kein „außerordentlicher Umstand“ anzunehmen, weil sich der Industriestandard inzwischen auf eine Ausrüstung für die höhere Allwetter-Betriebsstufe der Kategorie (CAT) III a oder sogar CAT III b mit weit niedrigeren Betriebsbedingungen etabliert hat. Es gibt zwar keine Pflicht für einen Luftfahrtunternehmer, seine Flugzeuge über den Mindeststandard auf dem Niveau des Industriestandards auszurüsten. Wenn er aber ein solchermaßen nicht optimal ausgerüstetes Flugzeug zu Flugplätzen einsetzt, auf denen die Sichtwetterbedingungen zu bestimmten Tageszeiten bekanntermaßen kritisch sind, wirkt sich das lediglich auf das auf seiner kaufmännischen Entscheidung basierende unternehmerische Risiko aus. Daher kann in Fällen, in denen bei nicht optimalen Sichtwetterbedingungen am Zielflughafen ein solchermaßen schlecht ausgerüstetes Flugzeug nicht landen kann, andere, besser ausgerüstete Flugzeuge aber gleichwohl, nicht von einem „außerordentlichen Umstand“ gesprochen werden (so schon Schmid, ZLW 2005, 373, 378; ebenso Sendmeyer, NJW 2011, 808, 811 f.; wohl auch Müller-Rostin, euvr 2013, 1, (13)); jedenfalls aber ist es keiner, der nicht durch zumutbare Maßnahmen hätte vermieden werden können. Muss ein Flug deshalb annulliert werden, bleibt das Luftfahrtunternehmen zur Zahlung von Ausgleichsleistungen verpflichtet; es kann sich nicht darauf berufen, dass der Flughafen nicht angeflogen werden konnte. Denn subjektives Unvermögen ist nicht zu berücksichtigen!

45     Aber auch dann reicht der Umstand, dass das für den Flug vorgesehene Flugzeug wegen schlechten Wetters bereits den vorherigen Flug nicht antreten konnte und deshalb für den annullierten Flug nicht zur Verfügung stand, nach Ansicht des BGH (Urt. v. 14.10.2010 – Xa ZR 15/10, RRa 2011, 33 = NJW-RR 2011, 355) für eine Entlastung nach Art. 5 Abs. 3 VO nicht aus.

46    Ein Blitzschlag kann ein außergewöhnlicher Umstand sein. Ist dieser jedoch am Vortag eingetreten und entdeckt worden, so kann dieser regelmäßig nicht Flugverspätungen oder Flugausfälle am nachfolgenden Tag entschuldigen (so auch AG Erding 23.07.2013 – 3 C 719/12, RRa 2013, 31; AG Königs Wusterhausen 17.02.2016 – 4 C 1942/15, RRa 2016, 138, BeckRS 2016, 11220 = juris; LG Korneuburg 25.08.2015 – 22 R 34/15b). Zudem weist das LG Korneuburg (a.a.O.) zutreffend darauf hin, dass ein Blitzschlag für das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes „lediglich indikativ ist und das Luftfahrtunternehmen weiter vortragen muss, dass trotz dieses Vorfalles mit zumutbaren (konkretisierten) Maßnahmen eines Annullierung nicht zu vermeiden war).“ (so bereits: OGH 3.7.2013 – 7 Ob 65/13d, RRa 2013, 256 = ecolex 2013,960 = ZVR 2014, 71 mAnm. Huber ZVR 2014, 126.

46a   Beruht eine Verspätung eines Fluges von A nach B auf der betriebswirtschaftlichen Entscheidung des Luftfahrtunternehmens, das planmäßig für den Flug vorgesehene Flugzeug für einen Flug von A nach C einzusetzen, weil das dafür ursprünglich vorgesehene Flugzeug nach einem Blitzschlag repariert werden musste, liegt nach zutreffender Ansicht des AG Frankfurt a.M. (11.2.2015 – 29 C 3128/14-21, RRa 2016, 31 = BeckRS 2016, 10458) liegt kein außergewöhnlicher Umstand vor.
46b    Führen Schlechtwetterbedingungen zur Reduzierung der im Normalbetrieb üblichen An und Abflugrate auf einem Flughafen durch die Flugsicherungsunternehmen, so kann ein außergewöhnlicher Umstand bei den Flügen, die daraufhin annulliert werden müssen gegeben sein.

3. Beschädigungen des Flugzeugs durch Dritte

47     In die Sphäre eines Luftfahrtunternehmens fällt es schließlich auch, wenn es durch Bedienstete des Flughafens zur Beschädigung bei Be- und Entladevorgängen kommt, da solche Ereignisse Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sind (OLG Frankfurt a.M. 15.11.2011 − 16 U 39/11, Rn. 63, NJW-RR 2012, 374 = MDR 2012, 235; LG Darmstadt 26.3.2010 – 7 S 201/09; AG Frankfurt a.M. 5.11.2009 – 32 C 1379/09-41; RRa 2010,103; AG Frankfurt a.M. 3.2.2010 – 29 C 2088/09, RRa 2010, 289 = NJW-RR 2010, 1360; AG Rüsselsheim 27.7.2012 – 3 C 468/12-37, RRa 2012, 233 = BeckRS 2012, 21693; Woitkewitsch MDR 2012, 193, 194; Bosch/Lorz NZV 2013, 105, 109; aA AG Frankfurt a.M. 14.4.2011 − 29 C 2034/10-21, RRa 2011, 191). Dient ein Treppenfahrzeug und dessen Heranfahren an das Flugzeug dem Ein- und Aussteigen der Fluggäste, ist die Kollision dem normalen, in die Risikosphäre der Fluggesellschaft fallenden Flugbetrieb zuzurechnen (EuGH Beschl. v. 14.11.2014, Rs. C-394/14 – Siewert ./. Condor, RRa 2015, 15 = EuZW 2015, 75 = BeckRS 2014, 82441; zuvor schon: AG Rüsselsheim 12.12.2012 – 3 C 581/12-31, RRa 2013, 192 = BeckRS 2013, 03431; AG Frankfurt a.M. 10.4.2014 – 30 C 3491/13-25, RRa 2014, 252 = BeckRS 2014, 430756; aA AG Köln 24.9.2013 – 146 C 38/13; AG Nürtingen 5.6.2014 – 12 C 530/14). Denn dabei verwirklicht sich ein typisches, der Sphäre des Luftfahrtunternehmens zuzurechnendes Unternehmerrisiko, für die Bereitstellung eines einsatzfähigen Fluggerätes verantwortlich zu sein. Das Luftfahrtunternehmen muss sich dabei das Verhalten des Führers des Treppenfahrzeuges gemäß § 278 BGB zurechnen lassen, weil der Einsatz des Treppenfahrzeuges der (dem Passagier geschuldeten) Abfertigung des Flugzeuges dient und damit Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens und von ihm zu beherrschen ist. Die Beschädigung eines Flugzeuges auf dem Rollfeld durch ein Schleppfahrzeug ist kein außergewöhnlicher Umstand (AG Rüsselsheim 27.7.2012 – 3 C 468/12-37, RRa 2012, 233 = BeckRS 2012, 21693). Auch eine Beschädigung während eines Flugzeugschlepps durch das Personal eines Flughafenunternehmers von einer Werft oder Abstellposition zum Gate ist der Risikosphäre eines Luftfahrtunternehmens zuzurechnen (siehe dazu auch AG Bremen 29.12.2011 – 9 C 91/11, BeckRS 2012, 02233). Deshalb ist nach zutreffender Ansicht des AG Köln (9.1.2015 – 144 C 198/14) die Beschädigung der Frachtluke eines Flugzeuges durch ein Gepäckfahrzeug kein außergewöhnlicher Umstand

47a    Das Beliefern eines Flugzeugs durch eine Catering-Firma gehört zur normalen betrieblichen Tätigkeit einer Fluggesellschaft. Wenn hier- bei Fehler geschehen, ist das Teil des normalen Flugbetriebs. Dabei ist es unerheblich, wer die betrieblichen Aufgaben im Einzelnen für das ausführende Luftfahrtunternehmen erbringt oder ob dieses die Aufgaben selbst übernommen hat (AG Köln, Urt. v. 12.05.2014 – 142 C 600/13, NJW-RR 2014, 1277 = BeckRS 2014, 06322).

48    Das AG Rüsselheim hat dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vorgelegt, ob Eingriffe von eigenverantwortlich handelnden Dritten, die solche Aufgaben übertragen bekommen haben, die zum Betrieb eines Luftfahrtunternehmens gehören, als „außergewöhnliche Umstände“ i.S.d. Art. 5 Abs. 3 VO zu bewerten sind. Am 14.11.2014 hat der EuGH in der Rs. C-394/14 – Siewert ./. Condor (RRa 2015, 15 = EuZW 2015, 75) entschieden, dass ein Vorkommnis wie die Kollision eines Treppenfahrzeugs eines Flughafens mit einem Flugzeug nicht als „außergewöhnlicher Umstand“ qualifiziert werden kann.

48a   Auch die Beschädigung eines Flugzeuges durch ein nicht ausreichend gesichertes Bodenfahrzeug, das sich in der Nähe eines geparkten Flugzeugs befindet und durch den Turbinenstrahl eines anderen Flugzeugs (Jet blast) so bewegt wird, dass es mit dem geparkten Flugzeug kollidiert, liegt nicht außerhalb dessen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Damit kann bei solchen Schäden kein „außergewöhnlicher Umstand“ gegeben sein (LG Frankfurt, Urt. v. 25.06.2015 – 2-24 S 51/15, Rra 2016, 191 = juris).

4. Verspätete Abfertigung

49    Verspätungen bei der Abfertigung durch das Bodenpersonal fallen in den Risikobereich eines Luftfahrtunternehmens (AG Hannover 6.12.2012 – 522 C 7701/12, RRa 2013, 143 = BeckRS 2013, 10217). Das gilt insbesondere dann, wenn zu wenig Personal eingesetzt und zu wenige Schalter geöffnet wurden (AG Erding 05.7.2006 – 4 C 309/06, RRa 2007, 41 = BeckRS 2007, 08912). Zeichnet sich ab, dass innerhalb der verbleibenden Zeit bis zum Schluss der Abfertigung (Check-in-deadline) die noch wartenden Fluggäste nicht abgefertigt werden können, muss das Luftfahrtunternehmen dafür sorgen, dass weitere Schalter geöffnet und diese mit zusätzlichem Personal besetzt werden.

5. Flugsicherungsprobleme

50   Beruht die Verspätung darauf, dass das pünktlich gestartete Flugzeug wegen Überfüllung des Luftraums am Ankunftsflughafen zunächst keine Landeerlaubnis erhält und der Fluggast seinen Anschlussflug verpasst, geht nach Ansicht des BGH (13.11.2013 – X ZR 115/12, RRa 2014, 79 = NJW 2014, 859) die Verspätung auf „außergewöhnliche Umstände“ i. S. v. Art. 5 Abs. 3 VO zurück, die die Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen entfallen lassen. Das BG Schwechat (10.09.2012 – 1 C 944/11a; 28.11.2012 – 1 C 672/12b, RRa 2015, 102) vertritt dagegen die Ansicht, dass eine starke Belastung von Flughafeneinrichtungen oder des Luftraums ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht als „außergewöhnlicher Umstand“ angesehen werden kann.

51    Wird die geplante Abflugzeit verschoben, weil das Radargerät der Flugsicherung vorübergehend ausgefallen ist und wird für den verschobenen Start ein Abflugslot vergeben, der zu einer Landezeit während eines Nachtflugverbots am Zielflughafen führt, ist nach Ansicht des AG Erding (Urt. v. 18.04.2011 − 2 C 1053/11, RRa 2012, 31) von einem außergewöhnlichen Umstand auszugehen.

52    Verzögert sich der Abflug, weil kurz vor dem Start ein anderes Flugzeug auf der Startbahn verunglückt ist, kann ein außergewöhnlicher Umstand vorliegen (so AG Köln, Urt. v. 24.06.2013 – 131 C 89/12; BG Schwechat, Urt. v. 16.12.2015 – 18 C 491/15). Das kann aber nur dann gelten, wenn der Flughafen vollkommen gesperrt war, nicht aber, wenn der Flugbetrieb auf anderen Start- und Landebahnen weiter abgewickelt wurde. Das Luftfahrtunternehmen muss dann darlegen und beweisen, dass der Flug auf der gesperrten Start- und Landebahn hätte starten sollen und warum ein Start auf den anderen Bahnen nicht möglich war.

53    Führen Hinweise in einer „NOTAM“ (Notices to Airmen) zu einer Flugplanänderung, kann sich ein Luftfahrtunternehmen für eine daraus resultierende Verspätung nicht stets entlasten (VG Darmstadt, Urt. v. 23.04.2013 – 4 K 922/11.DA, RRa 2013, 246), Denn „NOTAM’s“, die vom Flugsicherungsunternehmen im Rahmen seines Flugberatungsdienstes herausgegeben werden, sind lediglich Hinweise für Luftfahrer über Errichtung, Zustand oder Änderung von Luftfahrtanlagen, Dienste, Verfahren oder über Gefahren, deren rechtzeitige Kenntnis für das betroffene Luftfahrtpersonal wesentlich ist (z.B. der Hinweis, dass auf dem Flughafen nicht getankt werden kann oder darf). Das Luftfahrtunternehmen bzw. der Luftfahrer muss dann entscheiden, welche Maßnahmen getroffen werden müssen. Da die Hinweise in der Regel mit zeitlichem Vorlauf erfolgen, bleibt genügend Zeit für organisatorische Maßnahmen, so dass es schon am Merkmal „außergewöhnlich“ scheitert.

53a    Der Ausfall des Computersystems eines Flugsicherungsunternehmens liegt nicht im Einflussbereich eines Luftfahrtunternehmens und ist daher ein außergewöhnlicher Umstand (BG Schwechat, Urt. v. 21.11. 2014 – 1 C 150/14s13, best. v. LG Kornneuburg – 21 R 97/15k).

53b      Die Slotvergabe liegt nicht im Einflussbereich eines Luftfahrtunternehmens. Wenn es daher zu einer Einschränkung des Flugverkehrskommt, auf Grund eines länger zurückliegenden Brandes im Terminal 3 des Flughafens in Rom, kann grundsätzlich vom Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“ ausgegangen werden. Wenn aber einem Luftfahrtunternehmen Unregelmäßigkeiten im Flugbetrieb bereits Tage vor planmäßigem Abflug bekannt sind, so ist es ihm auch zumutbar, sich entsprechend zu informieren und (Organisations-)Maßnahmen für die rechtzeitige Beförderung der Fluggäste ans Endziel zu treffen (z.B. Umbuchung auf einen anderen Flug oder Ersatzbeförderung über einen anderen Umsteigeflughafen), um so eine rechtzeitige Beförderung an das Endziel sicherzustellen (BG Schwechat, Urt. v. 07.10.2015 – 1 C 399/15k). Welche Maßnahmen ergriffen wurden oder warum diese nicht getroffen werden konnten, muss das Luftfahrtunternehmen konkret vortragen (BG Schwechat, Urt. v. 11.06.2015 – 16 C 813/14a).

6. Nachtflugbeschränkungen (Nachtstart- und Nachtlandeverbote)

54     Ein auf einem Flughafen bestehendes Nachtflugverbot (präziser: Nachtflugbeschränkungen für bestimmte Flüge durch ein Nachtlande- und/oder Nachtstartverbot) kann schon begrifflich kein „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne des Art. 5 Abs. 3 VO sein, weil für die Qualifizierung der Umstände als „außergewöhnlich“ maßgeblich ist, dass sie sich von denjenigen Ereignissen unterscheiden, mit denen typischerweise bei der Durchführung eines einzelnen Fluges gerechnet werden muss (so auch Schuster RRa 2014, 2 ff.). Der Umstand der regelmäßigen Schließung eines Flughafens zu bestimmten Zeiten muss bzw. kann einem Luftfahrtunternehmen (z.B. z.B. durch Mitteilung im NOTAM) bekannt sein (LG Stuttgart 21.3.2012 – 13 S 93/11, NJW-RR 2013, 380 = BeckRS 2013, 03397; AG Frankfurt a.M. 2.8.2012 – 29 C 1297/12-46, BeckRS 2015, 14152; AG Rüsselsheim 29.6.2015 – 3 C 1047/15-42). Es ist daher vorhersehbar und liegt schon deswegen nicht „außerhalb des Gewöhnlichen“ (siehe dazu oben A III). Ein Luftfahrtunternehmen kann und muss solche Beschränkungen – ebenso wie z.B. dauerhafte oder vorübergehende Überflugverbote oder Verbote, in bestimmte Flugsperr- oder Flugbeschränkungsgebiete einzufliegen – bei der Flugplanung berücksichtigen. Ob ein außergewöhnlicher Umstand aus dem Verantwortungsbereich des Luftfahrtunternehmens kommt, ist unerheblich (so zutreffend: Schuster RRa 2014, 2 ff.)

55     Doch selbst wenn man im Nachtflugverbot einen „außergewöhnlichen Umstand“ sehen wollte (so z.B. LG Darmstadt 6.11.2013 – 7 S 74/13, BeckRS 2014, 23445; 18.12.2013 – 7 S 90/13, BeckRS 2014, 02323), muss ein Luftfahrtunternehmen vortragen, welche Maßnahmen es ergriffen hat, um zu vermeiden, dass ein Abflug sich so verspätet, dass ein Nachtflugverbot relevant werden kann (LG Stuttgart aaO →Rn. 54). Der Umstand, dass die Abflugzeit aufgrund von Problemen bei der Beladung des Flugzeugs vor dem Start in den Zeitraum des Nachtflugverbotes gerät, liegt allein im Risikobereich eines Luftfahrtunternehmens und ist daher kein außergewöhnlicher Umstand (AG Frankfurt a.M. 27.6.2013 – 30 C 1055/13-25, BeckRS 2014, 23444). Plant ein Luftfahrtunternehmen den Abflug nahe an einem für den Startflughafen bestehenden Nachtflugverbot, muss es eine (auf Erfahrungswerten basierende) realistische Zeitreserve einplanen und zudem durch erhöhte Anstrengungen Sorge dafür tragen, dass die Abfertigungsabläufe zeitlich eingehalten werden können. So muss es uU früher als üblich mit dem Einsteigen der Passagiere und dem Verladen des Gepäcks beginnen und sicherstellen, dass das Flugzeug ohne Verzögerungen aus der Parkposition abrollen kann (push back). Genügt es diesen Anforderungen nicht, kann es sich nicht entlasten, wenn es infolge des verzögerten Abrollens nicht mehr rechtzeitig am Startpunkt der Startbahn ankommt und ihm deswegen das Flugsicherungsunternehmen die Startfreigabe verweigert (so auch AG Frankfurt a.M. 8.2.2013 – 30 C 2290/12-47, RRa 2013, 190 = BeckRS 2013, 13954). Das AG Rüsselsheim indes hat diese Frage denselben Flug betreffend gegensätzlich entschieden. Im Urteil vom 27.9.2013 – 3 C 3617/12-37 (BeckRS 2014, 23446) hat es sich davon leiten lassen, dass trotz der unstreitigen Verspätung der Bodenabfertigung das Flugzeug hätte noch starten können, wenn sich nicht noch sechs andere Flugzeuge vor dem Fluggerät der Beklagten befunden hätten. Auch der erfolglose Versuch, eine Ausnahmegenehmigung für einen Start nach Eintritt des Nachtflugverbotes zu erhalten, wirke sich entlastend aus.

56    Verlässt ein Flugzeug seine Parkposition aber pünktlich, liegen weitere Verzögerungen nicht mehr in der Sphäre des Luftfahrtunternehmens. Erreicht das Flugzeug in einem solchen Fall den Startpunkt erst nach Eintritt eines Nachtflugverbotes, liegt ein außergewöhnlicher Umstand vor (AG München, Urt. v. 10.01.2014 – 212 C 11471/13).

57   Wenn man – entgegen hier vertretener Ansicht – ein Nachtflugverbot als außergewöhnlichen Umstand ansieht, muss das Luftfahrtunternehmen, das sich zu seiner Entlastung darauf beruft, vortragen und beweisen, dass allein das Nachtflugverbot kausal für die Annullierung oder große Verspätung des Fluges war und nur deshalb die geplante Ankunft am Endziel um mehr als 3 Stunden überschritten wurde und sich andere Gründe der Verzögerung (z. B. ein technisches Problem) letztlich nicht ausgewirkt haben (so AG Rüsselsheim 23.10.2013 – 3 C 729/13-36, BeckRS2014, 23447 = RRa 2014, 103 Ls.). Wird z.B. die geplante Abflugzeit verschoben, weil das Radargerät der Flugsicherung vorübergehend ausgefallen ist, und wird für den verschobenen Start ein Abflugslot vergeben, der zu einer Landezeit während eines Nachtflugverbots am Zielflughafen führt, ist nach Ansicht des AG Erding (18.4.2011 − 2 C 1053/11, RRa 2012, 31 = BeckRS 2012, 05649) von einem außergewöhnlichen Umstand auszugehen

58    In der Entscheidung vom 27.6.2013 – 30 C 1055/13-25 (BeckRS 2014, 23444) hat das AG Frankfurt a.M. die Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 3 VO zutreffend eng ausgelegt, um – entsprechend der Erwägungsgründe Nr. 1 und 2 9 ein hohes Schutzniveau der Fluggäste sicherzustellen. Der Umstand, dass die Abflugzeit aufgrund einer von dem Luftfahrtunternehmen zu vertretenden technischen Störung in den Zeitraum des Nachtflugverbotes rutschte, lag nach der Überzeugung des Gerichts allein in dessen Risikosphäre. Daneben ist die Verspätung vom Luftfahrtunternehmen trotz Nachtflugverbotes zu vertreten, da nur eine Zeitreserve vor Inkrafttreten des Flugverbotes von nur 75 Minuten eingeplant wurde.

59     Unterschiedlich werden auch die Fälle beurteilt, in denen ein Flugzeug den Luftraum über dem Zielflughafen mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden erreicht hat oder hätte erreichen können, ihm aber eine Landegenehmigung wegen des bestehenden Nachtflugverbotes verweigert wurde. Mit Urteil vom 2.8.2012 hat das AG Frankfurt a.M. (29 C 297/12-46, juris = openJur) entschieden, dass das in Frankfurt a.M. vorherrschende Nachtflugverbot kein „außergewöhnlicher Umstand“ ist, der zur Entlastung des Luftfahrtunternehmens führen kann. Nach der Überzeugung des Gerichts beruht das Nachtflugverbot nicht auf einer plötzlichen und unvorhersehbaren Behördenentscheidung, sondern allein darauf, dass das Luftfahrtunternehmen infolge eines technischen Defektes die Landung nicht innerhalb des vorgesehenen Slots beabsichtigte. Hierbei hat das Amtsgericht auch gewürdigt, dass die geplante Landung lediglich 25 Minuten vor dem Inkrafttreten des Nachflugverbotes geplant worden war. Den Grund für die mehr als 3-stündige Verspätung der Landung hat das Amtsgericht somit allein im – aus unbekannten Gründen – verspäteten Start gesehen. Auch ein Spruchkörper des AG Rüsselsheim (27.11.2013 – 3 C 3394/13-31, BeckRS 2014, 23448) sieht das Nachflugverbot nicht als „außergewöhnlichen Umstand“ an, weil es „kein überraschendes und unabwendbares Ereignis darstellt, das vom Luftfahrtunternehmen weder vorhersehbar noch beherrschbar ist.“

60    Ein Teil der Spruchkörper des AG Rüsselsheim sieht dagegen im Bestehen des Nachtflugverbotes immer einen „außergewöhnlichen Umstand“, wenn allein deswegen der „haftungsfreie“ Zeitraum von drei Stunden überschritten bzw. eine Umleitung des Fluges zu einem anderen Flughafen ohne Nachtflugbeschränkungen vorgenommen wird (Urt. v. 23.10.2013 – 3C 729/13-36, BeckRS 2014, 23447; ebenso: AG Rüsselsheim 27.11.2013 – 3 C 3394/13-31, BeckRS 2014, 11430).

61    Nach zutreffender Auffassung ist aber in den Fällen, in denen das Nachtflugverbot eine Verspätung von über 3 Stunden verursacht, allein auf die Ausgangsursache abzustellen. Liegt für die Ausgangsursache kein entlastender Grund vor, kann das Bestehen eines Nachtflugverbots auch nicht als solches als „außergewöhnlicher Umstand“ angesehen werden. Diese Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH zur geringen Verspätung eines Zubringerfluges, die zur Folge hat, dass der Zubringerflug verpasst wird (BGH 7.5.2013 – X ZR 127/11, RRa 2013, 237 = NJW-RR 2013, 1065 = NZV 2013, 53). Auch eine Ursache, die – für sich betrachtet – keine Ansprüche nach der Verordnung nach sich zieht, kann, soweit sie eine große Verspätung am Endziel bedingt, nicht unberücksichtigt bleiben. Nur wenn ein Flug pünktlich abgefertigt wird bzw. pünktlich zum vom Nachtflugverbot bedrohten Flughafen startet, könnte über das Vorliegen eines „außergewöhnlichen Umstandes“ nachgedacht werden. Dieser könnte aber auch nur dann angenommen werden, wenn trotz pünktlichen Starts am Ausgangsflughafen eine außerhalb der Sphäre des Luftfahrtunternehmens liegende Verlängerung des Fluges eingetreten wäre, die das rechtzeitige Landen am Flughafen mit Nachtflugverbot verhindert hat. Davon ist auszugehen, wenn die Landebahn des Zielflughafens durch einen Unfall blockiert ist und das Flugzeug deswegen nicht vor dem Beginn des Nachtlandeverbotes am Endziel landen kann.

7. Fehlerhafte Sicherung eines Luftfahrzeuges

62    Das AG Frankfurt (Urt. v. 05.11.2009 − 32 C 1379/09-41, RRa 2010, 103 = ADAJUR Dok. Nr. 92942 Ls.) hat entschieden, dass ein Luftfahrtunternehmen sich nicht nach Art. 5 Abs. 3 VO entlasten kann, wenn ein Flugzeug in der Parkposition nicht durch Bremsklötze gesichert und deshalb beim Rückwärtsrollen beschädigt wurde.

8. Medizinischer Notfall

63    Ob die Erkrankung oder der Tod eines Fluggastes, der dazu führt, dass das Flugzeug umdrehen oder zwischenlanden muss, als ein außergewöhnlicher Umstand angesehen werden kann, ist umstritten. Der BGH hat in seinen „Streik-Urteilen“ (Urt. v. 21.08.2012 – X ZR 146/11, Rn. 15 f.; Urt. v. 21.08.2012 – X ZR 138/11, RRa 2012, 288, Rn. 10 und 13) festgestellt, dass der Gesetzgeber als „außergewöhnlichen Umstand“ nicht jedes unvermeidbare Ereignis genügen lassen wollte, sondern nur ein solches, das „nicht dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge entspricht“, d.h. „aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Luftverkehrs herausragt“. Aus diesem Blickwinkel könnte man Erkrankungen (z.B. Schlaganfälle, Herzinfarkte, Thrombosen o.ä.) und den Tod eines Fluggastes nicht als außergewöhnlichen Umstand ansehen, weil sie im Alltag des Luftverkehrs nicht selten sind. Sie ragen daher nicht aus den üblichen und zu erwartenden Abläufen des Luftverkehrs heraus, sondern sind Ereignisse, mit denen typischerweise bei der Durchführung eines einzelnen Fluges gerechnet werden muss und wird (offen gelassen: AG Düsseldorf 21.6.2013 – 43 C 6731/12, NRWE = BeckRS 2014, 08573). Deswegen werden die Flugzeugbesatzungen in regelmäßig wiederkehrenden Schulungen entsprechend ausgebildet. Doch hängt die Einordnung eines Ereignisses als „außergewöhnlich“ nicht von der Häufigkeit seines Auftretens in der täglichen Praxis des Flugverkehrs ab (so zutreffend BGH 24.9.2013 – X ZR 160/12, Rn.16, RRa 2014, 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683).

64    Dennoch ist bei einer Erkrankung oder Tod eines Fluggastes von Art. 5 Abs. 3 VO auszugehen. Nach der Rechtsprechung ist ein Ereignis immer dann ein „außergewöhnlicher Umstand“, wenn es auf ein Vorkommnis zurückgeht, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und aufgrund seiner Natur oder Ursache vom Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen ist (EuGH 22.12.2008, Rs. C-549/07 − Wallentin-Hermann ./. Alitalia, Rn.23, RRa 2009, 35 = NJW 2009, 347; 19.11.2009 C-402/07, NJW 2010, 43 = RRa 2009, 282 – Sturgeon u.a ./. Condor; 31.1.2013, Rs. C-12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921; BGH 24.9.2013 – X ZR 160/12, Rn.10, RRa 2014, 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683; EuGH 17.9.2015, Rs. C-257/14 – van der Lans ./. KLM, RRa 2015, 287 = NJW 2015, 3427). Eine Erkrankung oder der Tod eines Fluggastes, der dazu führt, dass das Flugzeug umdreht oder zwischenlandet, ist daher ein „außergewöhnlicher Umstand“ (AG Wedding 28.10.2010 – 2 C 115/10, RRa 2012, 38 = BeckRS 2012, 38; AG Frankfurt a.M. 1.3.2011 – 31 C 2177/10, RRa 2011, 144 = LSK 2011, 460187; LG Frankfurt a.M. 21.3.2014 – 2-24 S 160/13; Woitkewitsch MDR 2012, 193, 194; Bosch/Lorz NVZ 2013, 105, 107; aA AG Rüsselsheim 11.2.2011 – 3 C 2021/10-36). Auch ein Todesfall an Bord während des vorhergehenden Fluges entlastet ein Luftfahrtunternehmen (AG Frankfurt a.M. 01.3.2011). Das AG Düsseldorf (27.8.2015 – 40 C 287/15, RRa 2016 = BeckRS 2016, 05890) hat die plötzliche Erkrankung eines Passagiers (Herzinfarkt) während des Boardings und dessen nachfolgenden Tod an Bord des Flugzeugs als außergewöhnlichen Umstand iSd Art. 5 Abs. 3 VO angesehen. Wenn die Crew aufgrund eines solchen Vorfalls wegen der sich daraus ergebenden Überschreitung der höchstzulässigen Flugdienstzeit nicht weiterfliegen kann, kann dem Luftfahrtunternehmen nicht angelastet werden, dass eine Ersatz-Crew nicht zur Verfügung steht, wenn der Flughafen, an dem der außergewöhnliche Umstand eintritt, im Ausland liegt und nicht Heimatflughafen des Luftfahrtunternehmens ist (AG Düsseldorf aaO).

65    Ein „außergewöhnlicher Umstand“ kann grundsätzlich auch dann angenommen werden, wenn der medizinische Notfall auf einem unmittelbar vorausgehenden Flug aufgetreten ist (AG Frankfurt a.M. 1.3.2011 − 31 C 2177/10-83, RRa 2011, 144; AG Wedding 28.10.2010 − 2 C 115/10, RRa 2012, 38 = BeckRS 2012, 05651; AG Geldern 28.11.2007 – 14 C 273/07, BeckRS 2007, 65119 = NJOZ 2008, 309; AG Rüsselsheim 11.4.2015 – 3 C 2273/13-33, RRa 2016, 88; Bosch/Lorz NZV 2013, 105,107; aA früher: Schmid RRa 2012, 2, 4). In diesem Fall muss das Luftfahrtunternehmen aber darlegen und beweisen, welche zumutbaren Maßnahmen es zur Vermeidung der Verspätung des folgenden Fluges getroffen hat (AG Düsseldorf 27.9.2013 – 36 C 6837/13, RRa 2014, 42 = BeckRS 2014, 04042; dazu unten unter B, →85 ff.). Wenn der Vorflug schon am vorangegangenen Tag wegen eines medizinischen Notfalls verspätet am Heimatflughafen des Luftfahrtunternehmens angekommen ist, der unmittelbar folgende Flug aber erst am nächsten Tag von dort stattfindet, ist im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 VO zu prüfen, ob z.B. durch Umorganisation der Einsatzpläne die Verspätung des Folgefluges vermeidbar gewesen wäre. Das Luftfahrtunternehmen muss auch darlegen und beweisen, ob eine hinreichende Zeitreserve eingeplant worden ist und in welchem Umfang es Ersatz-Flugzeuge vorgehalten hat, die hätten eingesetzt werden können.

9. Fehlendes Enteisungsmittel

66     Ob die mangelnde Bevorratung von Enteisungsmitteln durch einen Bodenverkehrsdienstleister dem ausführenden Luftbeförderungsunternehmen zuzurechnen ist, wird unterschiedlich beurteilt. Während das AG Königs Wusterhausen (3.5.2011 − 20 C 83/11, RRa 2011, 196 = BeckRS 2011, 20520) die Zurechnung in einem Fall bejaht (ebenso OGH 3.7.2013 − 7 Ob 65/13d, RRa 2013, 256 = ecolex 2013,960 = ZVR 2014, 71 mAnm. Huber ZVR 2014, 126; LG Köln 9.4.2013 – 11 S 241/12, RRa 2014, 34 = BeckRS 2014, 04026; BG Schwechat 12.10.2011 – 4 C 580/11 v-10, RRa 2012, 101; AG Frankfurt a.M. 11.11.2015 – 30 C 2806/15-87, RRa 2016, 136 = BeckRS 2015, 20325), verneint ein anderer Spruchkörper desselben Gerichts dies in einer vergleichbaren Fall- Konstellation (8.6.2011 − 9 C 113/11, NJW-RR 2012, 51 = RRa 2011, 241 m abl. Anm. Schmid RRa 2011, 244). Zur Begründung wird wenig überzeugend ausgeführt, das vom Flughafenbetreiber beauftragte Unternehmen sei kein Erfüllungsgehilfe des Luftfahrtunternehmens. Originäre Aufgabe eines Luftfahrtunternehmens ist es aber, das eingesetzte Fluggerät in technisch einwandfreiem und betriebssicherem Zustand zu halten (so auch: BG Schwechat 12.10.2012 – 4 C 580/11v-10, RRa 2012, 101; AG Frankfurt a.M. 9.5.2014 – 29 C 3587/13-44, RRa 2015, 33 = ADAJUR Dok. Nr. 107512; AG Frankfurt a.M. 22.5.2015 – 29 C 286/15-85, RRa 2015, 237 = ADAJUR Dok. Nr. 109423; BGHS 12.10.2015 – 16 C 194/15v-12, RRa 2016, 52; 2016, 157; AG Frankfurt a.M. 11.11.2015 – 30 C 2806/15-87, RRa 2016, 136 = BeckRS2016, 11206; AG Hannover 3.5.2016 – 446 C 7085/15). Dazu gehört die Pflicht im Winterbetrieb, bei bestimmten Wetterbedingungen dafür Sorge zu tragen, eine Eisbildung auf den Tragflächen und Triebwerkseinlässen zu verhindern.bzw. zu beseitigen. Wenn ein Luftfahrtunternehmen diese Aufgaben nicht selbst durchführt, sondern einem Dritten überträgt, so wird dieser im maßgeblichen Pflichtenkreis des Luftfahrtunternehmens tätig mit der Folge, dass Letzteres sich sowohl das Handeln und als auch das Unterlassen des beauftragten Abfertigers auch hinsichtlich der Durchführung der Maßnahmen einer rechtzeitigen (Ersatz-)Bestellung und Bevorratung von Enteisungsmittel vollumfänglich zurechnen lassen muss (ebenso: LG Köln 9.4.2013 – 11 S 241/12, RRa 2014, 34 = BeckRS 2014, 04026; BG Schwechat 12.10.2012 – 4 C 580/11v-10, RRa 2012, 101; AG Frankfurt a.M. 9.5.2014 – 29 C 3587/13-44, RRa 2015, 33 = ADAJUR Do. Nr. 107512; BGHS 12.10.2015 – 16 C 194/15v-12, RRa 2016, 52; aA LG Darmstadt 3.11.2010 – 7 S 58/10, BeckRS 2012, 16183; AG Frankfurt a.M. 17.7.2007 – 31 C 1093/07, juris; AG Hannover 3.5.2016 – 446 C 7085/15; Schmid RRa 2011, 244; Flöthmann ZfS 2012, 188 (192); Blankenburg RRa 2015, 162 (167)). Das OLG Brandenburg hat daher völlig zutreffend entschieden, dass es für einen Entschädigungsanspruch gegenüber der Fluggesellschaft unerheblich ist, ob die Beschaffung des Enteisungsmittels dem betroffenen Flughafen, der Fluggesellschaft selbst oder einem Dienstleister obliegt (19.11.2013 – 2 U 3/13, RRa 2014, 81 = BeckRS 2013, 20622). Eine Entlastung des Luftfahrtunternehmens kommt aber dann in Betracht, wenn das mit der Bevorratung beauftragte Unternehmen nachweisen kann, dass es sich frühzeitig um die notwendig gewordenen Nachlieferungen bemüht hat (so auch Sendmeyer NJW 2011, 808 (811)).

66a    Engpässe beim Personal, die dazu führen, dass nicht die vorgesehene Anzahl von Flugzeugen in der vorgesehenen Zeit enteist werden kann, stellen keinen außergewöhnlichen Umstand dar. Denn die Fluggeräte technisch in einem flugbereiten Zustand zu halten, damit die Beförderung der Fluggäste zum vereinbarten Zeitpunkt möglich ist, liegt im alleinigen Verantwortungsbereich eines Luftfahrtunternehmens. Versäumnisse der Person (hier: der Flughafenbetreiber), die diese Aufgaben an ein Luftfahrtunternehmen delegiert hat, und die somit dessen Erfüllungsgehilfe ist, muss sich das Luftfahrtunternehmen zurechnen lassen (so zutreffend: AG Königs Wusterhausen 3.5.2011 – 20 C 83/11, RRa 2011, 196 = BeckRS 2011, 20520; BG Schwechat 12.10.2012 – 4 C 580/11v-10, RRa 2012, 101; ebenso: AG Frankfurt a.M. 9.5.2014 – 29 C 3587/13-44, RRa 2015, 33 = ADAJUR Dok. Nr. 107512; AG Hannover 3.5.2016 – 446 C 7085/15).

66b    Da im Winterbetrieb die Enteisung eines Flugzeuges als üblicher und zu erwartender Ablauf in die Flugdurchführung mit einzuplanen ist, stellt nach Ansicht des BG HS (Urt. v. 12.10.2015 – 16 C 194-15v, RRa 2016, 52) eine Verzögerung bei der Enteisung keinen außergewöhnlichen Umstand dar (ebenso: AG Hannover, Urt-v. 03.05.2016 – 446 C 7085/15).  Das muss jedenfalls für solche Verzögerungen gelten, die nach allgemeiner Erfahrung nicht auf dem jeweiligen Flughafen ungewöhnlich sind. Dabei sind die konkrete Verkehrszeit (Haupt-, Normal- oder Schwachverkehrszeit), die Zahl der in dieser Zeit abzufertigenden Flüge und die Leistungskapazität des Flughafens zu berücksichtigen.

10. Mangelhafte Schneeräumung

67    Hat die Annullierung oder Verspätung eines Fluges ihre Ursache in der mangelhaften Räumung der Rollwege und Start- und Landebahnen eines Flughafens durch den Flughafenbetreiber (z.B. weil zu wenige Räumfahrzeuge oder Personal vorgehalten wurden), so kann einem Luftfahrtunternehmen dies nicht zugerechnet werden. Zwar ist der Flughafenbetreiber einem Luftfahrtunternehmen, mit dem er einen Flughafennutzungsvertrag geschlossen hat, verpflichtet, einen betriebssicheren Flughafen zur Verfügung zu stellen (§ 45 LuftVZO) und entsprechende Ressourcen vorzuhalten (siehe dazu Schwenk/Giemulla, Handbuch des Luftverkehrsrechts [2005], S. 581), d.h. im Winter für eine ordnungsgemäße Befreiung der Bewegungsflächen von Eis und Schnee zu sorgen. Gleichwohl wird der Flughafenbetreiber bei dieser Tätigkeit nicht als „Leute“ des Luftfahrtunternehmens tätig, weil der Flughafenbetreiber beim Schneeräumen nicht in Ausführung einer ihm vom Luftfahrtunternehmen übertragenen Verrichtung handelt. Ein Luftfahrtunternehmen kann dem Betreiber eines Flughafens diese Aufgabe gar nicht (als originär eigene) übertragen, weil es (anders als bei der Enteisung eines Flugzeuges) nicht berechtigt ist, selbst die Schneeräumung vorzunehmen (so auch OGH 16.11.2012 – 6 Ob 131/12a, RRa 2013, 46 = Zak 2013, 41 = RdW 2013, 134 = ZVR 2013, 315; LG Köln 8.11.1979 – 15 O 75/78, VersR 1981, 90; aA OLG Wien 28.3.2012 – 5 R 227/11f, RRa 2012, 246 = juris). Zum Schutzbereich des Flughafennutzungsvertrages siehe auch RihS ZVR 2012, 141; Sigl, TranspR 2012, 349 und Tetzlaff, TranspR 2011, 134).

11. Der Ausfall von Besatzungsmitgliedern

68    Ungeklärt ist bislang, ob sich ein Luftfahrtunternehmen entlasten kann, wenn ein Flug annulliert werden musste oder nur mit großer Verspätung durchgeführt werden konnte, weil ein Besatzungsmitglied erkrankt ist. In der Regel berufen sich die Luftfahrtunternehmen darauf, dass ein außergewöhnlicher Umstand vorliegt, weil die Erkrankung eines Mitarbeiters ein Fall „höherer Gewalt“ sei und es eine bestimmte Zeit dauere, bis ein anderes Besatzungsmitglied, das aus dem Heimatstaat des Luftfahrtunternehmens eingeflogen werden müsste, und es zudem erst nach Ablauf der anschließenden Ruhezeit eingesetzt werden könnte.

69   In der Rs. C-549/07 – Hermann ./. Alitalia hat der EuGH mit Urteil vom 22.12.2008 (Ls. 3, Rn.23 und Rn.38 ff., Slg. 2008 I-11061 = RRa 2009, 35 = NJW 2009, 347; bestätigt in der Rs. Böck u.a. ./. Air France, aaO und 17.9.2015, Rs. C-257/14 – van der Lans ./. KLM, RRa 2015, 287 = NJW 2015, 3427) entschieden, dass „ein bei einem Flugzeug aufgetretenes technisches Problem, das zur Annullierung eines Fluges führt, nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind.“

70    Diese Überlegungen sind nicht auf die Fälle beschränkt, in denen ein Flug wegen eines technischen Problems annulliert werden muss oder nur mit großer Verspätung durchgeführt werden kann. Vielmehr lässt sich daraus ableiten, dass bei der Prüfung, ob ein „außergewöhnlicher Umstand“ vorliegt, also auch in anderen Fällen zu prüfen ist, ob die Annullierung oder große Verspätung auf ein Vorkommnis zurückgeht, das aufgrund seiner Natur oder Ursache Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens ist. So hat auch LG Darmstadt im Urteil vom 06.04.2011 − 7 S 122/11 (RRa 2011, 290 = BeckRS 2011, 28874) entschieden: „Es ist allein der betrieblichen Sphäre der Fluggesellschaft zuzurechnen, wenn ein bei ihr beschäftigter Mitarbeiter erkrankt und deshalb seine vorgesehenen Aufgaben nicht wahrnehmen kann. Die Erkrankung eines Crew-Mitgliedes ist daher kein „außergewöhnlicher Umstand“ und führt nicht nach Art. 5 Abs. 3 VO zum Wegfall der Leistungspflicht.“ (so auch: AG Frankfurt a.M. 20.5.2011 – 31 C 245/11-16, juris = ADAJUR Dok. Nr. 98523 (Ls.); AG Königs Wusterhausen 1.6.2012 – 9 C 138/12, RRa 2013, 193 = BeckRS 2013 13956; AG Rüsselsheim 17.9.2010 – 3 C 598/10 (31), RRa 2010, 278 = BeckRS 2011, 00386 [das Berufungsverfahren wurde beim LG Darmstadt unter dem Aktenzeichen 7 S 131/10 geführt und durch Vergleich beendet]; LG Düsseldorf 22.8.2014 – 22 S 31/14, RRa 2015, 125 = BeckRS 2015, 12082; HG Wien 18.6.2012 – 1 R 153/11p; LG Korneuburg 21 R 90/13b; AG Düsseldorf 14.8.2015 – 37 C 15236/14, RRa 2016, 196; siehe auch →Woitkewitsch MDR 2012, 193 (194); Bosch/Lorz NZV 2013, 105 (107)). Der BGH hat diese Frage bislang nicht entschieden: Im Urteil vom 18.2.2010 – Xa ZR 95/06 Rn. 16 (RRa 2010, 93 = NJW 2010, 2281) hatte er die Frage noch offen gelassen; im Revisionsverfahren (X ZR 92/14) zum vorerwähnten Urteil des LG Düsseldorf wurde die Klage vor der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.

71    Dem Untergericht kamen dann aber wohl Zweifel, ob diese Rechtsprechung ausgewogen genug ist, denn in neueren Entscheidungen differenziert das AG Rüsselsheim danach, wo die Erkrankung eingetreten ist: Erkrankt das Besatzungsmitglied am Heimatflughafen, kann der Luftfahrtunternehmer ein anderes Besatzungsmitglied aus dem Bereitschaftsdienst einsetzen; in diesem Fall soll kein „außergewöhnlicher Umstand“ vorliegen. Erkrankt das Besatzungsmitglied aber während eines Umlaufs fernab vom Heimatflughafen, soll ein „außergewöhnlicher Umstand“ vorliegen. Das überzeugt nicht vollumfänglich, weil die Zuordnung eines Ereignisses zum unternehmerischen Risiko nicht davon abhängen kann, wo der Arbeitnehmer erkrankt. Wenn die Crew aufgrund des Eintritts eines außergewöhnlichen Umstandes und der sich daraus ergebenden Überschreitung der maximalen Flugdienstzeit nicht weiterfliegen kann, kann es dem Luftfahrtunternehmen nicht angelastet werden, dass eine Ersatz-Crew nicht zur Verfügung steht, wenn der Flughafen, an dem der außergewöhnliche Umstand eintritt, im Ausland liegt und nicht Heimatflughäfen des Luftfahrtunternehmens ist (so auch: AG Düsseldorf, Urt. v. 27.08.2015 – 40 C 287/15, RRa 2016, 25 = BeckRS 2016, 05890).

71a     Das BG Schwechat (Urt. v. 23.09.2015 – 1 C 297/15h; best. v. LG Korneuburg, Urt. v. 09.02.2016 – 22 R 10/16z) vertritt die Ansicht, dass der Umstand, dass Piloten und Mitglieder der Kabinenbesatzungsmitglieder erkranken als „gewöhnliches Unternehmerrisiko“ anzusehen sei. Ein Luftfahrtunternehmer müsse daher Vorsorge treffen, dass für den Fall der Erkrankung eines Besatzungsmitgliedes Ersatz so rechtzeitig zur Verfügung steht, dass ein Flug unter drei Stunden Verspätung am Ziel ankommt. Das gelte auch für Einsätze, die nicht vom Heimatflughafen erfolgen.

71b   Nach Auffassung des LG Düsseldorf (22.8.2014 – 22 S 31/14, RRa 2015, 125 = BeckRS 2015, 12082) liegt ein „außergewöhnlicher Umstand“ auch dann nicht vor, wenn ein Pilot aufgrund einer Lebensmittelvergiftung während eines Fluges erkrankt und der Flug deswegen zum Startflughafen zurückgeführt wird. Die zur Verspätung führende Erkrankung des Piloten während des Fluges ist nach dieser zutreffenden Ansicht mit einem technischen Problem vergleichbar (aA die Vorinstanz: AG Düsseldorf 19.2.2014 – 232 C 14479/13, openJur). Dieses Urteil lag dem BGH zur Überprüfung vor (X ZR 92/14); die Klage wurde aber vor der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.

72    Das Vorstehende gilt auch, wenn ein Besatzungsmitglied aus anderen Gründen (Ermüdung, Genuss von Alkohol) nicht einsatzfähig ist.

73    Droht eine Überschreitung der maximalen Flugdienstzeit der Flugzeug-Besatzung (Piloten oder Flugbegleiter) aufgrund von Verzögerungen durch den Einbau von Einrichtungen zur Beförderung eines erkrankten oder verletzten Passagiers (z. B. einer Krankentrage [Stretcher] für den Liegendtransport eines Fluggastes), muss das Luftfahrtunternehmen nach Ansicht des LG Frankfurt a.M. (2.9.2011 − 2-24 S 47/11, RRa 2011, 238 = BeckRS 2011, 24163) eine Ersatz-Crew bereithalten. Die Erfordernis, einen kranken Passagier liegend zu transportieren, kommt in aller Regel nicht überraschend; vielmehr wird ein solcher Auftrag von einem Reiseveranstalter, einem Versicherungsunternehmer oder dem Passagier längere Zeit im Vorfeld eines Fluges erteilt. Wenn es dabei zu Zeitverzögerungen kommt, liegt dies in seinem organisatorischen Bereich ist ihm daher zuzurechnen.

74     Zutreffend hat das AG Frankfurt  a.M. (03.06.2016 – 30 C 4307/15-71) entschieden, dass das Risiko, dass aufgrund geringfügiger Verzögerungen im Betriebsablauf die Crew-Dienstzeiten überschritten werden, in aller Regel innerhalb der betrieblichen Sphäre des Luftfahrtunternehmen liegt und sich nicht als ein von außerhalb kommender Umstand darstellt.

74a   Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen auf außergewöhnliche Umstände, weil die vorgesehene Besatzung nach einem verspäteten Vor-Flug eine Mindestruhezeit einhalten müsse, hat es nach einem Urteil des AG Hannover (31.1.2011 − 426 C 12868/10, RRa 2011, 144 = BeckRS 2011, 17049 = juris) darzulegen, warum keine Ersatz-Crew einsetzbar gewesen sei. (Ausführlich dazu mit Beispielen aus der Praxis: →Schmid RRa 2012, 2 (5)).

75    Im Übrigen ist einem verbreiteten Irrtum entgegenzutreten: Auch bei Ausfall eines Besatzungsmitgliedes muss grundsätzlich kein Flug annulliert werden. Da nach den gesetzlichen Bestimmungen (JAR-OPS 1.990 [b] [2]) bei Flugzeugen mit mehr als 19 Sitzplätzen ab jedem 50. Passagiersitzplatz 1 Flugbegleiter an Bord sein muss, um in einem Notfall das Flugzeug rasch und geordnet und damit sicher evakuieren zu können, kann der Flug durchgeführt werden, wenn so viele Passagiere aussteigen, dass für jeweils 50 der an Bord bleibenden Fluggäste ein Flugbegleiter an Bord ist. Fällt ein Flugbegleiter aus, kann der Flug dennoch durchgeführt werden, wenn so viele Fluggäste „abgeladen“ werden, dass für die verbleibenden die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von Flugbegleitern zur Verfügung steht (siehe: JAR-OPS 1.990 [d]). (Siehe zu dieser Fallkonstellation: AG Düsseldorf 14.08.2015 – 37 C 15236/14, RRa 2016, 196 = juris).

75a     Es gehört auch zum betrieblichen Risiko eines Luftfahrtunternehmens, dass Besatzungsmitglieder den Flugdienst mit Verspätung antreten (so auch BGHS 12.10.2015 – 16 C 194/15v, RRa 2016, 52). Dies gilt auch, wenn die Besatzungsmitglieder auf einem Flughafen eingesetzt werden, auf dem keine eigenen Crews vorgehalten werden, diesen Einsatzort rechtzeitig erreichen. Wenn eine Besatzung auf dem Weg von der Heimat-Basis zum Einsatzort in einen Verkehrsstau gerät, kann sich ein Luftfahrtunternehmen regelmäßig nicht entlasten. Dies gilt insbesondere dann, wenn für die Beförderung, die in die Flugdienstzeit fällt, keine ausreichende Zeitreserve eingeplant wurde. Eine solche ist daran zu bemessen, wie „staugefährdet“ ein Transport auf der Strecke ist. Ist von einer Staugefährdung auszugehen, muss das Luftfahrtunternehmen darlegen, warum nicht eine Anreise am Vortag geplant wurde.

75b   Wenn ein Fluggast den Anweisungen der Besatzung nicht Folge leistet, randaliert und grundsätzlich ernstzunehmende Drohungen ausspricht, liegt nach Ansicht des AG Frankfurt (Urt. v. 08.06.2016 – 31 C 397/16-17) hinsichtlich der durch eine Sicherheitslandung verursachten Verspätung des Fluges ein außergewöhnlicher Umstand vor. Es stellt sich die Frage, ob solche Störungen im Flugumlauf (z.B. eine Ausweichlandung) nicht schon deswegen nicht außergewöhnlich sind, weil Störungen im Flugumlauf (z.B. eine Ausweichlandung) sich grundsätzlich innerhalb des normalen Betriebsablaufes bewegen ( so zutreffend AG Frankfurt a.M. 22.04.2016 – 30 C 11/15-71).. Jedenfalls kommt eine Entlastung wegen eines „außergewöhnlichen Umstandes“ aber dann nicht in Betracht, wenn sich nicht schon vor oder beim Einsteigen das Boden- oder Bordpersonal hätte erkennen können, dass der Fluggast aggressiv ist oder werden könnte.

12. Streik

76    Im Erwägungsgrund 14 VO wird u.a. der „den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigende Streik“ als außergewöhnlicher Umstand erwähnt. Es steht außer Zweifel, dass Streiks des Personals des Luftfahrtunternehmens Ausgleichsansprüche auslösen können. Teilweise wurde in der Literatur die Meinung vertreten, dass sich nur ein externer Streik entlastend auswirke (Bartlik RRa 2009, 272, 278; Schmid NJW 2006, 1841, (1843, dort Fn. 36); Staudinger RRa 2006, 254; Staudinger/Schürmann NJW 2010, 2771 (2775 f.)). Demgegenüber wollen andere auch bei Arbeitsniederlegung des Personals des mit der Flugdurchführung beauftragten Luftfahrtunternehmens einen außergewöhnlichen Umstand annehmen (AG Köln 4.8.2009 − 133 C 191/09, NRWE = openJur; Makiol/Harke ZLW 2008, 696; unklar: Führich RRa 2010, 57). Erwägungsgrund 14 VO unterscheidet aber nicht zwischen betriebsinternen und betriebsfremden Arbeitskampfmaßnahmen.

77    Im Urteil vom 21.08.2012 (X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 = RRa 2012, 288 = NJW 2013, 374 =ZLW 2013, 128) hat der BGH entschieden, dass bei einem Streik „außergewöhnliche Umstände“ i.S.d. Art. 5 Abs. 3 VO vorliegen, wenn eine Gewerkschaft im Rahmen einer Tarifauseinandersetzung die Piloten eines Luftverkehrsunternehmens zur Arbeitsniederlegung aufruft und das bestreikte Luftverkehrsunternehmen Flüge annulliert, um den Flugplan an die zu erwartenden Auswirkungen des Streikaufrufs anzupassen. In einer solchen Situation hat ein Luftverkehrsunternehmen allerdings die Pflicht, den Betriebsablauf möglichst schon im Vorfeld entsprechend zu reorganisieren. Nach Ansicht des BGH hat es dabei aber „darauf hinzuwirken, dass die Beeinträchtigung für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfällt und dass nach dem Wegfall der Beeinträchtigungen möglichst schnell wieder der Normalbetrieb aufgenommen werden kann. Schöpft das Luftverkehrsunternehmen unter Einhaltung dieser Anforderungen die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen in dem gebotenen Umfang aus, kann die Nichtdurchführung eines einzelnen Fluges in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert werden können.“ Angesichts der komplexen Entscheidungssituation, bei der eine Vielzahl von Flügen sowie deren Verknüpfung untereinander zu berücksichtigen ist, billigt der BGH dem Luftverkehrsunternehmen einen Spielraum bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen zu.

78    Das hat dazu geführt, dass in der Öffentlichkeit der irrige Eindruck entstanden ist, ein Luftfahrtunternehmen könne sich bei der Annullierung oder Verspätung eines Fluges aufgrund eines Streiks per se darauf berufen, dass ein „außergewöhnlicher Umstand“ vorgelegen habe und es deshalb von der Pflicht zur Zahlung der Ausgleichsleistung befreit sei. Das HG Wien hat in seinem Urt. v. 28.08.2013 – 1 R 266/12g, RRa 2013, 294) völlig zu Recht entschieden, dass ein Luftfahrtunternehmen zu seiner Entlastung konkret zu behaupten und zu beweisen habe, dass und warum es ihm auch unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel offensichtlich nicht möglich war, ohne nicht tragbare Opfer den „außergewöhnlichen Umstand“ zu vermeiden, der zur Annullierung des Fluges geführt hat. (Siehe dazu ausführlich unten unter C).

79    Nach zutreffender Ansicht des West London County Court (Urt. v. 17.04.2009 − Rigby ./. Iberia) stellt ein wilder Streik am Flughafen einen außergewöhnlichen Umstand i.S.d. Art. 5 Abs. 3 VO dar, der das Luftfahrtunternehmen zur Ablehnung der geforderten Ausgleichszahlungen berechtigt. Gleiches gilt bei einem durch Streik bedingten Funktionsausfall am Zielflughafen (AG Frankfurt, Urt. v. 13.06.2013 − 29 C 2918/12-19, RRa 2013, 285) sowie für Streikmaßnahmen von Mitarbeitern der Vorfeldaufsicht und -kontrolle sind (AG Rüsselsheim, Urt. v. 27.11.2013 – 3 C 305/13-31, RRa 2014, 146 = BeckRS 2014,12193).

79a    Können Fluggäste wegen eines Streiks des Personals der Sicherheitskontrolle auf einem Flughafen nicht rechtzeitig am Flugsteig sein, hat das Luftfahrtunternehmen dafür nicht einzustehen. Da die Sicherheitskontrolle Aufgabe der Bundespolizei ist, kann ein Luftfahrtunternehmen die Kontrollen nicht durch eigenes Personal durchführen lassen (so auch: AG Hamburg 09.05.2014 – 36a C 462/13, RRa 2014, 249 = BeckRS 2014, 18885).

79b   Auch bei Streik der Fluglotsen kann sich ein Luftfahrtunternehmen auf Art. 5 Abs. 3 VO berufen (AG Königs Wusterhausen 31.1.2011 – 4 C 308/10, RRa 2011, 240 = BeckRS 2011, 21454). Gleiches gilt für Streikmaßnahmen von Mitarbeitern der Vorfeldaufsicht und Vorfeldkontrolle (AG Rüsselsheim 27.11.2013 – 3 C 305/13-31, RRa 2014, 146 = BeckRS 2014, 12193).

80  Das AG Hamburg (4.10.2013 – 20a C 206/12, RRa 2014, 94 = BeckRS 2014, 08343) hat zutreffend Zweifel geäußert, ob Art. 5 Abs. 3 VO bei einer Nichtbeförderung angewendet werden könne, und zugleich ausgeführt, dass selbst wenn man das bejahte, ein außergewöhnlicher Umstand nicht angenommen werden könne, wenn das Luftfahrtunternehmen einen Fluggast nicht zu einem Anschlussflug befördert, weil es davon ausging, dass der Anschlussflug wegen eines möglichen Streiks mit großer Wahrscheinlichkeit ausfallen werde.

13. Schäden durch Tiere: Vogelschlag und Bienen

81     Bei einem Schaden am Flugzeug durch einen Vogelschlag kommt nach Ansicht des BGH (24.9.2013 – X ZR 129/12, BeckRS 2013, 19627 und X ZR 160/12, RRa 2014, 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683) eine Entlastung nach Art. 5 Abs. 3 VO in Betracht (so auch schon: LG Frankfurt a.M. Beschl 10.11.2010 – 2-24 S 143/10; LG Frankfurt a.M. 29.11.2012 – 2-24 S 111/12, RRa 2013, 85 = BeckRS 2013, 07398; LG Hamburg 13.1.2012 – 318 S 98/11, RRa 2012, 187 = BeckRS 2012, 17511 = juris; LG Düsseldorf 8.8.2008, – 22 S 378/07, NRWE = juris; LG Darmstadt 1.8.2007 – 21 S 263/06, RRa 2008, 88 = BeckRS 2008, 04227; LG Darmstadt 1.12.2010; LG Darmstadt 24.7.2013 – 7 S 242/12, RRa 2014, 29 = BeckRS 2013, 13226; LG Hannover 18.1.2012 – 14 S 52/11, RRa 2012,185 = BeckRS 2012, 02954; AG Leipzig, 7.7.2010 – 109 C 7651/09, BeckRS 2010, 17165, AG Rüsselsheim 26.10.2010 – 3 C 1400/09; AG Bremen 29.12.2011 – 9 C 91/11 Rn.17, BeckRS 2012, 02233; Müller-Rostin, NZV 2009, 432). Nach Ansicht des BGH handelt es sich dabei um ein von außen einwirkendes Ereignis, das für das Luftfahrtunternehmen nicht vorhersehbar und nicht beherrschbar ist. Dabei ist der BGH aber erkennbar davon ausgegangen, „das Beschädigungen an Flugzeugen durch Vogelschlag g e l e g e n t l i c h vorkommen“ (24.9.2013 – X ZR 160/12, Rn.16, RRa 2014, 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683). Es ist daher zweifelhaft, ob ein Vogelschlag auch dann ein außergewöhnlicher Umstand ist, wenn die Anflug- oder Abflugroute zu und von einem Flughafen über ein bekanntes Vogelbrutgebiet führt.

82    Das AG Frankfurt hat die Ansicht vertreten, dass eine Beschädigung eines Triebwerkes durch einen Vogelschlag kein außergewöhnlicher, sondern vielmehr ein beim Betrieb eines Flugzeugs durchaus vorkommender, geradezu typischer Umstand sei, da Vögel den Luftraum ebenso wie Flugzeuge nützen (Urt. v. 13.3.2013 – 29 C 811/11-21, RRa 2013, 187 = LSK 2013, 341069 = juris; siehe auch AG Hamburg, Urt. v. 05.04.2011 – 22a C 215/10; KG, Urt. v. 30.04.2009 – 8 U 15/09, zit. nach juris; siehe auch Bartlik, RRa 2009, 278). Derselben Auffassung war ein Richter des Manchester County Court in dem Rechtstreit Tomothy Ash v. Thomas Cook Airlines; in seinem Urteil vom 28.04.2015 führte er aus: „ For my part I observe that the word used is ‘extraordinary’ rather than ‘unexpected’, ‘unforeseeable’, ‘unusual’ or even ‘rare’. ‘Extraordinary’, to me, connotes something beyond unusual. Bird strikes happen every day, in fact many times a day, and would hardly be worthy of comment but for the delay which they cause.” (Quelle: The Telegraph vom 29.04.2015). Da dieses Argument nicht von der Hand zu weisen ist, ist es bedauerlich, dass der BGH diese Rechtsfrage nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Am 12.8.2015 hat das AG Frankfurt a.M. (29 C 1224/13-21, RRa 2016, 103) beschlossen, die Sache selbst dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Daraufhin hat das Luftfahrtunternehmen die Forderung anerkannt. Aufgrund der erneuten Vorlage dieser Rechtsfrage durch ein Bezirksgericht in Prag (ABl. EU 2015 C 414, 12) hat der Generalanwalt Bot inzwischen dem EuGH am 28.7.2016 in der Rechtsache C-315/15 – Pešková und Peška ./. Travel Service empfohlen zu entscheiden, dass ein Vogelschlag kein „außergewöhnlicher Umstand“ iSd Art. 5 Abs. 3 VO ist, weil ein Vogelschlag nach seiner Ansicht zum gewöhnlichen Betriebsrisiko eines Luftfahrtunternehmens gehöre (ECLI:EU:C: 2016:623).

82a    Ein Luftfahrtunternehmen, das sich auf einen Vogelschlag als außergewöhnlichen Umstand beruft, muss substantiiert vortragen und beweisen, wann der Vogelschlag eingetreten ist; die bloße Behauptung, der Vogelschlag sei „offensichtlich“ beim Landeanflug des Vorfluges aufgetreten, ist nicht ausreichend (AG Frankfurt, Urt. v. 17.01.2014 – 30 C 2462/13-68, RRa 2014, 254 = LSK 2015, 460512).

83    Nach Auskunft des DAVVL e. V. ereignen sich die meisten Vogelschläge in niedrigen Flughöhen 0 – 240 m über Grund (siehe Drucks. 16/2642 des Bayerischen LT vom 11.12.2009). Es handelt sich dabei um ein Ereignis, das in Europa meldepflichtig ist (RL 2003/42/EG vom 13.6.2003 über die Meldung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt, ABl. EG 2003 L 167, 23). Siehe dazu oben → Rn.18. Wird der Vogelschlag vom Luftfahrtunternehmen bestritten, kann von ihm verlangt werden, dass es die Meldung an die zuständige Luftfahrtbehörde vorlegt.

84    Nach Meinung des AG Düsseldorf (27.9.2013 – 36 C 6837/13, RRa 2014, 42 = BeckRS 2014, 04042) kann eine Biene im Staurohr als außergewöhnlicher Umstand gelten; jedoch ist das Luftfahrtunternehmen darlegungspflichtig, welche „zumutbaren Maßnahmen“ ergriffen wurden. Gleiches gilt, wenn ein Flugzeug desinfiziert werden muss, weil sich eine Maus oder Ratte an Bord geschlichen hat. Weil Nagetiere z.B. das Gummi von Kabelisolationen und Silikonschläuchen annagen könnten, wodurch blankliegende Metallverbindungen zu Kurzschlüssen an den Leitungen und Kabelbrände auslösen könnten, müssen sie nach internationalen Sicherheitsbestimmungen entweder gefangen oder getötet werden. Daher hat das AG Düsseldorf (8.10.2014 – 47 C 17099/13, BeckRS 2015,17181 = juris) entschieden, dass der Umstand, dass ein Nagetier an Bord eines Flugzeuges gelangt, zwar ein unvorhersehbares und nicht beherrschbares Ereignis ist. Ob das Ereignis aber wirklich „außergewöhnlich“ ist, muss zumindest bei einigen Flughäfen dieser Welt in Zweifel gezogen werden. Das BG Schwechat (20.1.2015 – 18 C 514/14w-13) vertritt die Ansicht, dass die Anwesenheit eines Nagetieres an Bord eines Flugzeuges „auf jedem Fall in der Sphäre des Luftfahrtunternehmens angesiedelt und nicht unbeeinflussbar auf höhere Gewalt oder Einwirkung durch Dritte zurückzuführen ist.“ Derartige Vorkommnisse begründeten daher keinen außergewöhnlichen Umstand

14. Sicherheitslandung wegen Gefährdung der Flugsicherheit

84a    Wird ein Vorflug unplanmäßig auf einem Ausweichflughafen unterbrochen, weil nach Turbulenzen infolge einer Gewitterfront in der Kabine Brandgeruch festgestellt wurde, stellt eine solche Sicherheitslandung nach Ansicht des LG Darmstadt (6.11.2013 – 7 S 208/12, NJW-RR 2014, 435 = BeckRS 2014, 01044) einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO dar. Führt ein Flugzeug auf Anweisung der Bundespolizei eine Zwischenlandung durch, weil sich an Bord des Flugzeuges ein nicht sicherheitsüberprüfter Koffer befindet, liegt nach Ansicht des AG Hannover (30.9.2013 – 532 C 7883/12, RRa 2014, 151 = LSK 2014, 360340) kein „außergewöhnlicher Umstand“ vor.

15. Aggressive Fluggäste

84b     Wird aufgrund eines unkontrollierbaren und aggressiven Verhaltens eines Fluggastes an Bord eines Luftfahrzeuges eine Zwischenlandung (Sicherheitslandung) erforderlich, so liegt in der Regel ein „außergewöhnlicher Umstand“ vor, so dass ein Luftfahrtunternehmen sich entlasten kann, wenn sich der Flug dadurch verspätet (AG Frankfurt a.M. 8.6.2016 – 31 C 397/16-17). Das gilt auch, wenn durch die Zwischenlandung das Endziel nicht mehr erreicht werden kann, weil die gesetzlich vorgeschriebene (nicht: tarifvertraglich vereinbarte) maximal zulässige Flugdienstzeit überschritten werden würde und die Besatzung daher erst eine Mindest-Ruhezeit nehmen muss (so auch AG Frankfurt a.M. 18.11.2014 – 30 C 1066/14-32, RRa 2015, 239 = ADAJUR Do. Nr. 109409; AG Frankfurt a.M. 08.6.2016 – 31 C 397/16 -17). Ein „außergewöhnlicher Umstand“ liegt aber nicht vor, wenn für das Luftfahrtunternehmen oder seine Bediensteten bzw. Auftragnehmer vor oder beim Einsteigen des Fluggastes erkennbar war, dass dieser bereits stark angetrunken ist und als „unruly passenger“ ein Risiko für die Flugsicherheit darstellen könnte. In solchen Fällen ist vorhersehbar (und daher nicht außergewöhnlich), dass eine Sicherheitslandung notwendig werden könnte.

16. Zu knappe Umkehrzeit

84c    Nach Ansicht des BG Schwechat (Urt. v. 17.06.2013 – 1 C 344/12t-23) muss ein Luftfahrtunternehmen bei der Umlaufplanung einen ausreichenden Zeitpuffer zwischen Ankunft des Vorfluges und einem Anschlussflug planen. Es ist es ihm bei einer Umlaufkette zumutbar, die Flüge so zu koordinieren, dass eine geringfügige Verspätung eines Vorfluges nicht dazu führt, dass auch der Folgeflug verspätet abfliegt, mit der Folge, dass dessen in einem einheitlichen Buchungsvorgang gebuchter Anschlussflug verpasst wird. Plant ein Luftfahrtunternehmen für die Bodenzeit zwischen Ankunft und Wiederabflug (Umdrehzeit, Turnaround time) nur 45 Minuten, obwohl die Mindestumdrehzeit 40 Minuten beträgt, nimmt es billigend in Kauf, dass selbst bei einer geringen Verspätung des Vorfluges der Folgeflug verspätet und kann sich deswegen nicht auf „außergewöhnliche Umstände“ berufen.

17. Verzögerung durch Sicherheitskontrollen

84d     Die Sicherheitskontrolle auf Flughäfen (Durchsuchung von Personen und Gepäck) nach § 5 LuftSiG ist eine hoheitliche Aufgabe und gehört daher nicht zu den Aufgaben eines Luftfahrtunternehmens oder des Flughafenbetreibers, sondern ist allein Aufgabe der Polizei (in der Bundesrepublik Deutschland ist sie hoheitliche Pflichtaufgabe der Bundespolizei). Die Kontrolle kann zwar von der zuständigen Polizei (in Deutschland: Bundespolizei) auf einen Dritten (privaten Sicherheitsdienst) übertragen werden, die Luftfahrtunternehmen und Flughafenbetreiber dürfen sie aber nicht eigenständig durchführen und können die Maßnahmen auch nicht beeinflussen. Daher zählen die mit der Aufgabe beauftragten Personen nicht zu den „Leuten des Luftfrachtführers iSd.Art.19 S. 2 MÜ (OGH , Urt.v, 16.11.2012 – 6 Ob 131/12a, RRa 2013, 46; BG Schwechat, Urt. v. 07.07.2014 – 1 4 C 189/14y, best. v. LG Korneuburg, Urt. v. 12.03.2015 – 21 R 343/14k). Verpasst ein Fluggast durch die Dauer der Sicherheitskontrolle seinen Flug, ist das dem Luftfahrtunternehmen nicht zuzurechnen, so dass das Luftfahrtunternehmen grundsätzlich entlastet ist, wenn der Fluggast nicht befördert wird (so auch LG Korneuburg, a.a.O.; AG Schwechat, Urt. v. 30.10.2015 – 18 C 373/15m). Etwas anderes kann aber dann gelten, wenn eine Luftfahrtunternehmen, das einem Flugreisenden eine Umsteigeverbindung zu seinem Endziel anbietet, die Umsteigezeit ohne ausreichende Berücksichtigung der zur Verkehrszeit üblichen Dauer der Sicherheitskontrolle berechnet und angibt (siehe dazu oben → Rn. 79a).

18. Abflugverzögerung durch Behörden

84e Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen zur Entlastung nach Art. 5 Abs. 3 VO darauf, dass eine Zoll- oder Einwanderungsbehörde Behörde den Abflug verzögert habe, so reicht die Vorlage eines Auszuges aus dem „Flugprotokoll“ des betriebseigenen Systems nicht aus, weil dies lediglich als Parteivortrag zu werten und deshalb kein ausreichender Beweis ist (AG Frankfurt 12.07.2016 – 30 C 779/16-45). Ist einem Luftfahrtunternehmen bekannt, dass es auf bestimmten Flughäfen häufiger zu Verzögerungen bei der Flugfreigabe durch die Behörden kommt, darf sie ihre Anschlussflüge zeitlich nicht derart eng planen, dass es notgedrungen immer wieder mal zum Verpassen der Anschlussflüge kommt (AG Frankfurt aaO).

19. Gepäckentladung wegen Nichterscheinens eines eingecheckten Passagiers

84f      Der Umstand, dass ein Passagier nicht zum Boarding erscheint und sein Gepäck wieder ausgeladen werden muss, ist kein „außergewöhnlicher Umstand“. Vielmehr handelt es sich bei diesem Vorgang um einen gewöhnlichen und häufig vorkommenden Umstand, der üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann (so auch: BG HS, Urt, v. 12.10.2015 – 16 C 194-15v; AG Frankfurt, Urt. v. 09.03.2016 – 29 C 1685/15 -21).

20. Umbuchung eines Fluggastes

84g   Eine Umbuchung durch den Reiseveranstalter ist kein „außerge- wöhnlicher Umstand“ i.S.d. Art. 5 Abs. 3 VO, weil sie kein unvermeidbares Ereignis ist, das aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Luftverkehrs herausragt (BGH, Urt. v. 21.08.2012 – X ZR 146/11, juris = openJur).

B. Eintritt der „außergewöhnlichen Umstände“ auf einem Vorflug

85    Auch wenn ein Ereignis als „außergewöhnlicher Umstand“ zu bewerten ist, stellt sich die Frage, ob nur Ereignisse und Umstände berücksichtigt werden können, die während des vom Fluggast gebuchten Fluges eingetreten sind oder ob auch solche berücksichtigt werden dürfen, die sich auf einen vorangegangenen Flug beziehen. Im letzteren Fall stellt sich die weitere Frage, wie viele solcher Vorflüge noch herangezogen werden können. Das AG Rüsselsheim hat aber mit weiterem Beschluss vom 16.10.2013 (3 C 1933/12-32) die Frage dem EuGH erneut zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der EuGH hat das Vorabentscheidungsverfahren als Rechtssache C-575/13 – Etzold u.a ./. Condor geführt, bis es wieder aus dem Register gestrichen wurde, weil auch in diesem Rechtsstreit das beklagte Luftfahrtunternehmen die Forderung dann doch anerkannt hat, um eine bindende höchstrichterliche Entscheidung zu vermeiden.

86   Unklare Begriffe in unionsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften, die eine Einschränkung der Verbraucherrechte darstellen, sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eng auszulegen (10.03.2005, Rs. C-336/03 − easyCar, Slg. 2005, I-1947, Rn 21; 10.01.2006, Rs. C-344/04 − IATA und ELFAA, Rn 76, RRa 2006, 127 = NJW 2006, 351; 22.12.2008, Rs. C-549/07 − Wallentin-Hermann ./. Alitalia, Rn 16 ff., Slg. 2008 I-11061 = RRa 2009, 35 = NJW 2009, 347). Um eine solche Bestimmung handelt es sich bei Art. 5 Abs. 3 VO, weil sie die Rechte der Fluggäste einschränkt. In diesem Verständnis muss gefordert werden, dass der außergewöhnliche Umstand mit dem konkreten Flug in einem engen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen muss (so auch: AG Geldern 28.11.2007 − 14 C 273/07; LG Düsseldorf 22.08.2014 – 22 S 31/14, RRa 2015, 125 = BeckRS 2015, 12082; aA AG Wedding 28.10.2010 − 2 C 115/10). Je größer der Zeitabstand zwischen beidem ist, desto höhere organisatorische Anforderungen sind an das Fluggastunternehmen zu stellen, das versuchen muss, die Verspätung durch zumutbare Maßnahmen zu vermeiden (so auch: AG Königs Wusterhausen 17.02.2016 – 4 C 1942/15).

86a      Wenn sich also der außergewöhnliche Umstand auf dem unmittelbaren Vorflug ereignet hat, ist er zu berücksichtigen. In keinem Fall aber kann er berücksichtigt werden, wenn er auf einem Flug vor dem unmittelbaren Vorflug eingetreten und entdeckt worden ist (so AG Rüsselsheim 2.12.2012 − 3 C 855/12-37; 27.11.2013 – 3 C 3304/13-31; allerdings ist dies nicht h.M. aller Spruchkörper dieses Gerichts). Das gilt erst Recht, wenn der außergewöhnliche Umstand jedoch am Vortag eingetreten und entdeckt worden ist (AG Königs Wusterhausen 17.2.2016 – 4 C 1942/15, RRa 2016, 138 = BeckRS 2016, 11220). Noch weiter geht das AG Düsseldorf (27.9.2013 – 36 C 6837/13, RRa 2014, 42 = BeckRS 2014, 04042), das die Ansicht vertritt, Störungen im vorangegangenen Flugbetrieb seien grundsätzlich dem Luftfahrtunternehmen zuzurechnen (so auch AG Hamburg 08.1.2015 – 20a C 219/14, RRa 2015, 241 = BeckRS 2015, 09460). Ist ein Ereignis auf einem Vorflug erfolgt, muss das Luftfahrtunternehmen daher auch konkret vortragen, welche Maßnahmen es ergriffen hat, um die Verspätungen der nachfolgenden Flüge zu vermeiden bzw. weswegen ihm derartige Maßnahmen nicht zumutbar waren. Dabei muss es insbesondere auch darlegen, welche Zeitreserve zwischen dem Vorflug bzw. den Vorflügen und dem streitgegenständlichen Flug bestand und inwieweit es Verspätungen aufgrund derartiger außergewöhnlicher Umstände in seinem Flugumlauf eingeplant und berücksichtigt hat (so auch: AG Erding 26.1.2012 – 5 C 1252/12; 23.7.2012 – 3 C 719/12, RRa 2013, 31 = BeckRS 2013, 03515; AG Hannover 30.9.2013 – 532 C 7883/12, RRa 2014, 151 = LSK 2014, 360340; AG Köln 12.5.2014 – 142 C 600/13, NJW-RR 2014, 1277). Da es im Organisationsbereich der Fluggesellschaft liegt, an einem Tag etwa eintretende Defekte (ob diese rein technisch sind oder auf außergewöhnliche Umstände zurückgehen) an einzelnen Flugzeugen der Flotte einzuplanen und jederzeit für angemessenen Ersatz zumindest für nachfolgende Tage sorgen zu können (AG Königs Wusterhausen 17.2.2016 – 4 C 1942/15, RRa 2016, 138 = BeckRS 2016, 11220). Daher muss ein Luftfahrtunternehmen, das sich entlasten will, darlegen und ggf. beweisen, in welchem Umfang es Ersatz-Flugzeuge vorgehalten hat, die hätten eingesetzt werden können. Falls das Luftfahrtunternehmen keine Ersatzflugzeuge vorhält, muss es darlegen, welche Maßnahmen es bei Ausfall eines Flugzeuges geplant hat. Wegen der zahlreichen Möglichkeiten, zumutbare Maßnahmen (z.B. durch eine Umplanung der Flugzeugumläufe und/oder der Umbuchung von Fluggästen auf andere Flüge) zu ergreifen, wird die Entlastung in der Regel nicht gelingen, z.B. wenn der Vorflug schon am vorangegangenen Tag verspätet am Heimatflughafen des Luftfahrtunternehmens angekommen ist, der unmittelbar folgende Flug aber erst am nächsten Tag stattfindet.

86b   Hat sich ein Vogelschlag auf einem Vorflug ereignet, muss ein Luftfahrtunternehmen vortragen, ob es nicht angesichts der Zeitspanne zwischen der Landung des für den streitgegenständlichen Flug vorgesehenen Fluggeräts am Abend zuvor und dem geplanten Abflug am nächsten Morgen möglich gewesen wäre, das Fluggerät noch rechtzeitig zu reparieren oder eine Ersatzflugzeug vom Heimatflughafen der Beklagten zum Abgangsflughafen einzufliegen (AG Frankfurt a.M. 17.1.2014 – 30 C 2462/13-68, RRa 2014, 254 = LSK 2014, 4300758 = ADAJUR Dok. Nr. 106346).

87    Nicht entlasten kann sich ein Luftfahrtunternehmen, wenn der Grund für eine Verspätung in der Organisationsentscheidung liegt. Bei vielen Luftfahrtunternehmen werden die Flüge in sog. Umlaufverfahren durchgeführt (Flugketten). Entscheidet ein Luftfahrtunternehmen, das für einen bestimmten Flug vorgesehene Flugzeug, das schon die Vorflüge mit erheblicher Verspätung durchgeführt hat, wie geplant weiter einzusetzen und sieht es davon ab, ein Ersatzflugzeug einzusetzen, mit dem der pünktliche Abflug möglich gewesen wäre, so beruht die Verspätung der folgenden Flüge allein auf einer unternehmerischen Entscheidung mit den Folgen der Verspätung, die Passagiere sämtlicher Flüge des Umlaufs zu belasten, statt die folgenden Flüge mit einem Ersatzflugzeug pünktlich auszuführen. In diesem Fall liegt kein „außergewöhnlicher Umstand“ vor. Mit Blick auf die in den Erwägungsgrün­den Nr. 1 bis 4 zur Verordnung hervorgehobene Zielsetzung, die Rechte der Fluggäste zu stärken, hat es das LG Hannover (18.1.2012- 14 S 52/11, RRa 2012, 185 = BeckRS 2012, 02954) bei einem vergleichbaren Sachverhalt zu Recht nicht akzeptiert, dass das Luftfahrtunter­nehmen nur mit Blick auf den allein in seiner Organisation und Ablaufplanung angelegten Entscheidungskonflikt entlastet wird (ihm folgend: AG Rüsselsheim 5.7.2013 – 3 C 145/13-37, BeckRS 2014, 17980). Mit Recht hat das AG Köln (12.5.2014 – 142 C 600/13, NJW-RR 2014, 1277) entschieden, dass ein Luftfahrtunternehmen, das ein Fluggerät auf mehreren Flugstrecken hintereinander in einem engen Zeitplan eingesetzt, damit das Risiko bewusst in Kauf nimmt, dass sich die Verzögerung eines Vorfluges auch auf die nachfolgenden Flüge auswirkt. Dieses Risiko, das in der Risikosphäre des durchführenden Luftfahrtunternehmens liegt, kann aber nicht auf die Passagiere abgewälzt werden.

C. Die zumutbaren Maßnahmen

1. Allgemeines

88     Aber auch wenn ein »außergewöhnlicher Umstand« vorgelegen hat, ist ein Luftfahrtunternehmen noch nicht entlastet. Es muss vielmehr nach Art. 5 Abs. 3 VO darlegen und beweisen, dass sich die Annullierung oder Verspätung auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (OGH 3.7.2013 – 7 Ob 65/13d, RRa 2013, 256 = ecolex 2013,960 = ZVR 2014, 71 mAnm. Huber ZVR 2014, 126). Dabei kommt es nicht darauf an, dass die außergewöhnlichen Umstände vermieden werden (was ein Mensch nicht leisten kann), sondern deren Folgen (so zutreffend BGH 14.10.2010 – Xa ZR 15/10, Rn.26, RRa 2011, 33 = NJW-RR 2011, 355; BGH 24.9.2013 – X ZR 160/12, Rn.21, RRa 2014, 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683; ebenso: Schuster, RRa 2014, 2 ff.). Einige Gerichte (z.B. LG Dortmund 10.1.2013 – 11 S 31/12; LG Köln 26.2.2013 – 11 S 511/11; AG Hannover 1.2.2013 – 517 C 11149/12; AG Bremen 29.12.2011 – 9 C 91/11, BeckRS 2012, 02233; AG Rüsselsheim Beschl. v. 9.7.2014 – 3 C 3969/14-36, RRa 2016, 39). vertreten die Ansicht, dass nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 VO und Erwägungsgrund 14 der Verordnung abzuleiten ist, dass nur solche Maßnahmen zu ergreifen sind, die der Vermeidung der außergewöhnlichen Umstände, nicht aber deren Folgen dienen. Das AG Rüsselsheim (aaO) hat daher die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.

89       Damit ein Gericht beurteilen kann, ob alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden sind, bedarf es eines konkreten und substantiierten Vortrags des Luftfahrtunternehmens, (1) aufgrund welcher Umstände es zu der sehr großen Verspätung gekommen ist, (2) welche Auswirkungen dies auf die nachfolgend geplanten Flüge gehabt hat und (3) welche Möglichkeiten zur Verfügung standen, um diese Folgen zu verhindern.

90      Welche Maßnahmen einem ausführenden Luftfahrtunternehmen zuzumuten sind, um zu vermeiden, dass außergewöhnliche Umstände zu einer erheblichen Verspätung oder der Annullierung eines Flugs führen, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls (BGH 24.9.2013 – X ZR160/12, Rn.20, RRa 2014 , 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683; LG Frankfurt a.M. 26.9.2014 – 2-24 S 13/14, RRa 2015, 75; so auch Schuster RRa 2014, 2 ff.).

91    Damit das angerufene Gericht, insbesondere aber der Tatrichter diese beurteilen kann, muss das Luftfahrtunternehmen darlegen, welche anderen personellen, materiellen und finanziellen Mittel ihm zur Verfügung standen, um den Flug zum geplanten Zeitpunkt durchzuführen und aus welchen Gründen es ihm gegebenenfalls nicht zumutbar war, auf diese Ressourcen zurückzugreifen (BGH 14.10.2010 – Xa ZR 15/10, RRa 2011, 33 f. = NJW 2011, 355; 21.8.2012 – X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 = RRa 2012, 288 = NJW 2013, 374; 21.8.2012 – X ZR 146/12, Rn.21, openJur). Das Luftverkehrsunternehmen muss nach Ansicht des BGH darlegen, aufgrund welcher Umstände es zur Annullierung oder Verspätung gekommen ist, welche Auswirkungen dies ggf. auf die nachfolgend geplanten Flüge gehabt hat und welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung standen, um „diese Folgen (nicht: die außergewöhnlichen Umstände!) zu vermeiden. Ferner hat das Luftfahrtunternehmen zu beweisen, dass es ihm auch unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel nicht möglich gewesen wäre – ohne angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer – die „außergewöhnlichen Umstände“ zu vermeiden, mit denen es konfrontiert war und die zur Annullierung oder zur Verspätung des Fluges geführt haben (BGH aaO; ebenso: LG Hannover 18.1.2012 – 14 S 52/11, RRa 2012, 185 = BeckRS 2012, 02954) und aus welchen Gründen es ihm nicht möglich und/oder zumutbar war, auf diese Ressourcen zurückzugreifen (AG Paderborn 15.3.2012 – 50 C 254/11, juris; AG Rüsselsheim 05.072013 – 3 C 145/13-37; LG Korneuburg 25.8.2015 – 22 R 34/15b).

92    Im Hinblick auf die Anforderungen an die Vermeidung außergewöhnlicher Umstände betonte der EuGH (12.5.2011 (Rs. C-294/10 − Eglitis u. Ratnieks ./. Latvijas Republikas Ekonomikas ministrija, RRa 2011, 125 = NJW 2011, 2865; ihm folgend LG Frankfurt a.M. 2.9.2011 − 2-24 S 47/11, RRa 2011, 238 = BeckRS 2011, 24163 und BGH 24.9.2013 – X ZR 160/12, RRa 2014, 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683), dass ein Luftfahrtunternehmen die mit dem Eintritt von außergewöhnlichen Umständen verbundene Möglichkeit von Verspätungen bei der Flugplanung angemessen berücksichtigen und entsprechende Vorkehrungen treffen muss. Daher habe das Luftbeförderungsunternehmen eine gewisse Zeitreserve vorzusehen, um den Flug insgesamt möglichst bald nach dem Wegfall der außergewöhnlichen Umstände durchführen zu können. Der EuGH wies zwar darauf hin, dass daraus nicht geschlossen werden könne, dass Luftfahrtunternehmen allgemein und undifferenziert eine Mindest-Zeitreserve einplanen müssten, die für sämtliche Luftfahrtunternehmen unterschiedslos in allen Situationen des Eintritts außergewöhnlicher Umstände gelte; doch bleibt ein Luftfahrtunternehmen grundsätzlich verpflichtet, Zeitreserven einzuplanen. Das muss insbesondere für solche Flüge gelten, bei denen in der Vergangenheit bereits häufiger Probleme mit der Einhaltung der von der Flugplanung zugrundgelegten Flugzeiten oder Flugdienstzeiten gegeben hat. Im Urteil vom 24.09.2013 – X ZR160/12 (BeckRS 2013, 19683) hat der BGH klargestellt, dass ein Luftfahrtunternehmen bei Störungen seines Flugplanes dartun und beweisen muss, dass es „angemessen vorbereitet ist und die im Personenluftverkehr üblichen Vorkehrungen getroffen hat, um auf solche Störungen reagieren und die Annullierung oder erhebliche Verspätung eines hiervon betroffenen Fluges wenn möglich vermeiden zu können“ (Rn. 21).

93     Wird ein Flug annulliert, muss das Luftfahrtunternehmen darlegen und beweisen, welche Maßnahmen es getroffen oder zu treffen versucht hat, um dem Fluggast eine zumutbare anderweitige Beförderung unter vergleichbaren Reisebedingungen zum Endziel zu verschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. b und c VO i.V.m. Erwägungsgrund 12). Dabei darf es aber nicht nur die Möglichkeit der Ersatzbeförderung auf eigenen Flügen (oder solchen eines Partner-Unternehmens) betrachten, sondern muss auch prüfen, ob eine Umbuchung auf einen Flug eines anderen Luftfahrtunternehmens, der durchgeführt wird, möglich ist (so auch AG Bremen 4.8.2011 – 9 C 135/11, juris Rn.23; siehe dazu auch OGH 3.7.2013 – 7 Ob 65/13d, RRa 2013, 256= ecolex 2013,960 = ZVR 2014, 71 mAnm. Huber ZVR 2014, 126 ; aA BGH 12.6.2014 – X ZR 104/13 und X ZR 121/13, RRa 2014, 293 = NJW 2014, 3303 = BeckRS 2014, 21109; LG Frankfurt a.M. 26.9.2014 – 2-24 S 13/14). Nur so kann der Zweck und das Ziel der Verordnung (siehe Erwägungsgrund 4: Erhöhung des Schutzstandards) erreicht werden. Aus diesem Grund muss ein Luftfahrtunternehmen auch den Einsatz eines eigenen Ersatzflugzeuges oder die Anmietung eines Ersatzflugzeuges mit fremder Besatzung (sog. Subcharter) prüfen (so auch LG Frankfurt a.M. 26.9.2014 – 2-24 S 13/14; AG Frankfurt a.M. 4.7.2014 – 30 C 3971/13-68, RRa 2016, 36 = BeckRS 2016, 10461; LG Korneuburg 25.8.2015 – 22 R 34/15b; aA LG Darmstadt 24.7.2013 – 7 S 242/12, RRa 2014, 29 = BeckRS 2013, 13226 ohne nähere Begründung); es ist nicht ausreichend, wenn das Luftfahrtunternehmen wartet, bis irgendwann ein anderes Flugzeug aus der eigenen Flotte zur Verfügung steht.

93a       Das LG Korneuburg (25.8.2015 – 22 R 34/15b) hat entschieden, dass die Behauptung, eine Ersatzflugzeug habe nicht zur Verfügung gestellt werden können, dass während der Hochsaison ein andere Flugzeug ohnehin nicht unter zwei Stunden für den geplanten Flug bereitgestellt hätte werden können und ohnedies eine Umbuchung der Passagiere zum Zielort erfolgt sei, kein zur Entlastung ausreichender Vortrag sei.

94    Das Vorstehende gilt entsprechend, wenn sich nach vernünftiger Einschätzung eines objektiven Dritten abzeichnet, dass sich der Start des Fluges erheblich verspäten und es deswegen absehbar zu einer erheblich großen Ankunftsverspätung kommen wird.

94a     Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen auf widrige Wetterbedingungen und daraus resultierende Steuerungsmaßnahmen eines Flughafenunternehmers oder des Flugsicherungsunternehmens, so muss es konkret vortragen, „welche Maßnahmen zur schnellstmöglichen Weiterreise erwogen bzw. ergriffen worden sind und warum ggf. derartige Maßnahmen von vorneherein aussichtslos und damit ggf. sinnlos gewesen wären“ (so auch BG Schwechat, Urt. v. 11.06.2016 – 16 C 813/14a).

94b   Trägt ein Luftfahrtunternehmen, das sich nach Art. 5 Abs. 3 VO entlasten will, nicht (den vorstehenden Kriterien genügend) konkret vor, „kommt sie ihrer Behauptungspflicht nach Art. 5 Abs. 3 VO nicht nach“ (so zutreffend OGH 3.7.2013 – 7 Ob 65/13d, unter 3.3, RRa 2013, 256, 258 = ecolex 2013,960 = ZVR 2014, 71 mAnm. Huber ZVR 2014, 126).

95    Ungeklärt ist, ob unter „vergleichbaren Reisebedingungen“ die Beförderung in der gleichen Beförderungsklasse gemeint ist. Mit Blick auf Art, 10 VO wird man davon ausgehen müssen, dass sowohl eine Höherstufung (Upgrade) als auch eine Herabstufung (Downgrade) zu prüfen ist. Die Rechtsfolgen beider Maßnahmen sind in Art. 10 VO geregelt.

95a    Ein Luftfahrtunternehmen kann sich nicht auf einen bestimmten „außergewöhnlichen Umstand“ (z.B. Vogelschlag) berufen, wenn es sich in der vorprozessualen Korrespondenz darauf nie bezogen hat, obwohl es insoweit aufgefordert wurde, den Entlastungsgrund zu konkretisieren (so auch AG Düsseldorf, Urt. v. 13.03.2014 – 22 C 374/14, RRa 2014, 146, BeckRS 2014, 12192).

95 b    Wenn das Luftfahrtunternehmen konkret und umfangreich dargelegt und bewiesen hat, dass weder eine Umbuchung der Fluggäste auf andere Flüge (auch über Umsteigeverbindungen) noch die Beschaffung eines anderen Flugzeuges gleicher Größe (Subcharter) die Fluggäste nicht früher als tatsächlich erfolgt zum Endziel gebracht hätte (z.B. weil der streitgegenständliche Flug der letzte Abflug in den Abendstunden vor Schließung des Flughafens war) ist der Nachweis, dass es alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, erbracht (BG Schwechat, Urt. v. 11.12.2015 – 4 C 36615d). Ungeklärt ist aber noch die Frage, ob es einem Luftfahrtunternehmen, dass z.B. den Flugzeugtyp Boeing 747 (ca. 470 Sitzplätze) einsetzt, nur ein gleich großes Flugzeug anzuchartern versuchen muss, oder ob es auch – wenn solches nicht verfügbar ist – kleineres (z.B. eine Boeing 777 mit ca. 350 Sitzplätzen), aber verfügbares Flugzeug anchartern muss, um wenigstens einen Teil der gestundeten Fluggäste zeitnah weiter zu befördern. Letzteres erscheint zumutbar zu sein, wenn so das Ziel der Verordnung (Vermeidung von Unannehmlichkeiten für Fluggäste) so – wenn auch nicht für alle, aber immerhin wenigstens für einen Großteil der Fluggäste – erreicht werden kann.

2. Besonderheiten in Einzelfällen

96    Wenn einem Luftfahrtunternehmen bereits 2 Tage vor dem planmäßigen Abflug eines Fluges bekannt wird, dass mit Unregelmäßigkeiten im Flugbetrieb zu rechnen ist, so hat es nach zutreffender Ansicht des BG Schwechat (Urt. v. 07.10,2015 – 1 C 399/15k) sich zu informieren und Organisationsmaßnahmen zu ergreifen, um möglichst sicherzustellen, dass die gebuchten Fluggäste rechtzeitig zum Endziel befördert werden können. Zu solchen Maßnahmen zählen nach Ansicht des Gerichts u.a. Umbuchungen der Fluggäste auf andere, verfügbare Flüge, u.U. auch über Umsteigeverbindungen, wobei nicht nur Flüge des eigenen Unternehmens, sondern auch solche anderer Luftfahrtunternehmen in Betracht zu ziehen sind.

96a    Wenn ein Luftfahrtunternehmen schon zwei Tage vor dem plan- mäßigen Abflug von einem technischen Problem mit dem für den Umlauf vorgesehenen Flugzeug Kenntnis hatte, muss der Luftbeförderer darlegen, warum es nicht zumutbar war, ein anderes (eigenes oder ein gechartertes) Ersatzflugzeug einzusetzen (AG Rüsselsheim 24.2.2011 − 3 C 734/10-32, RRa 2011, 94 = BeckRS 2011, 08691) oder die Fluggäste auf andere Flüge, ggf. auch solche eines anderen Luftfahrtunternehmens, umbuchen.

97    Bei einem Streik muss ein Luftfahrtunternehmen nach Ansicht des BGH (11.7.2012 – X ZR 138/11, RRa 2012, 288 = NJW 2012, 2882) darüber hinaus konkret vortragen, welche Maßnahmen es ergriffen oder zu ergreifen versucht hat, damit die Beeinträchtigung durch die Streikmaßnahmen für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfällt und der Normalbetrieb nach dem Wegfall der Beeinträchtigungen möglichst schnell wieder aufgenommen werden kann (ebenso AG Frankfurt a.M. 25.1.2013 – 32 C 2371/12-72, RRa 2013, 136 = BeckRS 2013, 13954). Damit das angerufene Gericht beurteilen kann, warum es dem Luftfahrtunternehmen offensichtlich nicht möglich war, ohne nicht tragbare Opfer die Folgen des außergewöhnlichen Umstandes zu vermeiden, muss nach zutreffender Ansicht des HG Wien (28.8.2013 – 1 R 266/12g, RRa 2013, 294) ein Luftfahrtunternehmen konkret darlegen.

  • wann es erstmals von dem geplanten Streik erfuhr,
  • wann ihm bekannt war, welche Flüge davon betroffen waren,
  • warum es aufgrund dieser Informationen weder in zeitlicher noch personeller Hinsicht die Möglichkeit hatte, darauf hinsichtlich des konkreten Fluges zu reagieren,
  • welches Personal (z.B. Flugbegleiter, Piloten, Techniker, Bodenpersonal) in welchem Umfang − gemessen am insgesamt zur Verfügung stehenden Personal − streikte und daher für die Durchführung der vom Streik betroffenen Flüge nicht zur Verfügung stand,
  • inwieweit der Streik nicht beherrschbar war und
  • warum es ihm nicht möglich war, für den annullierten Flug betriebsintern oder extern einen Ersatzflug zu organisieren und woran die Bereitstellung eines solchen Fluges gescheitert ist.

98     Ein Luftfahrtunternehmen ist grundsätzlich auch verpflichtet, in bestimmten Umfang Ersatz-Flugzeuge vorzuhalten. Das hat die Generalanwältin Sharpston in den Schlussanträgen in der Rechtssache C-396/06 – Kramme gegen SAS, RRa 2007, 261 überzeugend dargelegt (ebenso: AG Hannover 5.1.2012 – 451 C 9817/11, RRa 2012, 132 = BeckRS 2012, 12572; aA AG Erding 1.12.2011 – 5 C 941/11, RRa 2012, 133 = BeckRS 2012, 12573; Hoffmann-Grambow RRa 2013, 213). Zwar ist nicht für jedes im Einsatz befindliche Flugzeug ein Reserve-Flugzeug vorzuhalten (so auch LG Hannover 18.1.2012 – 14 S 52/11, RRa 2012, 185 = BeckRS 2012, 02954) und auch nicht an j e d e m von einem Luftfahrtunternehmen regelmäßig angeflogenen Flugplatz (so auch Schuster RRa 2014, 2 ff.). Eine Pflicht zum Vorhalten von Ersatz-Flugzeugen in angemessenem Umfang ist aber anzunehmen an einem „Heimat-Flughafen“ (so wohl auch BGH 24.9.2013 – X ZR 160/12, Rn. 24, RRa 2014, 25 = NJW 2014, 861 = BeckRS 2013, 19683) und an operativ wichtigen Flughäfen, wie z.B. an einem für Umsteigeverbindungen genutzten „Drehkreuz“-Flughafen (ebenso: AG Frankfurt a.M. 7.8.2014 – 32 C 1652/14-84, BeckRS 2014, 23449; AG Hannover 3.9.2014 – 461 C 12846/13, RRa 2015, 39 = ADAJUR Dok. Nr. 107533).

98a     Wenn ein Luftfahrtunternehmen aber aufgrund einer (zulässigen) betriebswirtschaftlichen Entscheidung keinerlei Vorsorge trifft, liegt es in seiner Risikosphäre, wenn es spontan kein Ersatz-Flugzeug auf dem Markt chartern kann. Eine Abwälzung dieses Risikos auf die Fluggäste ist nicht mit dem verbraucherschützenden Grundgedanken der Verordnung in Einklang zu bringen (so auch: AG Hannover 3.9.2014 – 461 C 12846/13, RRa 2015 = ADAJUR Dok. Nr. 107533). Der gegenteiligen Ansicht des BGH in den Urteilen vom 12.6.2014 (X ZR 104/13 und 121/13, RRa 2014, 293 = NJW 2014, 3303 ff) kann dagegen nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, dass diese Rechtsfrage dem EuGH hätte vorgelegt werden müssen (dazu: Schmid NJW 2014, 3279), können nicht die „Umstände des Einzelfalls“ entscheidend sein, welche Maßnahmen zumutbar sind. Die situationsbezogene Beurteilung führt dazu, dass Luftfahrtunternehmen keine Vorkehrungen treffen. Wenn dann ein außergewöhnlicher Umstand eintritt,  der nicht nur ein Luftfahrtunternehmen betrifft, wird es dann aber häufig unmöglich sein, Ersatzflugzeuge anzumieten.

99    Es reicht daher nicht, wenn ein Luftfahrtunternehmen vorträgt, alle Flugzeuge seien entweder im Einsatz oder in der Überholung gewesen (BGH, Urt. v. 14.10.2010 – Xa ZR 15/10, RRa 2011, 33 = NJW-RR 2011, 3559). Es reicht auch nicht, wenn die Beklagte „Ersatz-Flugzeuge“ nur insofern „vorhält“, als sie ein anderes Flugzeug erst bereitstellt, wenn dieses von einem anderen Einsatz zurückkommt. Das ist kein „Vorhalten“! Ferner muss das Luftfahrtunternehmen vortragen, welche seiner Flugzeuge wo und inwieweit eingesetzt waren; soweit alle im Einsatz waren, muss darüber hinaus vorgetragen werden, warum es nicht möglich war, ein gechartertes Flugzeug einzusetzen (AG Rüsselsheim, Urt. v. 05.07.2013 – 3 C 145/13-37; BeckRS 2014, 12204).

100    Ob und wann sich eine Annullierung aufgrund von Wetterbedingungen durch zumutbare Maßnahmen vermeiden lässt, kann nicht pauschal, sondern nur nach vernünftigem Ermessen im Einzelfall entschieden werden. In einem Fall, den der BGH (25.3.2010 − Xa ZR 96/09, RRa 2010, 221 = NJW-RR 2010, 1641) zu entscheiden hatte, war nicht abzusehen gewesen, wie lange am Zielflughafen aufgetretener Nebel anhalten würde. Der BGH hat daher entschieden, dass eine Aufschiebung der Entscheidung, den Flug zu annullieren, keine zumutbare Maßnahme iSd Art. 5 Abs. 3 VO gewesen ist.

101     Der BGH hatte sich auch mit der Entlastung eines Luftfahrtunternehmens wegen schlechter Wetterbedingungen zu befassen. Er vertrat dabei die Ansicht, Art. 5 Abs. 3 VO sei als Ausnahmetatbestand eng auszulegen und dem Luftfahrtunternehmer obliege der Beweis, dass es ihm unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden personellen und sachlichen Mittel nicht möglich gewesen sei, eine Annullierung zu vermeiden (14.10.2010 − Xa ZR 15/10, RRa 2011, 33 = NJW-RR 2011, 355 = ZLW, 2012, 297). Der Umstand, dass das für den Flug vorgesehene Flugzeug wegen schlechten Wetters bereits den vorherigen Flug nicht antreten konnte und deshalb für den annullierten Flug nicht zur Verfügung stand, reicht für eine Entlastung nach Art. 5 Abs. 3 VO nicht aus (so bereits AG Geldern 20.2.2008 − 4 C 241/07, BeckRS 2008, 06721 = RRa 2008, 190 mAnm Schmid RRa 2008, 191). Es bedarf vielmehr des konkreten Vortrags dazu, aufgrund welcher Umstände es zu der Annullierung gekommen ist, welche Auswirkungen dies auf die nachfolgend geplanten Flüge gehabt hat und welche Möglichkeiten zur Verfügung standen, um diese Folgen zu verhindern. Dazu muss das Luftfahrtunternehmen darlegen, welche anderen personellen, materiellen und finanziellen Mittel ihm zur Verfügung standen, um den Flug zum geplanten Zeitpunkt durchzuführen und aus welchen Gründen es ihm gegebenenfalls nicht zumutbar war, auf diese Ressourcen zurückzugreifen. (BGH aaO, Rn. 25 f.; siehe dazu auch Schmid RRa 2012, 2 (5); 2012, 115).

102   Im Anschluss an diese Vorgaben hat das AG Frankfurt a.M. (15.5.2013 − 29 C 1954/11-21, RRa 2014, 49 und 261 = LSK 2014, 340730) entschieden, dass Wetterbedingungen jedenfalls dann keinen außergewöhnlichen Umstand iSd Art. 5 Abs. 3 VO darstellen, wenn sie nicht „außergewöhnlich“ sind, d.h. nicht aus den üblichen und verwertbaren Abläufen des Luftverkehrs herausragen. Von außergewöhnlichen, aus den üblichen und zu erwartenden Abläufen des Luftverkehrs herausragenden Wetterbedingungen sei erst dann auszugehen, wenn diese geeignet gewesen sind, den Luftverkehr oder die Betriebstätigkeit eines oder mehrerer Luftverkehrsunternehmen ganz oder teilweise zum Erliegen zu bringen.

103     Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen auf „ungünstige Wetterbedingungen“ reicht kein pauschaler Vortrag wie z.B. „extremer Gegenwind“ (AG Hannover 6.12.2012 – 522 C 7701/12, RRa 2013, 143 = BeckRS 2013, 10217). Es muss zunächst konkrete Angaben machen, welche Bedingungen geherrscht haben (z.B. Startbahnzustand und sein Einfluss auf die Bremswirkung, Windstärke und -richtung, Angaben, bei welchem Rücken- oder Seitenwind der eingesetzte Flugzeugtyp noch betrieben werden darf, Stärke des Gegenwinds etc.) und welche Auswirkungen das auf den Flug hatte.

103     Beruft sich ein Luftfahrtunternehmen auf „ungünstige Wetterbedingungen“ reicht kein pauschaler Vortrag wie z.B. „extremer Gegenwind“ (AG Hannover 6.12.2012 – 522 C 7701/12, RRa 2013, 143 = BeckRS 2013, 10217). Es muss zunächst konkrete Angaben machen, welche Bedingungen geherrscht haben (z.B. Startbahnzustand und sein Einfluss auf die Bremswirkung, Windstärke und -richtung, Angaben, bei welchem Rücken- oder Seitenwind der eingesetzte Flugzeugtyp noch betrieben werden darf, Stärke des Gegenwinds etc.) und welche Auswirkungen das auf den Flug hatte.

104   Darüber hinaus muss es darlegen, dass trotz der ungünstigen Wetterbedingungen eine Annullierung oder Verspätung auch mit zumutbaren Maßnahmen nicht zu vermeiden war. Solche zumutbaren Maßnahmen können z.B. das Ausweichen auf einen nahegelegenen anderen Flughafens oder das Warten auf günstigere Wetterbedingungen sein (OGH 3.7.2013 – 7 Ob 65/13d, RRa 2013, 256 = ecolex 2013,960 = ZVR 2014, 71 mAnm. Huber ZVR 2014, 126; siehe dazu aber auch BGH 25.3.2010 − Xa ZR 96/09, RRa 2010, 221).

105     Nicht alle „zumutbaren Maßnahmen“ iSv Art. 5 Abs. 3 VO hat ein Luftfahrtunternehmen nach Ansicht des AG Düsseldorf (13.3.2008 − 232 C 3487/07, RRa 2008, 144 = BeckRS 2008, 13532) ergriffen, wenn es einen Flug zum Flughafen A annulliert, ohne geprüft zu haben, ob der Flug nicht zum in der Nähe gelegenen Flughafen B umgeleitet werden kann (so auch OGH 3.7.2013 – 7 Ob 65/13d unter 3.2, RRa 2013, 256; so auch Müller-Rostin euvr 2013, 1(13)).

106      Wenn man (rechtsirrig) davon ausgeht, dass die Erkrankung eines Mitarbeiters nicht zum generellen unternehmerischen Risiko gehört, kann dennoch bei einer Erkrankung eines Besatzungsmitgliedes außerhalb des Heimatflughafens nicht stets ein „außerordentlicher Umstand“ angenommen werden. Zu fragen ist in solchen Fällen immer auch, ob sich die Annullierung oder die große Verspätung eines Fluges hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (Art. 5 Abs. 3 VO). Der Fokus kann dabei nicht allein darauf gerichtet sein, dass das neue Besatzungsmitglied zeitaufwändig vom Heimatflughafen eingeflogen werden muss. Ist z.B. ein Besatzungsmitglied in Puerto Plata (Dominikanische Republik) erkrankt, muss also auch geprüft werden, ob ein Mitglied einer anderen Besatzung eingesetzt werden könnte, das zeitgleich die Ruhezeit in Puerto Plata verbringt und die gesetzlich vorgeschriebene Mindest-Ruhezeit bereits absolviert hat.

107    Zumutbar ist es sicher auch, auf ein ausgeruhtes Besatzungsmitglied in zumutbarer Nähe zurückzugreifen (so auch AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.02.2001 – 3 C 2021/10-36). Nicht selten stehen gelegentlich Besatzungen anderer Flüge an den Zielorten zur Verfügung, z.B. wenn bestimmte Ziele von mehreren Abgangsflughäfen zeitgleich bedient werden. Diese einzusetzen ist zumutbar. Erst wenn das Luftfahrtunternehmen nachgewiesen hat, dass das nicht möglich war, kommt eine Entlastung nach Art. 5 Abs. 3 VO in Betracht. Dieser Maßstab muss auch gelten, wenn ein Besatzungsmitglied zwar nicht an seiner Heimat-Basis erkrankt, sondern auf einem Einsatzort in Deutschland, der in ein bis zwei Stunden erreichbar ist.

108     Zeichnet sich starker Schneefall am Flughafen ab, ist es nach zutreffender Ansicht des AG Frankfurt a.M. (8.11.2013 – 32 C 1488/13 – 41, RRa 2014, 184 = LSK 2014, 340730) einer Fluggesellschaft zumutbar, durch Anordnung von Bereitschaftsdiensten im Flughafenbereich Ersatz-Crews bzw. Ersatz-Piloten vorzuhalten, die im Falle von wetterbedingten Personalausfällen zeitnah eingesetzt werden können. Die bloße Behauptung, das sei unzumutbar, reicht nicht aus (so auch BG Schwechat 20.1.2015 – 1 C 578/13f).

109     Wenn man entgegen hier vertretener Ansicht die Überschreitung von Flugdienst- oder Ruhezeiten als außergewöhnlichen Umständen ansieht (ablehnend auch: AG Frankfurt, Urt. v. 03.06.2016 – 30 C 4307/15-71), so muss doch gefordert werden, dass das Luftfahrtunternehmen, diese Behauptung konkret und nachrechenbar belegen muss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es neben Regelungen in Verordnungen (EU-OPS 1. oder 2. DV LuftBO) in vielen Luftfahrtunternehmen noch tarifvertragliche Regelwerke gibt, die in aller Regel die gesetzlichen Vorschriften zugunsten der Besatzungsmitglieder weiter einengen oder deren Rechte erweitern. Da es sich bei den Regelwerken um komplizierte Geflechte von Grundsätzen und Ausnahmen handelt und es keine fixe Flugdienstzeiten- oder Ruhezeitengrenze gibt und zudem Ausnahmen (Abweichungen durch den sog. Kommandanten-Entscheid) zugelassen wurden, muss ein Luftfahrtunternehmen, das sich entlasten will, also konkret vortragen und beweisen, aus welchem von mehreren gesetzlichen und tarifvertraglichen Regelwerken sich welche „ausgeschöpfte Flugdienstzeit“ und die „einzuhaltende Ruhezeit“ ergibt bzw. wie sich diese berechnet.

110    Der Umstand, dass die Abflugzeit aufgrund eines technischen Mangels oder Problems bei der Beladung des Flugzeugs vor dem Start in den Zeitraum des Nachtflugverbotes gerät, liegt allein im Risikobereich eines Luftfahrtunternehmens und ist daher kein außergewöhnlicher Umstand (so auch: AG Frankfurt, Urt. v. 27.06.2013 – 30 C 1055/13-25; AG Rüsselsheim – 3 C 1047/15-42). Plant ein Luftfahrtunternehmen eine Abflugzeit relativ kurz vor dem Einsetzen des Nachtflugverbotes, muss es alles Erforderliche tun, um sicherzustellen, dass bei diesem zeitkritischen Flug keinerlei Verzögerungen bei der Abfertigung oder beim Verlassen der Parkposition eintreten (so auch: AG Frankfurt a.M. 8.2.2013 – 30 C 2290/12-47, RRa 2013, 190 = Beck RS 2013, 13954).

Artikel 3 – Anwendungsbereich

(1) Diese Verordnung gilt

a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;

b) sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, antreten, es sei denn, sie haben in diesem Drittstaat Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.

(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden oder, falls keine Zeit angegeben wurde, spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder

b) von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besaßen, auf einen anderen Flug verlegt wurden, ungeachtet des Grundes hierfür.

(3) Diese Verordnung gilt nicht für Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist. Sie gilt jedoch für Fluggäste mit Flugscheinen, die im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen ausgegeben wurden.

(4) Diese Verordnung gilt nur für Fluggäste, die von Motorluftfahrzeugen mit festen Tragflächen befördert werden.

(5) Diese Verordnung gilt für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderungen für Fluggäste im Sinne der Absätze 1 und 2 erbringen. Erfüllt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen dieser Verordnung, so wird davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht.

(6) Diese Verordnung lässt die aufgrund der Richtlinie 90/314/EWG bestehenden Fluggastrechte unberührt. Diese Verordnung gilt nicht für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird.

I. Absatz 1

   Die Fluggastrechte-Verordnung erfasst alle Luftfahrtunternehmen (also Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ebenso wie Non-EU-carrier), mit denen der Fluggast seinen Flug (gleichgültig, ob Hin- oder Rückflug) auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaates antritt. Darüber hinaus werden alle Flüge von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft von einem Drittstaat zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaates erfasst. Nicht anwendbar ist die Verordnung somit auf Flüge einer Nicht-EU-Fluggesellschaft (z.B. Emirates Airlines) von einem Flughafen eines Nicht-EU-Landes (z.B. Dubai) zu einem Flughafen der Gemeinschaft (z.B. Frankfurt) oder von einem Nicht-EU-Flughafen (z.B. Chicago) zu einem anderen Nicht-EU-Flughafen (z.B. Miami). Die Verordnung erfasst somit alle Flüge

– die in der EU beginnen ohne Rücksicht, ob das Luftfahrtunternehmen seinen Sitz in der EU hat,

– von „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ mit Sitz in der Europäischen Union aus Drittstaaten in das Gebiet der Europäischen Union, sofern im Drittstaat noch keine Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erbracht wurden (Art. 3 Abs. 1 und 2 VO). Weil der Flughafen Basel-Mulhouse auf französischem Gebiet liegt, hat das AG Hannover (Urt. v. 28.03.2014 – 562 C 9420)  die Verordnung auf einen Flug von Boa Vista nach Basel angewendet.

   Streitig ist, ob ein schweizerisches Luftfahrtunternehmen wie ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft oder ein Drittland-Unternehmen zu behandeln ist. Das Zivilgericht Basel-Stadt hat im Urt. v. 15.05.2012 – V. 2012.213 (BJM 2013, 79 ff.) die Ansicht vertreten, dass die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 auf die Luftverkehrsverbindungen zwischen der EU und der Schweiz beschränkt sei. Zu einem Flug von Stuttgart über Zürich nach Istanbul hat OLG Stuttgart (Urt. v. 10.09.2008 – 9 U 38/08) die Anwendbarkeit der Fluggastrechte-Verordnung abgelehnt, während das AG Frankfurt a. M. (Urt. v. 28.06.2007 – 29 C 370/07-46) die Verordnung auf einen Flug von Lissabon über Genf nach München, der Teil eines Rundfluges war, angewendet hat (so auch LG Korneuburg, Urt. v. 15.07.2014 – 21 R 106/14g, Rra 2015, 101  für einen Flug von São Paulo über Zürich nach Wien). Diese Entscheidung wird man aber im Lichte des Urteils des EuGH in der Rechtsache Schenkel ./. Emirates Airlines (Urt. v. 10.07.2008, Rs. C-173/07, Slg. 2008 I-5237 = RRa 2008, 237 = NJW 2008, 2697 = EuZW 2008, 569) nicht mehr vertreten können, weil der EuGH die Betrachtung des Rundfluges ausgeschlossen hat. Ausführlich dazu Kost, ASDA-Bulletin 144/2012, 22 ff.; Burckhardt, ASDA-Bulletin 145/2013, S. 74 ff. Siehe dazu auch die ausführliche und informative Begründung des BGH im Vorlagebeschluss vom 09.04.2013 (X ZR 105/12, RRa 2013, 183 = TranspR 2013, 307). Zum Luftfahrtabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1999 (SR 0.748.127.192.68) siehe auch Dettling-Ott, in: Thürer/Weber/Portmann/Kellerhals, Bilaterale Verträge  I & II, Schweiz – EU (Zürich 2007), Rn. 41 und 58). Gemäß Beschluss Nr. 1/2006 des Luftverkehrsausschusses Gemeinschaft / Schweiz vom 18.10.2006 wurde das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über den Luftverkehr dahin geändert, dass auch die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen gilt (ABl. EU Nr. L 298 vom 27.10.2006, S. 23 f. (Siehe dazu LG Korneuburg, Urt.  v. 15.07.2014 – 21 R 106/14g, RRa 2015,101). Mit Beschluss Nr. 1/2014 des gemischten Luftverkehrsausschusses Europäische Union und Schweiz vom 09.07.2014 (ABl. EU Nr. L 212 vom 18.07.2014, S. 21 f.) wurde im Anhang zum Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz unter Nr. 7 die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 aufgelistet.

3      Anspruchsberechtigt ist der Fluggast. Das ist jeder, der als Flugzeuginsasse nicht zur Besatzung zählt. Zum Begriff ausführlich: Art. 2, Rn. 28. Wer den Flug bezahlt hat (z.B. der Arbeitgeber des Reisenden) ist nicht entscheidend (so auch Führich, Reiserecht [7. Aufl. 2015], § 38 Rn. 28.

     Auch einem Kleinkind, das zum Zeitpunkt des Fluges 16 Monate alt war, steht ein Ausgleichsanspruch in analoger Anwendung von Art. 7 Abs. 1 lit. a VO zu, wenn ein (u.U. auch geringer) Kindertarif entrichtet wurde. Auf die Reservierung eines Sitzplatzes kommt es insoweit nicht an; es kommt auch nicht darauf an, ob das Kind einen eigenen Sitzplatz hatte (LG Stuttgart, Urt. v. 07.11.2012 − 13 S 95/12, RRa 2013, 130). Daher hat auch ein unter 1 Jahr altes Kind einen Anspruch auf Ausgleichszahlung (AG Düsseldorf, Urt. v. 30.06.2011 – 40 C 1745/11).

5     Der Begriff „Flug“ (Art. 3 Abs. 1 lit. a VO) wird in Art. 2 VO nicht definiert. Zur Auslegung des Begriffs „Flug“ wurde zunächst auf das Montrealer Übereinkommen (MÜ) zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28.05.1999 (ABl. EG 2001 L 194 39) als dem wichtigsten internationalen Übereinkommen im System der Passagierrechte und auf den dortigen Begriff „Rundflug“ (Art. 1 Abs. 3 MÜ) zurückgegriffen. Als „Rundflug“, also als einziger einheitlicher Flug, gilt die Gesamtheit aller Teilflüge (z.B. von Frankfurt über Paris nach San Francisco, sodann zurück über Paris nach Frankfurt). Dabei ist völlig unerheblich, wie oft oder wie lange der Rundflug unterbrochen wird oder welche oder wie viele Code-Share- oder sonstige Partner-Fluggesellschaften des Luftfahrtunternehmens, mit dem der Rundflug vertraglich vereinbart wurde, zur tatsächlichen Ausführung der Teilflüge einsetzt. Entscheidend ist nach der Betrachtungsweise des Montrealer Übereinkommens lediglich, dass alle einzelnen Flugabschnitte zusammenhängend als einheitliche Beförderung gebucht werden. Das LG Korneuburg (08.09.2014 – 21 R 36/14p, RRa 2015, 100) hat auch einen im Rahmen einer Flugpauschalreise gebuchten Flug von Montego Bay nach Wien mit Zwischenlandung in Frankfurt zutreffend als einheitlich gebuchten Flug betrachtet.

   Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Fluggastrechte-Verordnung ist der Begriff „Flug“ in der Fluggastrechte-Verordnung jedoch nicht mit „Flugreise“ oder „Rundflug“ gleichzusetzen (EuGH, Urt. v. 10.07.2008, Rs. C-173/07 – Emirates Airlines ./. Schenkel, RRa 2008, 237 f.). Vielmehr stehen Fluggäste, die von einem Flughafen eines Drittstaates zu einem Flug- Flughafen der Gemeinschaft abfliegen wollen, nur dann unter dem Schutz der Verordnung, wenn das ausführende Luftfahrt-unternehmen eine gültige Betriebserlaubnis eines Mitgliedsstaates hat (Art. 2 lit. c VO). Es ging dort um einen Flug von Düsseldorf über Dubai nach Manila und zurück mit Emirates Airlines. Der Rückflug war annulliert worden, ohne dass der EuGH Ansprüche aus der Verordnung anerkannt hätte. Der BGH (Urt. v. 30.04.2009 – Xa ZR 78/08, RRa 2009, 239 f.) hat sich dem angeschlossen: „Flug“ im Sinne der Verordnung sei auch bei einem einheitlichen Beförderungsvertrag über Hin- und Rückflüge lediglich die einzelne „Einheit“ einer Luftbeförderung, die von einem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird, das die entsprechende Route festlegt. Der BGH ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Für einen Anspruch aus der Verordnung auf Ausgleichsleistung genügt es nicht, dass ein Fluggast nicht mit dem gebuchten Flug befördert wird. Es ist auch erforderlich, dass dem – rechtzeitig zur Abfertigung für den Flug erschienenen und am Abfluggate anwesenden – Fluggast der Einstieg in die Maschine verwehrt wird. Ist aber der Zubringerflug verspätet und wird deswegen der Anschlussflug nicht erreicht, führt dies nach dieser Rechtsmeinung zu einem Anspruchsverlust, weil der Fluggast nicht rechtzeitig am Flugsteig für den Anschlussflug erschienen ist.

7      Nach Ansicht des BGH (Urt. v. 28.05.2009 – Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 f.) muss bei einem zusammengesetzten Flug in die USA der Anschlussflug separat als inneramerikanischer Flug angesehen werden, der eben nicht „auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaates“ angeboten worden sei; demzufolge habe der Fluggast keinen Anspruch auf eine Ausgleichsleistung (so auch: LG Korneuburg, urt. v. – 21 R 10/15s; a.A. Schmid, Die Nichtbeförderung von Fluggästen im Lichte der neueren Rechtsprechung des BGH, NJW 2009, 2724 f.). Ebenso hat das LG Darmstadt (Urt. v. 20.05.2015 – 7 S 185/14, RRa 2016, 16) für den umgekehrten Fall entschieden: Auf einen Zubringerflug außerhalb der Europäischen Union (z.B. von San José nach Panama City) soll die Verordnung auch dann nicht anwendbar sein, wenn er zusammen mit dem Anschlussflug im Rahmen einer einheitlichen Flugbuchung bei einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft gebucht wurde, das den Anschlussflug in einen Mitgliedstaat durchführt (Urt. v. 20.5.2015 – 7 S 185/14).

8     Wird ein echter „Direkt-Flug“ (zum Begriff: Schmid, RRa 2005, 146 f) nur von einem Luftfahrtunternehmen unter einer einheitlichen Flugnummer durchgeführt und erfolgt eine Zwischenlandung allein aus „technischen“ Gründen (z.B. Tankstopp oder eine Landung aus zollrechtlichen Gründen), nicht aber zum Zu- oder Ausstieg von Passagieren,so ist als Flug i.S.v. Art. 3 VO die Luftbeförderung über die gesamte Strecke (z.B. Frankfurt – Dubai – Bangkok; bei einem Rundflug: Frankfurt – Dubai – Bangkok – Dubai – Frankfurt) zu verstehen, so dass für die Anwendbarkeit der Verordnung der Flug an dem Flughafen angetreten wird, auf dem der erste Zustieg erfolgt ist (also im Beispiel Frankfurt).

9     Wird dagegen ein Flug, der unter einer bestimmten Flugnummer begonnen wurde, planmäßig unterbrochen und nach dem Umsteigen der Passagiere in ein anderes Flugzeug unter einer anderen Flugnummer fortgesetzt (z.B. AF 1523 von München nach Paris und AF 332 von Paris nach Boston), soll zwischen Flugunterbrechungen, die nur dem sofortigen Umsteigen dienen und solchen, bei denen der Weiterflug erst später erfolgt, unterschieden werden (AG Berlin-Mitte, Urt. v. 14.12.2005 − 11 C 2006/05, RRa 2006, 89 f). Bei einem unmittelbar erfolgenden Anschlussflug durch dasselbe EU-Luftfahrtunternehmen hat ein Fluggast im Fall einer Annullierung oder großen Verspätung bzw. einer Nichtbeförderung am Umsteigeflughafen auch dann einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung, wenn sowohl der Umsteigeflughafen als auch der letzte Zielort außerhalb des Gebietes der Europäischen Union liegt (LG Frankfurt, Urt. v. 26.03.2013 – 2 -24S 16/13, RRa 2013, 187 = BeckRS 2013, 13948). Erfolgt der Weiterflug durch ein Luftfahrtunternehmen eines Drittstaates, so soll bei Versäumen des Anschlussfluges nach Ansicht des LG Korneuburg (Urt. v. 19.06.2015 – 21 R 10/15s) der Anspruch auf eine Ausgleichszahlung nur bestehen, wenn der Anschlussflug zu oder von einem Flughafen im Gebiet der Europäischen Union durchgeführt wird (so auch AG Köln, Urt. v. 13.01.2014 – 118 C 377/13) Das Gericht beruft sich dabei auf Art. 6a des Vorschlages der Kommission zur Neufassung der Fluggastrechte-Verordnung. Das ist nicht überzeugend, weil diese Regelung lediglich in einer Entwurfsfassung der Kommission niedergelegt ist und keinen rechtsverbindlichen Charakter hat. Es ist auch unklar, ob die Kommission damit (nur) eine gefestigte Rechtsmeinung wiedergeben oder ein Korrektur des bestehenden Rechts vornehmen will . So folgt denn auch ein Spruchkörper des untergeordneten BG Schwechat dieser Ansicht im Urteil vom 08.01.2016 – 4 C 540/15t zu Recht nicht, sondern schließt sich dem HG Wien (1 R 136/15v, RRa 2016, 48) an, wonach bei einem einheitlich gebuchten Beförderungsvertrag auch bei einer Zwischenlandung (gleich, ob im Gebiet der Europäischen Union oder außerhalb) ein einheitlicher Flug vorliegt, so dass das Bestehen eines Ausgleichsanspruches lediglich von der Verspätung am Endziel anhängig ist. Diese Auffassung wird inzwischen auch von deiner anderen Kammer des LG Korneuburg geteilt (Urt. v. 22.01.2016 – 22 R 141/15p).

10     Nach anderer Auffassung hat ein Reisender Anspruch auf Ausgleichszahlung auch, wenn er am Ort der Zwischenlandung nicht (weiter-)befördert wurde (AG Rüsselsheim, Urt. v. 06.01.2006 – 3 C 1127/05-35, RRa 2006, 92 f; AG Frankfurt, Urt. v. 17.07.1995 – 31 C 3236/94-23, RRa 1996, 205 f., bestätigt von LG Frankfurt, Urt. v. 19.06.1996 – 2/1 S 406/95; Führich, NJW 1997, 1044, 1045 Fn. 19; Schmid, Rechtsprechung zum Charterflug, [1997], S. 59 f.).

11     Dass der Fluggast auch auf einem Nicht-EU-Flughafen nicht schutzlos bleiben soll, zeigt etwa die Regelung des Art. 8 Abs. 1 lit. a) VO, der auf „nicht zurückgelegte Flugabschnitte“ abstellt und dem Fluggast ein Recht auf Rückbeförderung zum ersten Abflugort zubilligt.

12     Auch wenn nach Auffassung des EuGH von getrennten Flügen bei einem einheitlich gebuchten Hin- und Rückflug auszugehen ist, bleibt unentschieden, ob es sich um einen oder mehrere Flüge handelt, wenn das Endziel (Art. 2 lit. h VO) des Hinflugs oder des Rückflugs nicht unmittelbar oder mit Zwischenlandungen, sondern nur mit einem Umsteigen in das Fluggerät eines anderen Luftfahrtunternehmens erreicht wird (Führich, Reiserecht, [7. Aufl. 2015], § 38 Rn.23;; Kummer, DAR 2009, 121 f.; Schmid, NJW 2009, 2724 f.; Tonner, VuR 2009, 209 f.; AG Frankfurt, Urt. v. 21.12.2007 − 32 C 1003/07-22, RRa 2008, 146 m. krit. Anm. Schmid RRa 2008, 147).

13     Besteht eine Flugreise aus zwei oder mehreren Flügen, die jeweils von einer Fluggesellschaft unter einer bestimmten Flugnummer für eine bestimmte Route angeboten werden, ist die Anwendbarkeit der Verordnung für jeden Flug gesondert zu prüfen. Dies gilt auch dann, wenn die Flüge von derselben Fluggesellschaft durchgeführt werden und als Anschlussverbindung gemeinsam gebucht werden können (Bestätigung von BGH, Urt. v. 28.05.2009 – Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 f.). Der Begriff des „Fluges“ ist aus dem Sinn und Zweck der Verordnung und insbesondere aus denjenigen Vorschriften zu entwickeln, die sich dieses Begriffs bedienen. Die Verordnung bezieht sich auf die (Gesamtheit der) Fluggäste eines Fluges, der von einem bestimmten Luftverkehrsunternehmen auf einer bestimmten Flugroute ausgeführt wird und mit dem die Fluggäste von einem Flughafen A zu einem Flughafen B befördert werden (BGH, Urt. v. 13.11.2012 – X ZR 12/12, RRa 2013, 19 m. Anm. Schmid RRa 2013, 21; zu den vielfältigen Variationen zusammengesetzter Flüge und deren Begrifflichkeiten: Hausmann S. 108 ff.).

II. Absatz 2

1. Bestätigte Buchung

14    Weitere Voraussetzung und Bedingung für die Anwendbarkeit der Verordnung ist, dass die Fluggäste über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Art. 5 VO – sich wie vorgegeben zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden oder sich − falls keine Zeit angegeben wurde − spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder von einem Luftfahrtunternehmen oder einem Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besaßen, auf einen anderen Flug verlegt wurden, ungeachtet des Grundes hierfür (Art. 3 Abs. 2 lit. a und b VO). Das LG Köln (Beschl. v. 23.05.2014 – 11 S 374/13, RRa 2015, 78) hat zutreffend entschieden, dass Art. 3 Abs. 2 lit. a VO nur für den Fall der Geltendmachung von Ansprüchen wegen Nichtbeförderung gilt, weil es bei einer Flugannullierung keines Erscheinens zur Abfertigung mehr bedarf und bei einer großen Verspätung das verspätete Erscheinen dann ohne Relevanz ist, wenn der Fluggast dennoch zur Abfertigung angenommen worden ist.

15     Formale Voraussetzung für Ansprüche aus der Verordnung ist sodann eine vom ausführenden Luftfahrtunternehmen oder vertraglichen Luftfahrtunternehmen bzw. einem Reiseunternehmen „bestätigte Buchung“ für den betreffenden Flug (Art. 3 Abs. 2 lit. a VO). Diese liegt mit Übergabe einer Buchungsbestätigung bzw. bei Online-Buchung mit der zum Ausdrucken bereit gestellten verbindlichen Erklärung des ausführenden Luftfahrtunternehmens vor, die mittels OK-Vermerk und Buchungsnummer einen Anspruch auf die durch Flugnummer, Datum und Uhrzeit konkretisierte Beförderungsleistung dokumentiert. Das ist in der Regel der papierne oder elektronische Flugschein (siehe Legaldefinition in Art. 2 lit. f VO) oder eine Buchungsbestätigung eines Reiseveranstalters (so auch: LG Korneuburg, Ur. v. 15.04.2016 – 22 R 6/16m; a.A., aber unzutreffend: AG Frankfurt, Urt. v. 30.03.2015 – 30 C 2766/14-47, RRa 2016, 85 = BeckRS 2016, 0751)) oder eines IATA-Reisebüros (BG HS 29.06.2016 – 11 C 695/14h-10). Ausreichend ist aber auch jeder sonstige Beleg, aus dem sich verbindlich die vorgesehene Luftbeförderung mit einem bestimmten, typischerweise durch Flugnummer und Uhrzeit individualisierten, Flug ergibt (BGH, Urt. v. 17.3.2015 – X ZR 34/14, Rn. 23, RRa, 2015, 184 [187] = NJW 2015, 2181). Diesem Erfordernis entspricht auch ein vom Reisebüro ausgestellter Reiseplan. Es ist nicht erforderlich, dass die Buchung von der Fluggesellschaft selbst ausgestellt wird (LG Landshut, Urt. v. 18.05. 2015 – 12 S 2435/14, RRa 2016, 79). Auch wenn ein Fluggast auf der im Buchungssystem des Luftfahrtunternehmens hinterlegten Passagierliste des Luftfahrtunternehmens erscheint, ist von einer „bestätigten Buchung“ auszugehen (AG Frankfurt, Urt. v. 30.03.2015 – 30 C 2766/14-47, RRa 2016, 85).

15a       Das Tatbestandsmerkmal „bestätigte Buchung“ ist auch dann erfüllt, wenn der Fluggast zunächst im Besitz einer bestätigen Buchung war, diese aber durch das Luftfahrtunternehmen zu einem späteren Zeitpunkt wieder im Buchungssystem gelöscht oder dem Fluggast beim Check-in manuell entzogen wird (LG Düsseldorf, Urt. v. 25.09.2015 – 22 S 79/15, RRa 2016, 131 = NJW-RR 2016, 247).

16      Eine „bestätigte Buchung“ muss in einem Prozess nicht „vorgelegt“ werden; es ist ausreichend, wenn der Fluggast darlegt, dass eine bestätigte Buchung „vorliegt“ und der Flug wie angegeben angetreten wurde (h.M., vgl. für viele: AG Frankfurt a. M., Urt. v. 06.12.2012 – 31 C 2553-78, RRa 2013, 138). Ein Luftfahrtfahrtunternehmen kann im Prozess nicht mit Nichtwissen bestreiten, dass der Fluggast befördert wurde, da ihm die Beförderung des Fluggastes aus eigener Wahrnehmung bekannt ist oder sein kann. Ein Luftfahrtunternehmen führt bei jedem Check-in eine Identitätsprüfung seiner Fluggäste durch und muss daher anhand der Passagierliste wissen, wer eingecheckt hat bzw. auf dem Flug befördert wurde (AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.04.2013 – 3 C 3406/12-36, RRa 2013, 134; AG Erding, Urt. v. 13.03.2013 – 3 C 2101/12, BeckRS 2013, 08430 = juris = DAR 2013, 275). Es hat daher die prozessualen Nachteile zu tragen, wenn es Passagierlisten ohne Not bereits 1 Jahr nach dem Flug eigenverantwortlich vernichtet (AG Rüsselsheim, Urt. v. 25.07.2012 – 3 C 1132/12-36, RRa 2012, 234 = BeckRS 2012, 21694.).

17       Es obliegt dem Luftfahrtunternehmen, qualifiziert zu bestreiten, dass für den Fluggast kein Flug bei ihm gebucht wurde und er deshalb nicht im Besitz einer bestätigten Buchung gewesen ist (AG Rüsselsheim, Urt. v. 23.11.2011 – 3 C 1552/11-36, RRa 2012, 26 = BeckRS 2012, 05647; AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.04.2013 – 3 C 3406/12-35, RRa 2013, 134; Urt v. 17.04.2013 – 3 C 3319/12-36). Dem steht nicht entgegen, dass das Luftfahrtunternehmen lediglich über den Vor- und Nachnamen des Fluggastes verfügt. Auch wenn ein gebuchter Fluggast versehentlich eine unrichtige Buchungsnummer angegeben hat, liegt kein ausreichendes Bestreiten vor, wenn das Luftfahrtunternehmen behauptet, es läge „unter dieser Buchungsnummer“ keine Buchung für den Fluggast vor.

18   Es gibt keine Pflicht zur Vorlage von Buchungsunterlagen durch den Fluggast; es muss nur eine bestätigte Buchung v o r l i e g e n (AG Frankfurt a.M. 29.03.2012 − 31 C 2809/12-78, RRa 2012, 235 f.; 6.12.2012 − 31 C 2553/12-78; AG Rüsselsheim 20.04.2012 − 3 C 2273/11-37, RRa 2012, 189 = LSK 2012, 390512; 25.07.2012 − 3 C 1132/12-36, RRa 2012, 234 f.). Hat ein Luftfahrtunternehmen einen Fluggast unstreitig auf einem Flug im Rahmen einer Pauschalreise befördert, ist vom Bestehen einer bestätigten Buchung auszugehen (AG Frankfurt a.M. 8.02.2013 − 30 C 2290/12-47, RRa 2013, 190 = BeckRS 2013, 13954). Da Art. 3 VO lediglich fordert, dass ein Fluggast überhaupt über eine bestätigte Buchung für den Flug verfügt, ist nicht zwingend erforderlich, dass diese vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ausgestellt wurde (so zutreffend auch: AG Rüsselsheim 16.07.2014 – 3 C 1447/14-36); es reicht eine Buchungsbestätigung durch einen Reiseveranstalter (so auch AG Düsseldorf 02.03.2015 – 38 C 13103/14, RRa 2015, 135; LG Korneuburg 15.04.2016 – 22 R 6/16m). Daher ist für das Vorliegen einer bestätigten Buchung iSd Art. 3 Abs. 2 VO nicht erforderlich, dass der Fluggast in der Passagierliste des Luftfahrtunternehmens erscheint. (aA AG Frankfurt a.M. 20.03.2015 – 30 C 2766/14-47).

19    Der Vortrag eines Luftfahrtunternehmens, es sei ihm nicht bekannt, ob ihm oder dem Fluggast eine Buchung durch den Reiseveranstalter vorliegt, ist kein Bestreiten, dass ein Reiseveranstalter die Buchung bestätigt hat (AG Frankfurt, Urt. v. 28.11.2012 – 31 C 2125/12-17, RRa 2012, 26 f.).

2. Rechtzeitiges Erscheinen zur Abfertigung

20    Ein  Fluggast muss sich entweder zur angegebenen Zeit oder spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden. Für das rechtzeitige Erscheinen am Abfertigungsschalter ist Voraussetzung, dass die späteste Abfertigungszeit (Check-in-deadline) dem Fluggast vom Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler mitgeteilt wurde. Eine andere Vorgabe als die 45 Minuten muss dem Fluggast von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler schriftlich mitgeteilt werden, d.h. (per Post, per Telefax oder auf elektronischem Wege). Die Möglichkeit der Information auf der Homepage des Luftfahrtunternehmens genügt nicht (AG Hannover, Urt. v. 07.11.2014 – 541 C 4432/14, RRa 2015, 83).

21    Wenn dem Fluggast keine Zeit angegeben wurde, muss er sich spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten (eventuell auch geänderten) Abflugzeit zur Abfertigung einfinden (Art. 3 Abs. 2 lit. a VO). Ein Fluggast hat sich „zur Abfertigung eingefunden“, wenn er sich am Schalter angestellt hat (BGHS Wien, Urt. v. 20.12.2007 – 16 C 513/07v-23, RRa 2008, 99). Ob der so rechtzeitig erschienene Fluggast auch abgefertigt wird (Aufgabe des Gepäcks und Übergabe der Bordkarte) kann er nicht steuern. Das kann allein das Luftfahrtunternehmen, indem es bestimmt, an wie vielen Schaltern ein Flug abgefertigt wird. Dieses hat die Aufgabe, den Abfertigungsablauf so einzurichten, dass jeder rechtzeitig erschienene Fluggast rechtzeitig abgefertigt werden kann (so auch AG Düsseldorf, Urt. v. 21.01.2006 – 41 C 12361/05). Wenn ein Luftfahrtunternehmen bzw. das von ihm mit der Abfertigung beauftragte Unternehmen (oft: der Flughafenbetreiber), das die zeitlichen Vorgaben und die Zahl der abzufertigenden Passagiere kennt oder kennen kann, zu wenige Schalter anmietet und bei Erkennen bzw. Erkennenkönnen des Planungsfehlers nicht zusätzliche Schalter öffnet, liegt ein typisches Organisationsverschulden vor – ein unternehmerisches Risiko, das nicht auf den Fluggast abgewälzt werden kann. Daher kann einem Fluggast, der sich in einer langen Warteschlange vor den Abfertigungsschaltern anstellt, das Verharren von Fluggästen in der Schlange bei fortschreitendem Zeitverlauf kein gravierendes Mitverschulden angelastet werden, wenn er nicht zuvor vom Luftfahrtunternehmen aufgefordert wurde, sich sofort an einem benannten Abfertigungsschaltern zu bevorzugten Abfertigung zu melden (a.A. aber AG Düsseldorf, Urt. v. 16.12.2014 – 42 C 9584/14, RRa 2016 26 m. abl. Anm Schmid RRa 2016, 27).

22     Eine Klausel in den Allgemeinen Beförderungsbedingungen zum Check-in, die nicht auf das rechtzeitige Einfinden des zu befördernden Passagiers im Abfertigungsbereich des Luftfahrtunternehmens abstellt, sondern auf die rechtzeitige Abfertigung des Fluggastes („Besitz der Bordkarte“), ist gemäß § 307 BGB unwirksam (so auch AG Bremen, Urt. v.  26.07.2012 – 9 C 91/12, juris Rn. 21; Schmid, RRa 2016, 27).

23   Wird ein Fluggast erst zu einem Zeitpunkt abgefertigt, der weniger als 45 Minuten beträgt, weil die Abfertigung der Passagiere, die sich vor ihm angestellt haben, lange dauert, so ist dies unbeachtlich. Denn es ist Aufgabe des Luftfahrtunternehmens, den Abfertigungslauf so einzurichten, dass ein rechtzeitig vor Meldeschluss eintreffender Fluggast rechtzeitig abgefertigt werden kann (AG Düsseldorf 21.1.2006 – 41 C 12361/05, RRa 2006, 130 m. Anm. Themann RRa 2006, 131: Unnötige Förmelei, wenn Fluggast ohnehin von der Passagierliste gestrichen wurde). Es kann nicht verlangt werden, dass der Fluggast die „beim heutigen Flugverkehr üblicherweise auftretenden Wartezeiten“ berücksichtigt (so aber BGHS Wien, a.a.O.). Denn diese sind nicht nur von Flughafen zu Flughafen, sondern auch je nach Tageszeit unterschiedlich. Da diese Umstände aber einem Luftfahrtunternehmen bekannt sind, ist es dessen Aufgabe, solche Umstände bei der Angabe der Meldeschlusszeiten zu berücksichtigen. Dies dürfte in gleicher Weise für eine Verlängerung der Mindestumsteigezeit gelten, etwa wegen zu erwartender Abfertigungsschlangen bei den Sicherheitskontrollen.

24      Auch hat das Luftfahrtunternehmen vor Schließung des Abfertigungsschalters für einen bestimmten Flug noch fehlende Fluggäste des betreffenden Fluges aufzurufen, wenn sich vor dem Abfertigungsschalter immer noch eine Warteschlange befindet. Nach Ansicht des AG Charlottenburg, Urt. v. 21.04.2009 – 226 C 331/08, RRa 2009, 189 f.) soll den Fluggast ein Mitverschulden treffen, wenn er wegen einer Warteschlange absehbar nicht mehr rechtzeitig abgefertigt wird und sich nicht von sich aus meldet. Es liegt aber kein Fall der ausgleichspflichtigen Nichtbeförderung vor, wenn der Flugreisende infolge einer ihm nicht zugegangenen Flugzeitenänderung seinen Flug nicht erreicht, weil dieser um 3 Stunden vorverlegt wurde (AG Charlottenburg, Urt. v. 30.10.2009 – 207 C 290/09, RRa 2010, 38 = BeckRS 2010, 04889).

25      Art. 3 Abs. 2 VO bezieht sich ausschließlich auf den Check-in am Abfertigungsschalter und nicht auf das Erscheinen des Fluggastes am Flugsteig. Auch wenn dieser erst 30 Minuten vor Abflug am Check-in erscheint, aber noch abgefertigt wird, kann das Luftfahrtunternehmen ihm die Beförderung nicht verweigern und sich nicht mehr darauf berufen, dass er sich nicht 45 Minuten vor Abflug am Check-in eingefunden hat (LG Frankfurt, Urt. v. 25.03.2013 – 2-24 S 151/12).

26    Ein Fluggast, der bei einem bestimmten  Luftfahrtunternehmen einen so genannten Code-Share-Flug gebucht hat, muss ohne besonderen Hinweis nicht automatisch davon ausgehen, dass die Abfertigung seines Fluges nicht vom vertraglichen Luftfrachtführer, sondern von dessen Code-Share-Partner vorgenommen wird. Unterlässt es ein noch nicht durchabgefertigter Fluggast, nach Ankunft seines Zubringerfluges auf der Anzeigetafel am Flughafen nachzusehen, wo sein Anschlussflug abgefertigt wird, trifft ihn kein Mitverschulden, wenn er sich zunächst an einem Schalter des vertraglichen Luftfrachtführers anstellt und während der Wartezeit die Abfertigung des Fluges am Schalter des ausführenden Luftfrachtführers verpasst (OLG Frankfurt, Urt. v. 05.08.2005 – 19 U 57/05, RRa 2006, 34 f.; so schon: LG Frankfurt, Urt. v. 27.01.2005 – 2/26 O 416/03, RRa 2005, 133 f.).

26a     Nach Blankenburg (RRa 2013, 61, 67) kann als geklärt gelten, dass ein Erscheinen bis zum Abschluss des Boardings ausreicht, wenn zwei Flüge verschiedener Fluggesellschaften gemeinsam abgefertigt werden. Würden hingegen zwei eigenständige Flüge vorliegen, die der Fluggast selbst zusammengestellt hat, soll für die Anwendung des Art. 3 Abs. 2 VO ein Erscheinen bis zum Abschluss des Boardings nicht ausreichen; es bestehe dann für den 2. Flugabschnitt kein Ausgleichsanspruch. Liege jedoch eine Verspätung im ersten Flugabschnitt vor und erscheine der Fluggast für den 2. Flug noch rechtzeitig bis zum Abschluss des Boardings und wurden beide Flüge verschiedener Fluggesellschaften gemeinsam abgefertigt, könne gegenüber beiden Fluggesellschaften ein Ausgleichsanspruch geltend gemacht werden; beide Gesellschaften würden als Gesamtschuldner haften mit der Möglichkeit eines Innenausgleichs zwischen den beiden Fluggesellschaften gemäß § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB (Blankenburg, a.a.O., S. 69, auch zu der erheblichen Verspätung bei beiden Flugabschnitten).

26b     Wird der Reisende mit seinem Reisegepäck bereits am Abflugort des Zubringerfluges auch für den Anschlussflug abgefertigt, setzt eine Ausgleichszahlung wegen Nichtbeförderung auf dem Anschlussflug weder eine erneute Abfertigung am Umsteigeflughafen noch eine Ankunft 45 Minuten vor dem Abflug des Anschlussfluges voraus (BGH, Urt. v. 28.08.2012 – X ZR 128/11, RRa 2012, 285 f.).

27    Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht verfügbar ist, haben nach Art. 3 Abs. 3 VO keine Rechte aus der Verordnung. Bei sprachlich-grammatikalischer Auslegung besteht kein Zweifel, dass Art. 3 Abs. 3 VO zwei Fallvarianten erfasst: Reisende, die kostenlos reisen und solchen die zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Der Relativsatz bezieht sich allein auf die 2. Variante (so auch Wahl, RRa 2013, 266 ff. AG Rüsselsheim, Urt. v. 29.10.2013 – 3 C 2404/13-32). Bei einer Flugpauschalreise kommt es nach Ansicht des LG Darmstadt (Urt. v. 19.02.2014 – 7 S 99/13, RRa 2014, 84 = BeckRS 2014, 08340) nicht darauf an, ob der Reiseveranstalter des Fluggastes einen Preis für die Luftbeförderung berechnet hat, sondern ob das Luftfahrtunternehmen den Fluggast kostenlos befördert hat.

28     Kostenlos Reisende sind mit Recht ausgeschlossen, weil es unbillig wäre, dass diese – wie vollzahlende Fluggäste – Ansprüche nach der Verordnung geltend machen könnten, während Reisende, die zu öffentlich nicht zugänglichen Sondertarifen, befördert werden, keine Ansprüche geltend machen können, obwohl sie immerhin einen Teil des vollen Tarifs gezahlt haben (so auch Wahl, a.a.O.). Deshalb hat nach zutreffender Ansicht des BGH (Urt. v. 17.03.2015 – X ZR 35/14, RRa 2015, 182) ein kostenlos befördertes Kleinkind auch dann keinen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 VO, wenn sich die Entgeltfreiheit aus einem für die Öffentlichkeit verfügbaren Tarif ergibt.

III. Absatz 3

29   Unter einem „reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist“, ist nicht schon jeder ungewöhnlich niedrige Preis eines Luftfahrtunternehmens zu verstehen, wie er insbesondere von den sog. „Billig-Fliegern“ angeboten wird (Art. 3 Abs. 3 VO). Gemeint sind Flüge, bei denen der Fluggast zu einem Sondertarif fliegt, der am freien Markt nicht erhältlich ist, so etwa Freiflüge oder Sondertarife für (aktive oder ehemalige) Mitarbeiter von Luftfahrtunternehmen oder Reiseveranstaltern. Solche Flüge sind in der Regel mit „ID“ (Industry Discount) oder „AD“ (Agent Discount) gekennzeichnet. Reist ein Reisebüro-Expedient z.B. auf Einladung eines Reiseveranstalters oder einer Fluggesellschaft im Rahmen eines Produktvorstellungsprogramms (Personal Education Program) zum „Null-Tarif“ (PEP-Tarif), so kann er im Fall einer Flugannullierung, Nichtbeförderung oder einer Verspätung keine Ansprüche aus der Verordnung herleiten. Die Tarife, die ein Luftfahrtunternehmen einem Reiseveranstalter für Flüge im Rahmen einer Flugpauschalreise zur Verfügung stellt, sind keine gegenüber einem „Normaltarif“ reduzierten Tarife. So hat auch das LG Darmstadt (Urt. v. 02.03.2011 – 7 S 95/10, RRa 2011, 135 f.; Urt. v. 18.12.2013 – 7 S 90/13) entschieden und dabei zutreffend festgestellt, dass jede andere Betrachtung zur Konsequenz hätte, „dass bei der Beförderung für Reiseveranstalter die meisten Passagiere zu einem reduzierten Tarif fliegen und damit aus dem Anwendungsbereich der Verordnung fallen würden.“ Dies sei aber erkennbar nicht das Ziel dieser Verordnung (vgl. Ziff. 5 der Erwägungsgründe).

30   Von diesen „Funktionsrabatten“ (so Hausmann, Europäische Fluggastrechte, S. 69) zu unterscheiden sind die zeitabhängigen Rabatte (z.B. ein Frühbucher-Rabatt“, „Last-minute-Angebote“) und die Rabatte, für die bestimmte persönliche Voraussetzungen (z.B. Alter, Gruppenzugehörigkeit) beim Fluggast vorliegen müssen, sofern sie für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Als „Öffentlichkeit“ kann nur die Gesamtheit von Personen gemeint sein, die außerhalb des Unternehmens der Fluggesellschaft stehen, nicht aber Mitarbeiter der betreffenden Fluggesellschaft oder auch von touristischen Unternehmen, mit denen das Luftfahrtunternehmen kooperiert. Diese sollen bei Einräumung von reduzierten Tarifen für ihre Flugreise nicht ihren Arbeitgeber bzw. das andere touristische Unternehmen mit der Forderung auf Ausgleichszahlung oder Einräumung von Betreuungsleistungen belasten können. Muss ein von einem Erwachsenen begleitetes Kleinkind unter 2 Jahren (Infant) nur 10% des Flugpreises bezahlen, liegt ein (zumindest mittelbar) öffentlich verfügbarer Tarif vor (so auch Hausmann, a.a.O., S. 66). Gleiches gilt für einen „Seniorentarif“ oder einen „Studententarif“ usw.

31     Fraglich ist, ob ein „Journalisten-Tarif“ ein Tarif ist, der „der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Als „Öffentlichkeit“ kann nur die Gesamtheit von Personen gemeint sein, die außerhalb des Unternehmens der Fluggesellschaft steht, nicht aber Mitarbeiter der betreffenden Fluggesellschaft oder eines touristischen Unternehmens, mit denen das Luftfahrtunternehmen kooperiert. Der Journalistentarif steht allen Journalisten und damit der (wenn auch begrenzten) Öffentlichkeit zur Verfügung. Die Einräumung eines solchen Tarifs ist daher gleichzusetzen mit der Einräumung eines Kindertarifs, der zwar ebenfalls reduziert ist, aber der Öffentlichkeit (der „Gemeinschaft aller Kinder“) zur Verfügung steht (a.A. LG Frankfurt a. M.  06.06.2014 – 2 – 24 S 207/13). In diesem Verständnis kann der Ausschluss durch Art. 3 Abs. 3 VO nicht greifen. Das muss insbesondere dann gelten, wenn der Journalist zunächst einen nicht reduzierten „öffentlich zugänglichen“ Tarif bucht und das Luftfahrtunternehmen im Nachhinein prüft, ob ihm ein Teil des Tarifs erstattet oder erlassen wird.

32     Legt ein Reiseveranstalter einen vom Luftfahrtunternehmen angebotenen Tarif, der aber in den Reiseunterlagen nicht gesondert ausgewiesen wird und daher dem Reisenden nicht bekannt ist, dem Reisepreis zugrunde, handelt es sich nicht um einen reduzierten Tarif, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Denn der vom Reisenden über den Reiseveranstalter nur mittelbar an das befördernde Luftfahrtunternehmen gezahlte Flugpreis ist ein „öffentlich verfügbarer Tarif“ i.S.v. Art. 3 Abs. 3 VO (AG Düsseldorf, Urt. v. 28.09.2006 – 39 C 9179/06, RRa 2007, 38 f.; LG Darmstadt, Urt. v. 02.03.2011 – 7 S 95/10, RRa 2011, 135 f.; Urt. v. 18.12.2013 – 7 S 90/13). Auch ein vom Reiseveranstalter angebotener „Kindertarif“ ist „öffentlich verfügbar“, wenn er ein vergünstigter Tarif“ ist, der jedem Kind und damit für die Öffentlichkeit verfügbar ist (so auch für ein sechsmonatiges Kleinkind: LG Stuttgart, Urt. v. 07.11.2012 – 13 S 95/12, RRa 2013, 130 = NJW 2013, 380 = NZV 2013, 303; Wahl, RRa 2013, 262 ff.).

33    Nach zutreffender Ansicht von Hausmann (a.a.O., S. 67) gilt das Vorstehende auch für eine (selbst organisierte) Reisegruppe, für die ein Luftfahrtunternehmen eine Gruppenermäßigung (Gruppen-Tarif) anbietet. Es gibt keinen sachlichen Grund, diese Reisegruppe anders zu behandeln als eine von einem Reiseveranstalter gebildete „Reisegruppe“, um für den einzelnen Reisenden eine Ermäßigung des Beförderungsentgeltes zu erreichen

34    Auch mengenrabattierte Flugpreise, die ein Luftfahrtunternehmen einem Unternehmen anbietet, das in einem bestimmten Zeitraum ein Mindestvolumen von Flügen für ihre geschäftsreisenden Mitarbeiter bucht            („Corporate Discounts“, CD), sind vom Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 nicht erfasst (ebenso: Hausmann, a.a.O., S. 68; wohl auch: Haanappel, ZLW 2005, 22, 23).

35   Nach Art. 3 Abs. 4 VO gilt die Verordnung nur für Fluggäste, die von Motorluftfahrzeugen mit festen Tragflächen befördert werden.

36   Die Verordnung gilt nach Art. 3 Abs. 5 VO für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderung für Fluggäste im Sinne von Art. 3 Abs. 1 und 2 VO erbringen. Erfüllt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen dieser Verordnung, so wird davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht.

37   Die Verordnung verpflichtet somit zu Ausgleichszahlungen und Unterstützungsleistungen nicht das  Luftfahrtunternehmen, das die konkrete Luftbeförderung vertraglich schuldet, sondern ausschließlich dasjenige, welches den konkreten Flug durchführt oder durchführen sollte, auf dem der Fluggast nicht befördert wird oder sonst von einer Flugunregelmäßigkeit betroffen ist. Welche vertragliche Konstruktion dem Fluggeschehen zugrunde liegt, ist nicht maßgebend. So gilt die Verordnung sowohl für Fluggäste, die den Flug beim Luftfahrtunternehmen gebucht haben als auch für  Reisende, deren Flug Teil einer Flugpauschalreise nach Maßgabe des Pauschalreiserechts ist(§§ 651a ff. BGB und Art. 3 Nr. 6 der Richtlinie (EU) 2015/2302 vom 25.11.2015 , ABl. EU 2015 L 326, 1).

38    Gleich, ob der Fluggast einen sog. Nur-Flug gebucht hat oder im Rahmen einer Flugpauschalreise befördert wird, richtet er also seine Ansprüche gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen, auch wenn keine Vertragsbeziehung zwischen ihm und diesem Luftfahrtunternehmen besteht. Das Gleiche gilt, wenn das ursprünglich vorgesehene Luftfahrtunternehmen den Flug nicht durchführen kann und ein anderes Luftfahrtunternehmen mit der Luftbeförderung beauftragt. Ebenso im Falle eines Code-Share-Fluges, wenn das vertraglich verpflichtete Luftfahrtunternehmen planmäßig und wie mit seinem Code-Share-Partner abgesprochen, bei einem Rundflug (z.B. von Frankfurt über New York nach Miami und zurück) dem Fluggast zwar für jeden Flugabschnitt ein Ticket ausstellt, selbst aber lediglich von Frankfurt nach New York und zurück fliegt, für die inneramerikanischen Flüge aber unter seiner Flugnummer einen seiner US-amerikanischen Code-Share-Partner fliegen lässt. Siehe hierzu: BGH, Urt. v. 26.11.2009 – Xa ZR 132/08, RRa 2010, 85 f. = NJW 2008, 2119: Im Fall des Code-Sharing ist nur dasjenige Flugunternehmen, das den Flug tatsächlich durchführt, ausführendes Luftfahrtunternehmen im Sinne von Art. 2 lit. b VO und damit im Falle der Annullierung des Fluges zu Unterstützungsleistungen und Ausgleichleistungen verpflichtet (so schon: AG Frankfurt, Urt. v. 15.06.2007 – 31 C 739/07-23, RRa 2008, 48 f.).

39    Zum „ausführenden Luftfahrtunternehmen“ siehe Art. 2 VO  Rn. 3 sowie BGH, Beschl. v. 11.03.2008 – X ZR 49/07, RRa 2008, 175 f. = NJW 2008, 2119 f. = DAR 2008, 467 f., Führich, LMK 2008, 266064 (Heft 9/2008); AG Oberhausen, Urt. v. 11.12.2006 − 35 C 2313/06, RRa 2007, 91 f., mAnm. Führich, RRa 2007, 58 f.

39a   Die Tatsache, dass eine bestimmte Fluggesellschaft „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ war, ist eine für den Fluggast günstige, weil anspruchsbegründende Tatsache, für das der Fluggast als Kläger im Zivilprozess die volle Darlegungs- und Beweislast trägt. Etwas anderes gilt nach zutreffender Ansicht des LG Düsseldorf (Urt. v. 13.12.2014 – 22 S 234/12 RRa 2014, 208 = BeckRS 2014, 17370 = juris), wenn sich das beklagte Luftfahrtunternehmen im Nachgang zur gescheiterten Beförderung wie das ausführende Luftfahrtunternehmen verhält, indem es sich mit der Abwehr der vom Fluggast geltend gemachten Ansprüche befasst hat. In diesem Fall muss das in Anspruch genommene Luftfahrtunternehmen beweisen, dass es nicht „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ war.

40    Art. 3 Abs. 3 VO findet nur bei einer Direktbuchung Anwendung. Legt ein Reiseveranstalter einen vom Luftfahrtunternehmen angebotenen, dem Reisenden aber nicht bekannten Flugtarif zugrunde, handelt es sich nicht um einen reduzierten Tarif, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist (LG Darmstadt, Urt. v. 02.03.2011 − 7 S 95/10, RRa 2011, 134 f.).

41   Der Fluggast eines Fluges, aber auch der Reisende einer Flugpauschalreise macht seine Ansprüche nach der Verordnung ausschließlich beim ausführenden Luftfahrtunternehmen geltend, auch wenn keine Vertragsbeziehungen zwischen ihm und dem Luftfahrtunternehmen bestehen. Der Reiseveranstalter einer Flugpauschalreise ist zwar nach dem Montrealer Übereinkommen vertraglicher Luftfrachtführer, jedoch nicht Schuldner im Rahmen der Verordnung (BGH, Beschl. v. 11.03.2008 – X ZR 49/07, RRa 2008, 175 f. = NJW 2008, 2119). Nach Erwägungsgrund 7 der Verordnung obliegen die Verpflichtungen aus der Verordnung nur dem ausführenden Luftfahrtunternehmen. Dieses ist in Art. 2 lit. b VO definiert. Die Reiseunternehmen sind nach Art. 2 lit. d VO ausdrücklich mit dem Zusatz „mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen“ definiert. Der Wortlaut in Art. 3 Abs. 5, Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 1 lit. c VO ist klar und eindeutig, so dass auch eine analoge Anwendung der Verordnung auf Reiseveranstalter ausgeschlossen ist, da keine unbeabsichtigte Regelungslücke vorliegt.

42    Schon der Titel der Verordnung „über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung von Flügen…“ bezeichnet deutlich den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung und damit den Anspruchsberechtigten, nämlich eben den „Fluggast“. Ist der Fluggast aber Arbeitnehmer auf Dienstreise, soll dessen Anspruchsberechtigung fraglich sein. Wenn der betroffene Flug vom Arbeitgeber für die Dienstreise gebucht und bezahlt wurde, soll der Anspruch nur dem Arbeitgeber zustehen (so AG Emden, Urt. v. 27.01.2010 am 10.7.2008 − 5 C 197/06, RRa 2010, 135 mAnm. Schmid RRA 2010, 136). Dem ist das Berufungsgericht jedoch nicht gefolgt: Das LG Aurich hat hierzu in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, der „Fluggast“ sei der zentrale Begriff der Verhandlung. Der Kontext der Verordnung verwendet den Begriff „Fluggast“ an vielen Stellen, so z.B. bezüglich des Schutzes für „Fluggäste, die einen Flug antreten“ (Erwägungsgrund 6), in Bezug auf „Fluggäste, die nicht befördert werden“ (Erwägungsgrund 10) oder in Bezug auf die „Betreuung von Fluggästen“ (Erwägungsgrund 18).

43      In keiner ihrer Regelungen stellt die Verordnung aber als Anspruchsvoraussetzung auf eine Vertragsbeziehung des Fluggastes mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen ab. Eine juristische Person kann weder einen Flug antreten noch von einer Annullierung betroffen sein oder betreut werden. Anspruchsinhaber ist vielmehr derjenige, der den Anspruch auf Beförderung (aufgrund eines Vertrages, den er nicht notwendiger Weise selbst geschlossen haben muss) hat. Dies ist beim Vertrag zugunsten Dritter (zwischen Arbeitgeber und Fluggesellschaft) ausdrücklich der begünstigte „Dritte“, also der dienstreisende Mitarbeiter als Fluggast (Degott, Geschäftsreise effektiv, Ausgabe 6/Juni 2010, S. 1 f.; ders. SR-TOUR, Heft 05/2010, S. 16 f. Siehe dazu auch Brecke, ZLW 2012, 358 ff. und Schmid, RRa 2012, 136 f.).

44   Gegebenenfalls kann das ausführende Luftfahrtunternehmen nach Art. 13 VO wegen geleisteter Unterstützungs- und Ausgleichsleistungen beim Reiseveranstalter Regress nehmen. Jedoch ist Anspruchsgegner  des Fluggastes im Rahmen der Verordnung lediglich das den Flug ausführende Luftfahrtunternehmen und nicht der vertragliche Luftfrachtführer, also weder das den Flugschein ausstellende Luftfahrtunternehmen noch der Reiseveranstalter. Ein Reisender soll somit nach Ansicht des LG Darmstadt (Urt. v. 12.07.2006 – 21 S 20/06, RRa 2006,228).keinen Anspruch auf Ausgleichszahlung wegen Nichtbeförderung haben, wenn nicht das ausführende Luftfahrtunternehmen, sondern der Reiseveranstalter ihn auf einen anderen Flug umbucht (anders noch: AG Rüsselsheim, Urt. v. 06.01.2006 – 3 C 1127/05-33, RRa 2006,93) .

45 

Es ist gleichwohl strittig, ob die Verordnung auch auf eine Umbuchung anzuwenden ist, die nicht durch das ausführende Luftfahrtunternehmen, sondern allein durch das Reiseunternehmen veranlasst worden ist. Diese Frage hat der BGH (Beschl 07.10.2008 – X ZR 96/06, RRa 2009, 89 f., Besprechung Führich LMK 2009, 273370) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Das Verfahren ist beim EuGH als Rechtssache C-525/08 – Bienek ./. Condor) geführt (ABl. EG 2009 C 55, 8), dann aber wieder aus dem Register gestrichen worden. Das AG Rüsselsheim (06.01.2006 – 3 C 1127/05-35, RRa 2006, 92) hatte in der ersten Instanz zutreffend entschieden, dass auch die Umbuchung des Fluggastes auf einen anderen Flug durch den Reiseveranstalter einen Anspruch auf Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechte-Verordnung begründet (ebenso: AG Bremen 14.12. 2010 – 18 C 73/10, NJW-RR 2011, 853 = RRa 2014, 97 = BeckRS 2011, 00768; AG Düsseldorf 10.10.2013 – 23 C 6252/13, NJW-RR 2014, 437 = BeckRS 2014, 01002). (ebenso: AG Düsseldorf, Urt. v. 10.10.2013 – 23 C 6252/13, NJW-RR 2014, 437).

46         Die Verordnung lässt nach Abs. 6 S. 1 die aufgrund der RL 90/314/EWG (jetzt: RL (EU) 2015/2302) und §§ 651a ff. BGB bestehenden Fluggastrechte unberührt. Die Verordnung gilt nicht für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird (Abs. 6 S. 2 VO).

47      Die Verordnung schafft somit keine vertraglichen Rechte des Fluggastes gegen sein vertragliches Luftfahrtunternehmen. Sie gewährt vielmehr gesetzliche Ansprüche als Mindestrechte gegen das den Flug tatsächlich ausführende Luftfahrtunternehmen unabhängig davon, ob den Fluggästen tatsächlich ein Schaden entstanden ist (BGH, Urt. v. 30.04.2009 – Xa ZR 78/08, RRa 2009, 239 = NJW 2009, 2740 = BeckRS 2009, 20181). Die Verordnung enthält also kein umfassendes Regelwerk für sämtliche Fluggastrechte, wenn ein Fluggast nicht oder verspätet befördert wird. Vielmehr werden nur gesetzliche, außervertragliche Mindestrechte bei Nichtbeförderung, Annullierung oder großer Ankunftsverspätung geschaffen (Führich, Reiserecht §38 Rn. 1).

46         Die Verordnung lässt nach Abs. 6 S. 1 die aufgrund der Richtlinie 90/314/EWG (jetzt: Richtlinie (EU) 2015/2302) und §§ 651a ff. BGB bestehenden Fluggastrechte unberührt. Die Verordnung gilt nicht für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird (Abs. 6 S. 2 VO).

48   Gemäß Art. 3 Abs.1 lit. b VO ist die Anwendung der VO ausgeschlossen, wenn der Fluggast an einem in einem sog. Drittstaat gelegenen Abflugsort bereits Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten hat. Insoweit ist erforderlich, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen konkret vorträgt, welche einzelnen Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen dieser Fluggast empfangen hat. Es genügt nicht, pauschal auf „Verpflegung“ und „Hotelunterbringung“ aller Passagiere zu verweisen. Denn die konkret erbrachten Unterstützungsleistungen müssen ihrem Umfang nach mit der dem einzelnen Fluggast zu leistenden Ausgleichsleistung vergleichbar sein, um diese zu ersetzen (AG Bremen, Urt. v. 29.11.2013 – 2 C 0049/13, RRa 2014,207).

Artikel 2 – Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a) „Luftfahrtunternehmen“ ein Lufttransportunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung;

b) „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen ei-ner anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt;

c) „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ ein Luftfahrtunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung, die von einem Mitglied-staat gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 2407/92 des Rates vom 23. Juli 1992 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen erteilt wurde;

d) „Reiseunternehmen“ einen Veranstalter im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen;

e) „Pauschalreise“ die in Artikel 2 Nummer 1 der Richtlinie 90/314/EWG definierten Leistungen;

f) „Flugschein“ ein gültiges, einen Anspruch auf Beförderungsleistung begründendes Dokument oder eine gleichwertige papierlose, auch elekt-ronisch ausgestellte Berechtigung, das bzw. die von dem Luftfahrtunter-nehmen oder dessen zugelassenem Vermittler ausgegeben oder geneh-migt wurde;

g) „Buchung“ den Umstand, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde;

h) „Endziel“ den Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen den Zielort des letzten Flu-ges; verfügbare alternative Anschlussflüge bleiben unberücksichtigt, wenn die planmäßige Ankunftszeit eingehalten wird;

i) „Person mit eingeschränkter Mobilität“ eine Person, deren Mobilität bei der Benutzung von Beförderungsmitteln aufgrund einer körperlichen Behinderung (sensorischer oder motorischer Art, dauerhaft oder vorübergehend), einer geistigen Beeinträchtigung, ihres Alters oder auf-grund anderer Behinderungen eingeschränkt ist und deren Zustand besondere Unterstützung und eine Anpassung der allen Fluggästen bereitgestellten Dienstleistungen an die Bedürfnisse dieser Person erfordert;

j) „Nichtbeförderung“ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzu-reichenden Reiseunterlagen;

k) „Freiwilliger“ eine Person, die sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat und dem Aufruf des Luftfahrtunternehmens nachkommt, gegen eine entsprechende Gegenleistung von ihrer Buchung zurückzutreten;

l) „Annullierung“ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.

I. Begriffsdefinitionen

1. Ausführendes Luftfahrtunternehmen

1    Nach Art. 2 lit. a – c VO ist ein „Luftfahrtunternehmen“ nur ein solches, das eine gültige Betriebserlaubnis hat, und im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt. Es ist unerheblich, ob diese andere Person eine natürliche oder juristische Person ist.

2    Ein „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ ist ein Luftfahrtunternehmen, dem von einem Mitgliedstaat eine gültige Betrieb-genehmigung erteilt wurde, die den Anforderungen der Verordnung (EWG) Nr. 2407/92 des Rates vom 23. Juli 1992 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen entspricht. Die vorerwähnte Verordnung ist nunmehr Bestandteil der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 24.09.2008 = NJW-RR 2013, 1068 = TranspR 2013, 307); siehe auch die Zusammenfassung bei: Hausmann).

3    Nach der Legaldefinition in Art. 2 lit. b VO ist ein „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen − ju-ristischen oder natürlichen − Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durch-zuführen beabsichtigt; wer Betreiber des eingesetzten Fluggerätes ist, spielt für die Frage, wer den Flug als „ausführendes Luftfahrtunter-nehmen“ durchführt, keine Rolle (AG Frankfurt, Urt. v. 29.03.2012 – 31 C 2809/12-78, RRa 2012, 235; BG Schwechat, Urt. v. 11.02.2014 – 16 C 164/13h).

4    Wahl (RRa 2013, 262 ff.) vertritt die Ansicht, dass die 1. Alter-native („durchführt“) sich nur auf die Fälle der Verspätung beziehe, während die 2. Alternative („durchzuführen beabsichtigt“) nur für die Fälle der Annullierungen eines Fuges gelte und daher nicht bei Flug-verspätungen angewendet werden könne (vgl. auch AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.04.2013 – 3 C 3406/12-33). Da Art. 2 lit b VO eine solche Differenzierung aber gerade nicht vornimmt, ist das nicht überzeugend (ebenso BG Schwechat, Urt. v. 11.02.2014 – 16 C 164/13h).

5    Der BGH hat sich für den Fall von Code-share-Flügen mit der Frage auseinandergesetzt, wer als ausführendes Luftfahrtunternehmen anzusehen ist. Im Urteil vom 26.11.2009 (Xa ZR 132/08, RRa 2010, 85 = NJW 2010, 1522 = EuZW 2010, 271 = ZLW 2012, 431) hat er in Rn. 9 ff. ausgeführt:

„[9] Die mit dieser Auslegung einhergehende Differenzierung zwischen den verschiedenen Luftfahrtunternehmen, denen sich der Fluggast bei einem Flug gegenübersehen kann, ist nicht nur der Legaldefinition des „ausführenden Luftfahrtunternehmens“ mit der dort beschriebenen Möglichkeit zu entnehmen, dass der Flugreisevertragspartner des Fluggastes mit dem den Flug tatsächlich durchführenden Luftfahrtunternehmens nicht identisch und dann auch nicht als ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einzustufen ist. Die Unterscheidung findet sich darüber hinaus in weiteren Bestimmungen der Verordnung wieder. So sind nach der Regelung in Art. 3 Abs. 5 Satz 2 die Leistungen, mit denen das ausführende Luftfahrtunternehmen seine Verpflichtungen aus der Verordnung gegenüber einem Fluggast erfüllt, mit dem es in keiner Vertragsbeziehung steht, als für das vertraglich verpflichtete Unternehmen erbracht anzusehen. Nach Art. 13 VO kann das ausführende Luftfahrtunternehmen, das Ausgleichszahlungen an Fluggäste leistet oder sonstige sich aus der Verordnung ergebende Pflichten erfüllt, den Vertragspartnern der Fluggäste gegenüber Regress nehmen.

[10] b) Dasselbe Verständnis vom Begriff des ausführenden Luftfahrtunternehmens als des Unternehmens, das die Beförderung tatsächlich bewirkt, liegt auch den internationalen Bestimmungen des Montrealer Übereinkommens vom 28. Mai 1999 zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (ABl. EG Nr. L 194 v. 18.07.2001, S. 39; BGBl. 2004 II, 458) zugrunde. Auf dessen Vorgaben zu den Verpflichtungen des ausführenden Luftfahrt-unternehmens bezieht sich die Verordnung, deren Bestimmungen jene des Montrealer Übereinkommens ergänzen (vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006 – Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403 = RRa 2006, 127= NJW 2006, 351, Tz. 46 – IATA und ELFAA), in Erwägungsgrund 14 ausdrück-lich. In den Regelungen, die das Montrealer Übereinkommen in Kapitel V zur Luftbeförderung durch einen anderen als den vertraglichen Luft-frachtführer vorsieht, wird einleitend mit den Legaldefinitionen in Art. 39 ebenfalls unterschieden zwischen dem vertraglichen Luftfrachtführer, der mit einem Reisenden bzw. Absender einen Beförderungsvertrag ge-schlossen hat, und dem ausführenden Luftfrachtführer, bei dem es sich um „eine andere Person“ handelt, die aufgrund einer Vereinbarung mit dem vertraglichen Luftfrachtführer berechtigt ist, die Beförderung ganz oder teilweise auszuführen. Aus dieser Abgrenzung und Wortwahl des Montrealer Übereinkommens ist in Übereinstimmung mit der hierzu im Schrifttum wohl einhellig vertretenen Auffassung (vgl. Pokrant, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB [2. Aufl.], MÜ Art. 39 Rn. 6 m.w.N.; MünchKomm-BGB/Tonner [5. Aufl.], nach § 651 Rn. 15 m.w.N.; Dett-ling-Ott, in: Giemulla/Schmid, Frankfurter Kommentar zum Luftver-kehrsrecht, Bd. 3, [30. Aufl. 2007], Art. 39 MÜ Rn. 7, 17 f.) für die Auslegung des Begriffs des ausführenden Luftfrachtführers das Erfordernis abzuleiten, dass dieser mit dem von ihm betriebenen Flugzeug die Beförderung tatsächlich durchführt.

[11] c) Gestützt wird die Auslegung des Begriffs des „ausführenden Luftfahrtunternehmens“, für den allein entscheidend ist, dass es den Flug tatsächlich durchführt, auch durch die weitere Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2005 über die Erstellung einer gemeinschaftlichen Liste der Luftfahrtunternehmen, gegen die in der Gemeinschaft eine Betriebs-untersagung ergangen ist, sowie über die Unterrichtung von Fluggästen über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens und zur Aufhebung des Art. 9 der Richtlinie 2004/36/EG (ABl. EG L 344 v. 27.12.2005, S. 15; im Folgenden: VO (EG) Nr. 2111/2005). Die Ver-ordnung (EG) Nr. 2111/2005 verwendet ebenfalls den Begriff des „ausführenden Luftfahrtunternehmens“ mit derselben Legaldefinition in Art. 2 Buchst. e und grenzt ihn ab von dem „Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr“, der in Art. 2 Buchst. c definiert wird als das Luftfahrtunternehmen, das einen Beförderungsvertrag mit einem Fluggast schließt. In Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 wird der Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr dazu verpflich-tet, die Fluggäste bei der Buchung über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu unterrichten. Dass es sich dabei um das den Flug tatsächlich durchführende Unternehmen handelt, wird in den Er-wägungsgründen 11, 13 und 14 zu dieser Vorschrift ausdrücklich er-wähnt. Mit der Regelung des Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 hat der Verordnungsgeber zudem gerade auf die Praxis des Code-Sharing reagiert, wie Erwägungsgrund 13 der Verordnung 2111/2005 belegt. Dort wird unter beispielhaftem Bezug auf das Code-Sharing die Branchenpraxis im Linienflugverkehr dargestellt, dass das Luftfahrtunternehmen, das einen Flug unter seinem Namen verkauft hat, diesen nicht tatsächlich durchführt“. Hierzu wird in Erwä-gungsgrund 13 der Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 weiter auf den Missstand hingewiesen, dass der Fluggast bisher keinen Anspruch darauf hatte, über die Identität des Luftfahrtunternehmens, das ihn tat-sächlich befördert, unterrichtet zu werden. Die Vorschrift des Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 ist nunmehr Grundlage dafür, dass in ihrem Geltungsbereich – d.h. bei Verträgen über eine Beförderung, die in der Gemeinschaft begonnen hat (Art. 10 Abs. 1 VO), das Luftfahrt-unternehmen anzugeben ist, das im Rahmen eines Code-Sharing den Flug auf dem betreffenden Streckenabschnitt tatsächlich ausführt. Hierdurch wird dem Fluggast die Wahrnehmung seiner Rechte gegen dieses Unternehmen ermöglicht.“ Vgl. dazu auch LG Linz, Urt. v. 24.02.2011, RRa 2011, 156)

6    Muss ein Luftfahrtunternehmen, das nach der Planung einen Flug durchführen sollte, ein anderes Luftfahrtunternehmen kurzfristig und ungeplant mit der Durchführung beauftragen (z.B. weil sein ei-genes Luftfahrzeug wegen eines technischen Problems oder wegen Besatzungsmangels nicht einsetzt werden kann), so liegt nach Ansicht von Wahl (RRa 2013, 262 ff.) eine „faktische“ Annullierung des geplanten Fluges vor (so auch AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.04.2013 – 3 C 3406/12-33). Dem kann aber nur gefolgt werden, wenn der Ersatzflug (Subcharter-Flug) von dem anderen Luftfahrtunternehmen mit einer eigenen Flugnummer und eigenen Zeitfenstern (Slots) durchgeführt wird. In der Regel nutzt aber das Subcharterunternehmen die Flugnummer und die Slots des beauftragenden Luftfahrtunternehmens und ist den operativen Weisungen des Auftraggebers unterworfen. Als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ ist in solchen Fällen das beauftragende Luftfahrtunternehmen anzusehen, weil es den Flug durchzuführen beabsichtigt“ hat (so auch: AG Rüsselsheim, a.a.O.; AG Rüsselsheim, Urt. v. 20.12.2013 – 3 C 3247/13-37; RRa 2014, 258 = BeckRS 2014, 18889; Wahl RRa 2013, 262 ff.). Bei einer anderen Auslegung bestünde die Gefahr der Manipulation, die zur Verschlechterung der Rechte der Fluggäste führen könnte (z.B. wenn bei einem Flug in das Gebiet der Europäischen Union ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ein nicht-europäisches Luftfahrtunternehmen einsetzen würde).

7       Anders verhält es sich, wenn der Fluggast, der einen Flug bei dem Luftfahrtunternehmen A bucht, bereits mit oder kurz nach der Bestätigung des Fluges durch das vertragliche Luftfahrtunternehmen (und damit in der Regel nicht kurzfristig)erfährt, dass er von dem Luftfahrtunternehmen B. befördert werden wird. In der Regel geschieht das durch eine meist mittelfristige sog. wet-lease-Vereinbarung („Nass- Miete“) zwischen dem Luftfahrtunternehmen A dem Unternehmen B, in der festgelegt wird, dass das geleaste (angemietete) Unternehmen mit a) einem eigenem von ihm zu stellenden Flugzeug und b) mit eigener Besatzung (= wet) den Flug unter der Flugnummer des A durchführt, wobei in der Regel der Vermieter zusätzlich auch für Versicherung, Wartung und Betrieb des Flugzeuges verantwortlich bleibt (ACMI-Vertrag) und der Mieter sich nur um die Einsatzplanung und den Verkauf der Sitzplatzkapazitäten kümmern muss (zur Vertiefung siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Flugzeug-Leasing). In einem solchen Fall ist dann das vermietende Luftfahrtunternehmen dasjenige, das „den Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt“ (so auch LG Korneuburg, Urt. v.19.06.2015 – 22 R 51/15b).

8    Das LG Frankfurt hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob der Annahme, dass ein ausführendes Luftfahrtun-ternehmen auch ein anderes Luftfahrtunternehmen als der Vertrags-partner des Fluggastes sein kann, die Tatsache entgegenstehe, dass der Vertragspartner entgegen Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/2005 den Fluggast nicht über den Wechsel des ausführenden Luftfahrtunternehmen informiert hat, weshalb der Fluggast annehmen durfte, dass der Vertragspartner lediglich ein Flugzeug eines anderen Luftfahrtunternehmens i.S.d. Erwägungsgrundes 7 VO angemietet hat (Beschl. v. 29.11.2012 – 2-24 S 104/12, RRa 2014, 39 = ADAJUR Dok.Nr. 104222). Das Verfahren wurde beim EuGH als Rs. C-116/12 – Langenbächer ./. Condor geführt, wurde aber wieder aus dem Register gestrichen, nachdem das Luftfahrtunternehmen die Berufung zurückgenommen hatte). Das Verfahren wurde beim EuGH als Rs. C-116/12 – Langenbächer ./. Condor geführt, wurde aber wieder aus dem Register gestrichen, nachdem das Luftfahrtunternehmen die Berufung zurückgenommen hatte.

9    Schon im Jahr 2008 hat der BGH (Beschl. v. 11.03.2008 − X ZR 49/07, RRa 2008, 175) klargestellt, dass ein Reiseveranstalter, der zwar „vertraglicher Luftfrachtführer“ i.S.d. Montrealer Übereinkommens sein kann, kein „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ i.S.d. Verordnung ist. Infolgedessen ist ein Reiseveranstalter für Ansprüche aus der Ver-ordnung nicht passiv-legitimiert. Gleichermaßen hat das AG Düsseldorf entschieden (Urt. v. 27. 03. 2007 − 230 C 16700/09, RRa 2008, 142).

10    Ein Tochterunternehmen eines Luftfahrtunternehmens wird jedenfalls dann nicht „zum ausführenden Luftfahrtunternehmen“, wenn es zwar den Flug durchführt, dieser aber ausschließlich unter einer Flugnummer des Mutterunternehmens abgewickelt wird (AG Bremen, Urt. v. 18.01.2013 – 4 C 516/11, RRa 2013, 191). Dies gilt nach Ansicht des AG Hannover (Urt. v. 06.12.2012 – 452 C 5686/12. RRa 2014, 56) jedenfalls dann, wenn bei einer Umsteigeverbindung (z.B. Hannover – Paris – Havanna) auf dem Flugschein als „Luftfahrtunternehmen“ für beide Flüge nur das Mutterunternehmen angegeben wird.

10a    Dass eine bestimmte Fluggesellschaft „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ war, ist eine für den Fluggast günstige, weil anspruchsbegründende Tatsache, für das der Fluggast als Kläger im Zivilprozess voll Darlegungs- und Beweislast trägt. Etwas anderes gilt nach zutreffender Ansicht des LG Düsseldorf (Urt. v. 13.12.2014 – 22 S 234/12, RRa 2014, 208 = BeckRS 2014, 17370 = juris), wenn sich das beklagte Luftfahrtunternehmen im Nachgang zur gescheiterten Beförderung wie das ausführende Luftfahrtunternehmen verhält, indem es sich mit der Abwehr der vom Fluggast geltend gemachten Ansprüche befasst hat. In diesem Fall muss das in Anspruch genommene Luftfahrtunternehmen darlegen und beweisen, dass es nicht „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ war.

10b      Weiteres Tatbestandsmerkmal des Art. 2 lit. b VO ist, dass das „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ den Flug

  • „im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast“ oder
  • „im Namen einer anderen − juristischen oder natürlichen − Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht“,

durchführt oder durchzuführen beabsichtigt. Nach dem Wortlaut muss nicht zwingend ein Vertragsverhältnis zwischen dem befördernden Luftfahrtunternehmen und dem Fluggast bestehen; er muss nur aufgrund eines Vertragsverhältnisses befördert werden. Dazu reicht z.B. ein Flugpauschalreisevertrag mit einem Reiseunternehmen (so auch BG Schwechat, Urt. v. 24.04.2015 – 18 C 374/14g-23) befördert.

11         Dass das verklagte Luftfahrtunternehmen „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ war oder sein sollte, ist eine für den Kläger günstige, weil anspruchsbegründende Tatsache, für die dieser die volle Darlegungs- und Beweislast zu tragen hat (so LG Düsseldorf, Urt. v, 13.12.2013 – 22 S 234/12, RRa 2014, 208 = BeckRS 2014, 17370 = juris). Das beklagte Luftfahrtunternehmen muss dann substantiiert (d.h. unter Angabe des Luftfahrtunternehmens, das den Flug durchgeführt hat oder durchführen sollte) bestreiten, ausführendes Luftfahrtunternehmen gewesen zu sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn es im vorprozessual geführten Schriftverkehr mit dem Fluggast seine Einstandspflicht nicht sogleich mit dem Hinweis darauf abgelehnt hat, nicht ausführendes Luftfahrtunternehmen zu sein. Weil es durch dieses Verhalten den Eindruck erweckt hat, es betrachte sich als das ausführende Luftfahrtunternehmen, obliegt es ihm, das Gegenteil zu beweisen (LG Düsseldorf, a.a.O.). Der Kläger kann das Luftfahrtunternehmen auch auf Ersatz des Schadens verklagen, der bei ihm dadurch eingetreten ist, dass er das Luftfahrtunternehmen aufgrund seines vorgerichtlichen Verhaltes als richtigen Anspruchsgegner für einen Anspruch aus der Fluggastrechte-Verordnung angesehen und dadurch unnütze Kosten verursacht hatte, die nicht entstanden wären, wenn die Beklagte sofort offenbart hätte, dass sie nicht passivlegitimiert ist (LG Düsseldorf, a.a.O.).

2. Reiseunternehmen (lit. d)

12   EinReiseunternehmen“ ist nach Art. 2 lit. d VO ein „Veranstalter“ nach Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13.6.1990 über Pauschalreisen (ABl. EG 1990 L 158, 59). Das ist eine Person, die nicht nur gelegentlich Pauschalreisen organisiert und sie zum Pauschalpreis direkt oder über einen Vermittler verkauft oder zum Verkauf anbietet.

12a    Dass das verklagte Luftfahrtunternehmen „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ war oder sein sollte, ist eine für den Kläger günstige, weil anspruchsbegründende Tatsache, für die dieser die volle Darlegungs- und Beweislast zu tragen hat (so LG Düsseldorf, Urt. v, 13.12.2013 – 22 S 234/12, RRa 2014, 208 = BeckRS 2014, 17370 = juris). Das beklagte Luftfahrtunternehmen muss dann substantiiert (d.h. unter Angabe des Luftfahrtunternehmens, das den Flug durchgeführt hat oder durchführen sollte) bestreiten, ausführendes Luftfahrtunternehmen gewesen zu sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn es im vorprozessual geführten Schriftverkehr mit dem Fluggast seine Einstandspflicht nicht sogleich mit dem Hinweis darauf abgelehnt hat, nicht ausführendes Luftfahrtunternehmen zu sein. Weil es durch dieses Verhalten den Eindruck erweckt hat, es betrachte sich als das ausführende Luftfahrtunternehmen, obliegt es ihm, das Gegenteil zu beweisen (LG Düsseldorf, a.a.O.). Der Kläger kann das Luftfahrtunternehmen auch auf Ersatz des Schadens verklagen, der bei ihm dadurch eingetreten ist, dass er das Luftfahrtunternehmen aufgrund seines vorgerichtlichen Verhaltes als richtigen Anspruchsgegner für einen Anspruch aus der Fluggastrechte-Verordnung angesehen und dadurch unnütze Kosten verursacht hatte, die nicht entstanden wären, wenn die Beklagte sofort offenbart hätte, dass sie nicht passiv-legitimiert ist (LG Düsseldorf, a.a.O.).

3. Pauschalreise (lit. e)

13    Eine „Pauschalreise“ i.S.v. Art. 2 lit. e VO ist nach Art. 2 Nr. 1 der RL 90/314/EWG vom 13.6.1990 über Pauschalreisen (ABl. EG Nr. L 158 vom 23.06.1990, S. 59) eine im voraus festgelegte Verbindung von mindestens zwei touristischen Dienstleistungen, die zu einem Gesamtpreis verkauft oder zum Verkauf angeboten wird, wenn diese Reiseleistungen länger als 24 Stunden dauern und eine Über-nachtung einschließen. Solche Dienstleistungen sind Beförderung, Unterbringung und andere touristische Dienstleistungen, die nicht Nebenleistungen von Beförderung oder Unterbringung sind und einen beträchtlichen Teil der Gesamtleistung ausmachen. Auch bei getrennter Berechnung einzelner Leistungen, die im Rahmen ein und derselben Pauschalreise erbracht werden, bleibt der Veranstalter oder Vermittler den Verpflichtungen nach dieser Richtlinie unterworfen.

4. Flugschein (lit. f)

14    Unter einem „Flugschein“ i.S.v. Art. 2 lit. f VO ist jedes gültige Schriftstück zu verstehen, das gegenüber einem Luftfahrtunternehmen den Anspruch einer darin benannten Person (Fluggast) auf Beförderungsleistung begründet. Das Dokument muss keinen bestimmten Formerfordernissen entsprechen; insbesondere ist nicht erforderlich, dass es in Form, Inhalt und Größe den IATA-Bestimmungen entspricht. Ein Flugschein i.S.d. Verordnung kann auch eine elektronisch ausgestellte oder eine papierlose Berechtigung sein. Voraussetzung ist jedoch in allen Fällen, dass das Dokument oder die sonstigen Berechtigungen von dem Luftfahrtunternehmen oder von einem von ihm zugelassenen Vermittler oder Reiseveranstalter ausgegeben oder genehmigt wurde.

5. Buchung (lit. g)

15    Eine „Buchung“ liegt vor, wenn der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung eines bestimmten Fluges von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde. Hat ein Luftfahrtunternehmen einen Fluggast unstreitig im Rahmen einer Flugpauschalreise befördert, ist vom Bestehen einer entsprechenden Buchung auszugehen (AG Frankfurt, Urt. v. 08.02.2013 – 30 C 2290/12-47, RRa 2013, 190 = BeckRS 2013, 13954 0 = LSK 2013, 341074).

16    Gibt ein Flugreisender aber über eine im Internet zur Verfügung gestellte Buchungsmaske eines Luftfahrtunternehmens in die Felder für Vor- und Zuname des Fluggastes jeweils »noch unbekannt« ein, kommt ein Beförderungsvertrag regelmäßig weder durch die Buchungsbestätigung noch durch die Einziehung des Flugpreises durch das Luftfahrt-unternehmen zustande. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dem Buchen-den der Hinweis erteilt wurde, dass eine Namensänderung nach erfolgter Buchung nicht mehr möglich ist und der angegebene Name mit dem Namen im Ausweis übereinstimmen muss (BGH, Urt. v. 16.10.2012 – X ZR 37/12, BGHZ 195, 126 = RRa 2013, 23 = NJW 2013, 598 = ZLW 2013, 520).

6. Endziel (lit. h)

17    Der Begriff „Endziel“ wird in Art. 2 lit. h VO definiert als der Zielort auf dem Flugschein, den der Fluggast am Abfertigungsschalter vorlegt. Schließt sich bei zwei aufeinanderfolgenden Flügen der zweite Flug als »direkter Anschlussflug« unmittelbar an, ist der Zielort des Anschlussfluges das Endziel (AG Hannover, Urt. v. 05.12.2012 – 451 C 987/11, RRa 2012, 132). Dies ist von Bedeutung für die Berechnung der Höhe der Ausgleichsleistung, weil bei direkten Anschlussflügen die Streckenentfernung vom Startflughafen zum Zielflughafen des Anschlussfluges berechnet wird; der Zielflughafen des ersten Fluges ist nur Zwischenlandeort und bleibt dabei unberücksichtigt (siehe dazu EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-11/11 − Air France ./. Folkerts, RRa 2013, 78 so-wie LG Hannover, Urt. v. 10.10.2012 – 12 S 19/12, RRa 2013, 88= BeckRS, 07399; LG Hannover, Beschl. v. 07.11.2013 – 14 S 1/13). Ob das nur gilt, wenn beide Flüge vom selben Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden, ist noch streitig. Ein Spruchkörper des AG Rüsselsheim hat geurteilt, dass für die Feststellung einer haftungsrelevanten Verspätung nur auf das Endziel des Fluges abzustellen ist, den das beklagte Luftfahrtunternehmen durchgeführt hat, wenn es für den Anschlussfluge nicht das ausführende Luftfahrtunternehmen gewesen ist (Urt. v. 17.09.2014 – 3 C 3786/14-36).

7. „Personen mit eingeschränkter Mobilität“ (lit. i)

18    Der Begriff des „Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität“ ist nahezu deckungsgleich mit der Definition in Art. 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 vom 05.07.2006 (ABl. EG 2006 L 204,1). Auch wenn die dort verwendete Definition des „behinderten Menschen“ in der Fluggastrechte-Verordnung nicht ausdrücklich erwähnt wird, ändert das nichts daran, dass auch diese Personengruppe mit umfasst ist.

8. Nichtbeförderung (lit. j)

19    Nach Art. 2 lit. j VO liegt eine „Nichtbeförderung“ vor, wenn sich ein Luftfahrtunternehmen weigert, Fluggäste zu befördern, obwohl diese sich unter den in Art. 3 Abs. 2 VO genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben und keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen. Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass die Verordnung lediglich die Ausgleichsleistung bei Überbuchung des Fluges regelt (Urt. v. 29.05.2008 – 16 U 39/08, RRa 2008, 179 = NJW 2009, aufgehoben durch BGH, Urt. v. 23.04.2009 – X ZR 78/08, RRa 2009, 239 = NJW 2009, 274; so auch schon: AG Hamburg, Urt. v. 05.12.2006 – 14 C 248/06, RRa 2007, 88 = BeckRS 2007, 08891= juris. Siehe dazu Schmid NJW 2009, 2724).

20    In der Rechtssache Finnair ./. Lassooy (C-22/11, RRa 2012, 281 = NJW 2013, 361 = TranspR 2013, 456) hat der EuGH am 04.10.2012 entschieden, dass der Begriff „Nichtbeförderung“ sich – anders als noch in der (Vorgänger-)Verordnung (EG) Nr. 295/91 – nicht nur auf die Nichtbeförderung wegen Überbuchung bezieht, sondern sich auch auf die Nichtbeförderung aus anderen Gründen (z. B. betrieblichen Gründen wie ein Streik) erstreckt (so auch: LG Korneuburg, Urt. v. 15.04.2016 – 22 R 6/16m).

21    In seinem Urteil vom 04.10.2012 (Rs. C-321/11 – Rodríguez Cachafeiro ./. Iberia, RRa 2012, 279 f. = NJW 2013, 363 = EuZW 2012, 943 = TranspR 2013, 453) hat der EuGH dann klargestellt, dass eine „Nichtbeförderung“ auch dann gegeben ist, wenn ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen eines einheitlichen Beförderungsvertrags, der mehrere Buchungen auf unmittelbar aufeinanderfolgenden und gleichzeitig abgefertigten Flügen umfasst, bestimmten Fluggästen die Beförderung verweigert, weil es auf dem ersten in ihrer Buchung ausgewiesenen Flug zu einer von diesem Unternehmen zu vertretenden Verspätung gekommen ist und das Unternehmen irrig angenommen hat, die Fluggäste würden den zweiten Flug nicht rechtzeitig erreichen.

21a    Umstritten und höchstrichterlich noch nicht entschieden ist die Frage, ob bei einer Vorverlegung eines Fluges durch ein Luftfahrtunternehmen von einer Annullierung des ursprünglichen Fluges oder einer Nichtbeförderung des Fluggastes auszugehen ist. Das LG Hannover hat mit Urt. v. 04.06.2014 – 6 S 4/14 (BeckRS 2015, 03100 = juris) angenommen, dass eine Vorverlegung eines Fluges keine Annullierung gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 2 lit. l VO sei und die Voraussetzungen einer analogen Anwendung der Vorschriften wie im Falle der großen Verspätung eines Fluges nicht vorlägen. Im Revisionsverfahren (X ZR 59/14) hat der BGH in einer vorläufigen Bewertung des Sachverhalts während der mündlichen Verhandlung die Ansicht geäußert, dass bei einer „mehr als nur geringfügigen Vorverlegung“ eines geplanten Fluges unter (nicht näher dargelegten) bestimmten Voraussetzungen eine Flugvorverlegung einer Annullierung gleichkommen könne. Daraufhin hat die Beklagte nach Schluss der mündlichen Verhandlung den Anspruch anerkannt, so dass der BGH das nicht näher ausführen konnte. Das AG Hannover (Urt. v. 11.04.2011 – 512 C 15244/10, RRa 2011, 146 = BeckRS 2011, 17050) und das LG Landshut (Urt. v. 18.05.2015 – 12 S 2435) haben zutreffend entschieden, dass eine Vorverlegung eines Fluges um mehr als 10 Stunden wie eine Annullierung zu behandeln ist; das BG Schwechat (Urt. v. 07.12.2015 – 4 C 284/15-14) geht schon bei einer Vorverlegung von 4 Stunden von einer Annullierung aus. Dem ist zuzustimmen, weil der Fluggast auch in diesem Fall ebenso ärgerlich und mit großen Unannehmlichkeiten (frühere Anreise, entsprechende Umplanungen, Buchung einer andernfalls nicht erforderlichen Unterkunft etc.) belastet ist wie bei einer Nichtbeförderung. Ärger und Unannehmlichkeiten zu vermeiden, jedenfalls aber zu verringern ist einer der Hauptzwecke der Verordnung (siehe Erwägungsgrund 12).

21b   Wird aber ein Fluggast von einem Flug auf einen anderen Flug (mit anderer Flugnummer!) umgebucht, kann nicht von einer Annullierung ausgegangen werden – auch dann nicht, wenn die Abflugzeit des anderen Fluges vor der des gebuchten liegt. Vielmehr liegt in diesem Fall, auf den gebuchten Flug bezogen, eine Nichtbeförderung vor, so dass Art. 4 VO analog anzuwenden ist. So hat es auch der BGH (17.03.2015 – X ZR 34/14, RRa 2015, 184 = NJW 2015,2181 mAnm. Tonner) für den Fall der Umbuchung auf einen später abgehenden Flug entschieden. Es ist aber kein vernünftiger Grund ersichtlich, warum diese Entscheidung nicht grundsätzlich auch auf die Umbuchung eines Fluges anzuwenden ist, wenn der Flug vor dem gebuchten abgeht.

21c    Für eine Annullierung ist kennzeichnend, dass das Luftverkehrsunternehmen seine bisherige Flugplanung endgültig aufgibt. Daraus ergibt sich:
– Wenn ein Fluggast, der auf einem Flug mit einer bestimmten Flug-nummer gebucht war, von einem Luftfahrtunternehmen auf einen anderen, früheren Flug mit einer anderen Flugnummer umgebucht wird, liegt hinsichtlich des ursprünglichen Fluges eine Nichtbeförderung vor (so auch: LG Landshut, Urt. v. 18.05.2015 – 12 S 2435/14, RRa 2015, 235; RRa 2016, 79 = BeckRS 2016, 07188), wenn der ursprüngliche Flug weiter durchführt wird. Wird der ursprüngliche Flug aufgegeben, ist von einer Annullierung auszugehen. Wenn ein Flug aber unter Beibehaltung der geplanten Flugnummer zeitlich nicht unerheblich (z.B. um mehr als drei Stunden) vorverlegt wird, gilt das als Annullierung des Fluges, auch wenn die Planungsänderung langfristig angekündigt wird (so AG Hannover, Urt. v. 11.04.2011 – 512 C 15244/10, RRa 2011, 146 und 195 = BeckRS 2011, 17050 für eine Vorverlegung um 10 Stunden; siehe auch AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 15.05.2013 – 4 C 273/13).

21d   Ungeklärt ist, was untere einer „mehr als nur geringfügigen Vorverlegung“ zu verstehen ist. In Anlehnung an die Entscheidung des EuGH in der Rs. Sturgeon ist das jedenfalls bei einer Vorverlegung um drei oder mehr Stunden anzunehmen.

22    Nach Ansicht des BGH (Beschl. v. 16.04.2013 – X ZR 83/12, RRa 2013, 282 = NJW-RR 2013, 1462 = BeckRS 2013, 13359) ist aus den Worten „Weigerung, Fluggäste zu befördern“ abzuleiten, dass der Anspruch des Fluggastes auf dem gebuchten Flug befördert zu werden, durch ein entsprechendes Verhalten oder eine Äußerung eines Mitarbeiters oder Beauftragten des Luftfahrtunternehmens zurückgewiesen wird. Dieses vom BGH kreierte übergesetzliche Tatbestandsmerkmal kann aber jedenfalls nicht stets Bedeutung erlangen: Wenn z.B. ein Fluggast über eine Flugvorverlegung nicht informiert wurde und deswegen zwar in den Buchungsunterlagen „zur vorgegebenen Zeit“, für diesen Flug aber „zu spät“ am (schon geschlossenen) Abfertigungsschalter erscheint und deswegen mit dem vertraglich vereinbarten Flug nicht befördert wird, kann sich ein Luftfahrtunternehmen nicht darauf berufen, sie habe dem Fluggast die Beförderung nicht ausdrücklich verweigert.

23    Der BGH hat in der vorerwähnten Entscheidung auch die Ansicht vertreten, dass der Fluggast, der einen Anspruch wegen Nichtbeförderung geltend machen will, grundsätzlich am Flugsteig anwesend gewesen sein muss und beruft sich dabei auf EuGH in der Rechtssache C-321/11 – Rodriguez Cachafeiro ./. Iberia (4.10.2012, Rn. 19, RRa 2012, 279 = TranspR 2013, 453 = EuZW 2012, 942) und in der Rechtssache C-22/11 Finnair ./. Lassooy (4.10.2012, Rn. 25, 29, RRa 2012, 281 = NJW 2013, 361 = EuZW 2012, 945 = TranspR 2013, 451; siehe dazu auch BGH 30.4.2009 – Xa ZR 78/08, RRa 2009, 239 = NJW 2009, 2740; 28.4.2012 – X ZR 128/11, WM 2012, 2302; Beschl 9.12.2010 – Xa ZR 80/10, RRa 2011, 84 = NJW 2011, 880). Nach der Definition des Art. 2 lit. j VO erscheint diese Ansicht zutreffend. Doch stellt sich die Frage, ob die Beförderungsverweigerung nicht auch schon am Abfertigungsschalter erfolgen kann. Dies hat praktische Bedeutung, wenn ein Fluggast deswegen nicht rechtzeitig am Flugsteig sein kann, weil er trotz rechtzeitigen Erscheinens am Abfertigungsschalter nicht oder nicht rechtzeitig abgefertigt wurde, z.B. weil das Luftfahrtunternehmen zu wenig Personal für die Abfertigung des betreffenden Fluges bereitgestellt hat und somit nur ein Teil der wartenden Passagiere abgefertigt werden kann. Nach der engen Definition des BGH hätten die Fluggäste, denen die Abfertigung in diesem Fall verweigert wird, keine Möglichkeit, überhaupt zum Abflugsteig (Boarding gate) zu gelangen.

24    Die Annahme, dass von einer Beförderungsverweigerung in keinem Fall ausgegangen werden kann, wenn sich der Fluggast nicht am Flugsteig eingefunden hat, hätte zur Folge, dass Fluggäste, die aufgrund einer vom Luftfahrtunternehmen zu vertretenden Verzögerung der Abfertigung nicht rechtzeitig am Flugsteig sein können (z.B. bei einer Vorverlegung der Abflugzeit), völlig schutzlos gestellt wären. Das ist mit dem Ziel der Verordnung, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, nicht vereinbar und rechtfertigt daher eine weite Auslegung des Begriffs der Nichtbeförderung. (Siehe dazu EuGH, Urt. v. 04.10.2012, Rs. C- 321/11 – Rodriguez Cachafeiro ./. Iberia, Rn. 25, RRa 2012, 279, 280 = NJW 2013, 363 = EuTW 2012, 943). In Anbetracht dessen muss auch die Verweigerung der Beförderung am Abfertigungsschalter (Check-in) grundsätzlich vom Begriff »Nichtbeförderung« im Sinne von Art. 2 lit. j VO erfasst sein. Eine Klausel in Allgemeinen Beförderungsbestimmungen eines Luftfahrtunternehmens zum Check-in, die nicht auf das rechtzeitige Einfinden des zu befördernden Passagiers im Abfertigungsbereich des Luftfahrtunternehmens abstellt, sondern auf die rechtzeitige Abfertigung des Fluggastes, ist gemäß § 307 BGB unwirksam (AG Bremen, Urt. v. 26.07.2012 – 9 C 91/12, BeckRS 2012, 16200 = juris).

24a    Der BGH hat dann mit Urteil vom 17.03.2015 (X ZR 34/14, RRa 2015, 184 = NJW 2015, 2181) auch entschieden, dass ein Luftfahrtunternehmen grundsätzlich auch dann zu einer Ausgleichszahlung wegen Nichtbeförderung verpflichtet ist, wenn es einen Fluggast, der über eine bestätigte Buchung für einen Flug verfügt, die Beförderung auf dem gebuchten Flug verweigert, bevor sich dieser zur vorgegebenen Zeit zur Abfertigung für den gebuchten Flug einfinden kann (so auch AG Düsseldorf 14.08.2015 – 37 C 15236/14, RRa 2016, 196).

25    Vertretbare Gründe“, die ein Luftfahrtunternehmen, das die Beförderung eines Fluggastes verweigert hat, entlasten können, sind nur solche, die in der Person des Fluggastes liegen (z. B. ein fehlendes Visum oder Gesundheitspapiere, gesundheitliche Gründe), die den Flugverkehr oder andere Passagiere in ihrer Sicherheit gefährden oder sonstige, öffentliche oder vertragliche Belange berühren; allgemeine oder betriebliche Risiken können nicht berücksichtigt werden (so auch AG Düsseldorf 14.08.2015 – 37 C 15236/14, RRa 2016, 196). Gründe wie die personelle Unterbesetzung eines Abfertigungsschalters oder die Umorganisation des Flugplanes nach dem Eintritt außergewöhnlicher Umstände (Streik des Flughafenpersonals), stammen aus dem betrieblichen Risiko und können daher nicht nicht als „vertretbare Gründe“ angesehen werden (EuGH 04.10.2012, Rs. C 22-11 – Finnair ./. Lassooy, Rn 40, RRa 2012, 281= NJW 2013, 361 = EuZW 2012, 945; so auch Müller-Rostin euvr 2013, 138, (150)). Das LG Frankfurt hat mit Beschluss vom 01.03.2012 – 2-24 S 185/11 (RRa 2012, 122) dem EuGH die Frage vorgelegt, ob auch sonstige Gründe außer in der Person des Fluggastes „vertretbare Gründe“ sein können, wie z.B. Fälle der höheren Gewalt. Das Verfahren wurde beim EuGH als Rs. C-316/12 – Guevara-Kamm ./. TAM geführt; es ist aber mit Beschl. v. 04.12.2012 (→ECLI:EU:C:2012:768) wieder aus dem Register gestrichen worden.

25a    Fraglich ist, ob auch ein vom Luftfahrtunternehmen nicht zu vertretender Grund vorliegt, wenn ein minderjähriger Reisender, der als Fluggast bereits angenommen wurde, den Flug nicht antritt, weil der ihn begleitenden Mutter die Beförderung verweigert wird. Das AG Erding (Urt. v. 05.11.2015 – 8 C 1575/15) hat das bejaht und angenommen, dass nach der Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 30.04.2009 – X ZR 78/08, RRa 2009, 239 = NJW 2009, 2740 = EuZW 2009, 586) keine Beförderungsverweigerung gegen seinen Willen, sondern ein freiwilliger Verzicht auf die Beförderung vorliegt. Dem kann nicht gefolgt werden, weil es jedenfalls für ein minderjähriges Kind in der Regel nicht zumutbar ist, allein zu reisen. Dies muss insbesondere dann gelten, wenn das Kind noch nicht Jugendlicher (14 – 18 Jahre) ist oder – wie im vom AG Erding zu entscheidenden Fall – die Beförderung mit unzutreffender Begründung (angebliche Listung der bei der Bezahlung des Flugpreises verwendeten Kreditkarte auf einer „black list“) verweigert wird.

25b    Wird einem minderjährigen Familienmitglied zu Unrecht die Beförderung mit der fehlerhaften Begründung verweigert, der Kinderreisepass berechtige nicht zur Einreise in das Zielland, so stellt dies nach ständiger Rechtsprechung des LG Frankfurt a.M. (9.4.2015 – 2-24 S 53/14, RRa 2015, 194, ADAJUR Dok. Nr. 108571= juris) bei einer einheitliche gebuchten Familienreise zugleich eine (faktische) unberechtigte Verweigerung der Beförderung der anderen Familienmitglieder dar, wenn diese zwar gewillt sind, den Flug anzutreten, und es nur deshalb nicht tun, weil sie das minderjährige Familienmitglied nicht allein zurück lassen wollen. Das Gericht hat zutreffend entschieden, dass es den übrigen Familienmitgliedern nicht zuzumuten ist, ein minderjähriges Kind alleine am Flughafen zurückzulassen und ohne dieses das Flug anzutreten (vgl. auch 9.5.2014 – 2-24 S 170/13; 7.3.2014 – 2-24 O 240/13; siehe dazu Sauer, RRa 2014, 166 (270)).

25c    Es besteht keine Verpflichtung des Flugunternehmens gegenüber dem Fluggast, beim Check-in dessen Reisedokumente auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. Dass solch eine Überprüfung faktisch erfolgt und auch, dass das Luftfahrtunternehmen gegenüber dem Reisenden berechtigt ist, ihm den Zutritt zum Flugzeug zu verwehren, lässt nicht den Schluss zu, dass eine solche Verpflichtung gegenüber dem Reisenden besteht (so: BG Schwechat, Urt. v. 13.03.2013 – 1 C 655/12b).

26    Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass vertretbare Gründe vorgelegen haben, trifft das Luftfahrtunternehmen.

26a    Ein Luftfahrtunternehmen kann das rechtzeitige Erscheinen eines Fluggastes am Check-in nicht mit Nichtwissen bestreiten, da dieser Umstand nicht außerhalb seiner Sphäre liegt. Dies gilt auch dann, wenn das Luftfahrtunternehmen die Aufgabe des Check-in an einen Dritten delegiert hat, weil es auch dann die Möglichkeit hat, sich entsprechende Informationen zu beschaffen (AG Erding, Urt. v. 05.11.2015 – 8 C 1575/15)

II. Wichtige nicht definierte Begriffe

1. „Fluggast“

27    Auch der wichtige Begriff „Fluggast“ ist in der Verordnung nicht definiert, obwohl er einer der zentralen Begriffe des Regelwerkes ist. Er kann daher nur mittelbar aus der Verordnung unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck bestimmt werden.

28    Fluggast bzw. „Reisender“ i.S.d. Montrealer Übereinkommens ist zunächst derjenige, der aufgrund eines Luftbeförderungsvertrages einen Beförderungsanspruch gegen den vertraglichen oder ausführenden Luftfrachtführer hat (so für das Montrealer Übereinkommen: Giemulla/Schmid, Art. 1 MÜ, Rn. 47; Reuschle, Art. 1 MÜ, Rn. 26, Ruhwedel, Der Luftbeförderungsvertrag [3. Aufl. 1999], Rn. 118). Die Fluggastrechte-Verordnung dagegen stellt nicht auf die vertragliche Beziehung zum befördernden Unternehmen ab, sondern nur auf die zu befördernde Person; wer dieser (aufgrund eines Vertrages) die Luftbeförderung versprochen hat, ist unerheblich(so auch Führich, Reiserecht (7. Aufl. 2015) § 38, Rn. 29). Bucht eine natürliche Person bei einem Luftfahrtunternehmen einen Flug, ist sie Fluggast, wenn das Luftfahrtunternehmen dieser den Flug bestätigt. Wird der Flug bei einem Luftfahrtunternehmen durch eine juristische Person gebucht und bestätigt (Beispiel: ein Unternehmen bucht für einen Mitarbeiter oder einen externen Berater eine Dienstreise; ein Reiseveranstalter bucht vor oder nach Abschluss eines Reisevertrages einen Sitzplatz für einen Reisenden), so wird zwar das Unternehmen oder der Reiseveranstalter Vertragspartner des Luftfahrtunternehmens, „Reisender“ ist aber allein der durch diesen Vertrag begünstigte Dritte (§ 328 BGB). Denn „Fluggast kann nur derjenige sein, dessen Beförderung auf der Grundlage eines mit dem Luftfrachtführer abgeschlossenen (Luftbeförderungs-)Vertrages erfolgt“ (Ruhwedel, a.a.O.). Befördert wird aber z.B. bei einer Dienstreise nicht das Unternehmen, sondern dessen Mitarbeiter. „Fluggast“ kann somit nur derjenige sein, der (aufgrund einer Buchung) tatsächlich auf einem Flug befördert wird (so auch: AG Leipzig, Urt. v. 07.07.2010 – 109 C 7651/09, BeckRS 2010,17165; a. A. AG Emden, Urt. v. 27.01.2010 – 5 C 197/09, RRa 2010, 135; Führich, Reiserecht [7. Aufl. 2015], § 38 Rn. 28; Hausmann, S. 62; a.A. wohl Hausmann S. 62; aA wohl Staudinger/Keiler, HK-FluggR/Staudinger § 3 Rn.2, der davon ausgeht, dass auch ein Unternehmer iSd 13 BGB „Fluggast“ sein kann). Ein blinder Passagier hat aber nicht deswegen keine Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung, weil er keinen Vertrag mit dem befördernden Luftfahrtunternehmen geschlossen hat, sondern weil für ihn keine bestätigte Buchung vorliegt.

28a   Dabei ist das Alter des Fluggastes unmaßgeblich. Auch Kleinkinder und Säuglinge sind „Fluggäste“ im Sinne dier Fluggastrechte-Verordnung (so auch Staudinger/Keiler, HK-FluggR/Staudinger § 3 Rn.4).

28b  Auch die Flugbesatzungsmitglieder (Piloten und Flugbegleiter) zählen nicht zu den Flugästen, soweit sie aufgrund ihres arbeitsrechtlichen Anstellungsverhältnisses an dem Flug ihres Arbeitgebers teilnehmen (so auch Ruhwedel aaO, Rn.119; Führich aaO, § 38 Rn.31; Staudinger/Keiler, HK-FluggR/Staudinger § 3 Rn.3). Dem entspricht auch die Regelung in Art. 3 lit. g Verordnung (EG) Nr. 785/2004 über Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber vom 21.4.2004 (ABl. EU 2004 L 138, 1), nach der „Fluggast“ jede Person ist, die sich mit Zustimmung des Luftfahrtunternehmens oder des Luftfahrzeugbetreibers auf einem Flug befindet, mit Ausnahme der diensthabenden Flug- und Kabinenbesatzungsmitglieder.
29    Nichts anderes ergibt die Analyse einzelner Vorschriften der Verordnung. So stellt die Verordnung z.B. im Erwägungsgrund 6 auf den Schutz der „Fluggäste, die einen Flug … antreten“, im Erwägungs- grund 10 auf „Fluggäste, die nicht befördert werden“ und im Erwägungsgrund 18 auf die „Betreuung von Fluggästen“ ab. Eine juristische Person tritt aber einen Flug nicht an, wird nicht befördert und auch nicht betreut. Ihr kann (bei einer Nichtbeförderung) auch nicht die Beförderung und der Zustieg verweigert werden.

30    Der EuGH hat in seinem Urt. v. 23.10.2012 (verb. Rs. C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C-629/10 – TUI u.a. . /. CAA, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671) darauf abgestellt, dass die Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO wegen einer Verspätung eine Kompensation von Unannehmlichkeiten ist. Solche Unannehmlichkeiten erleidet aber eine juristische Person nicht, sondern allein die (natürliche) Person, die verspätet oder gar nicht befördert wird.

31    Damit wird erkennbar, dass nicht entscheidend ist, wer den Flug gebucht und den Luftbeförderungsvertrag geschlossen hat, sondern allein, wer (aufgrund eines Vertrages, den er nicht notwendigerweise selbst geschlossen haben muss!) den Anspruch auf Beförderung hat. Das ist bei einem echten Vertrag zugunsten Dritter aber gerade nicht das Unternehmen, das den Flug gebucht und den Luftbeförde-rungsvertrag mit einem Luftfahrtunternehmen geschlossen hat, sondern der begünstigte „Dritte“. Wenn also ein Unternehmen einen Flug für einen Mitarbeiter oder einen Beauftragten gebucht hat, ist dieser allein der „Fluggast“ im Sinne der Verordnung und demzufolge auch allein berechtigt, die Unterstützungs-, aber auch die Ausgleichsleistungen zu fordern. Gleiches gilt wenn Eltern die Reise für ihr minderjähriges Kind gebucht haben.

32    Fluggast kann somit nur diejenige (natürliche) Person sein, der vom Luftfahrtunternehmen (bei einer Flugpauschalreise: von einem Reiseveranstalter) eine Buchung bestätigt wurde; auf die Reservierung eines Sitzplatzes kommt es insoweit nicht an. Siehe dazu auch Brecke, ZLW 2012, 358).

2. „Flug“

33    Der EuGH hat am 10.07.2008 in der Rechtssache C-173/07 – Schenkel ./. Emirates (RRa 2008, 237 m. Anm. Wukoschitz, RRa 2008, 242 f.) entschieden, dass der Begriff „Flug“ i.S.d. Verordnung dahingehend auszulegen ist, dass er nicht auf den Fall einer als einheitliche Leistung vereinbarten Hin- und Rückreise (also einer „Rundreise“ i.S.d. Art. 1 MÜ) anwendbar ist, bei der die Fluggäste, die ursprünglich auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats einen Flug angetreten haben, zu diesem Flughafen mit einem Flug von einem Flughafen in einem Drittstaat zurückreisen (zu den verschiedenen Flugvarianten: Hausmann, a.a.O.,S.108 ff.).

34    Damit ist aber noch nicht geklärt, ob bei einer Beförderung über mehrere Teilstrecken auch jede Teilstrecke selbst einen „Flug“ darstellt. Der EuGH hatte einen „Rundflug“ (i.S.d. des Art. 1 MÜ) von Düsseldorf über Dubai nach Manila und zurück zu beurteilen und dabei diesen einheitlich gebuchten Rundflug in den Hinflug von Düsseldorf nach Manila und den Rückflug von Manila nach Düsseldorf segmentiert und damit auf das Endziel des Hinfluges bzw. das des Rückfluges abgestellt, die Zwischenlandungen in Dubai aber außer Betracht gelassen.

35    Der BGH hat im Urteil vom 13.11.2012 (X ZR 12/12, RRa 2013,19 = NJW 2013, 682) im Anschluss an die vorerwähnte Schenkel-Entscheidung (dort Rn. 28) die Ansicht vertreten, dass der Begriff des »Fluges« aus dem Sinn und Zweck der Fluggastrechte-Verordnung und insbesondere aus denjenigen Vorschriften der Verordnung zu entwickeln sei, die sich dieses Begriffs bedienen. Da die Verordnung sich auf die Gesamtheit der Fluggäste eines Fluges, der von einem bestimmten Luftverkehrsunternehmen auf einer bestimmten Flugroute ausgeführt wird und mit dem die Fluggäste von einem Flughafen A zu einem Flughafen B befördert werden, beziehe, sei es für die Bestimmung des Begriffs »Flug« nicht ausschlaggebend, dass Erst- und Folgeflug Teil eines Vertrages sind und gemeinsam gebucht wurden (Bestätigung von BGH, Urt. v. 28.05.2009 – Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 = NJW 2009, 2743).

36     Bei einer Flugreise aus zwei oder mehr Flügen, die jeweils von einer Fluggesellschaft unter einer bestimmten Flugnummer für eine bestimmte Route angeboten werden, sei daher die Anwendbarkeit der Fluggastrechte-Verordnung für jeden Flug gesondert zu prüfen (so schon: LG Frankfurt, Urt. v. 05.01.2012 – 2-24 S 145/11, RRa 2012, 87). Dem kann nicht gefolgt werden. Zum einen ist diese Begründung nicht zwingend aus der Schenkel-Entscheidung des EuGH abzuleiten. Zum anderen steht die Ansicht des BGH auch im Widerspruch zu seiner Auffassung, dass bei unmittelbar aufeinanderfolgenden Flügen (direkte Anschlussflüge) für die Bemessung der Höhe der Ausgleichsleistung nicht nur auf die Entfernung zwischen dem Abgangsflughafen und dem Zielort eines Flugabschnittes (Zwischenlandeort), sondern auf die Entfernung zwischen Startflughafen und dem Endziel, also auf den Ort der letzten Landung, abzustellen ist (BGH, Urt. v.14.10.2010 – Xa ZR 15/10, RRa 2011, 33 = NJW-RR 2011, 355 = ZLW 2012, 297). Nach seiner eigenen Logik hätte der BGH konsequenterweise die Aus-gleichsleistung nach der Strecke zwischen dem Startflughafen und dem Zielflughafen des ersten Fluges (richtig: Zwischenlandeort) bemessen müssen.

37    Der BGH vertritt die Ansicht, dass die Betrachtung jeden einzelnen Fluges auch dann gilt, wenn alle Flüge von derselben Fluggesellschaft durchgeführt werden und als Anschlussverbindung gemein-sam gebucht werden können.

38    Das LG Frankfurt (05.01.2012 – 2-24 S 145/11, RRa 2012, 87),  das wie der BGH jeden Flugabschnitt als eigenen Flug betrachtet, hat klargestellt, dass ein Fluggast aber keine Rechte nach der Verordnung hat, wenn eine Störung (Annullierung oder Verspätung) erst bei außereuropäischen Anschlussflügen eintritt.

39    Ein „innergemeinschaftlicher Flug“ ist ein Flug von einem Flughafen der Gemeinschaft bzw. der Union zu einem anderen ohne Zwischenstopp, der weder in einem Nicht-EU-Flughafen seinen Ausgang genommen hat, noch auf einem Nicht-EU-Flughafen endet.

3. „Ausgleichsleistung“, „Entschädigung“ und „Schadensersatz“

40     Die Verordnung selbst verwendet in der deutschen Amtssprache die Begriffe „Ausgleichsleistung“, „Ausgleichsanspruch“ (vgl. Art. 4, 5, 7, 14 VO), definiert aber diese Begriffe nicht. Gleiches gilt für die Begriffe „Schadensersatz“ (Art. 12 VO) und „Entschädigung“ (Art. 13 VO), die nach deutschem Rechtsverständnis unterschiedlich in Bedeutung und Gehalt sind; der Begriff Ausgleichsleistung ist dem deutschen Schadensersatzrecht sogar fremd. Diese Begriffsvielfalt bringt in der Praxis Probleme. So ist in Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO bestimmt, dass die nach der Verordnung gewährte „Ausgleichsleistung“ auf einen weiter gehenden „Schadensersatzanspruch“ angerechnet werden kann.

41    Leffers (RRa 2008, 258, 260) weist darauf hin, dass in der englischen Fassung des Textes in den vorgenannten Bestimmungen durchgängig der Begriff „compensation“ verwendet wird, der im engli-schen Rechtssystem weit umfassender verwendet wird als der deutsche Begriff „Schadensersatz“. Sie meint deshalb, dass unter Schadensersatz auch Ansprüche aus dem reiserechtlichen Gewährleistungsrecht (Minderung) zu verstehen seien. Auf den englischen Text kann aber nicht allein abgestellt werden, weil der deutsche Text der Verordnung nicht eine bloße nicht-amtliche Übersetzung ist, sondern in einer Amtssprache der Europäischen Union verfasst und somit zunächst aus sich heraus auszulegen ist. Der Rechtsvergleich mit Texten anderen Amtssprachen, kann allenfalls ergänzend betrachtet werden. Bollweg (RRa 2009, 10, 13) weist daher zutreffend darauf hin, dass eine Auslegung in erster Linie unter dem Blickwinkel der Entstehungsgeschichte und dem vom europäischen Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck (Verhinderung einer überkompensatorischen Doppelentschädigung eines Fluggastes) erfolgen muss. Da er als Mitglied der Arbeitsgruppe des Rates für die Bundesregierung maßgeblich an der Verordnung mitgearbeitet hat, kann er anschaulich erläutern, warum die verwirrende Begriffsvielfalt notwendig erschien. Da die Verordnung aber ein Regelwerk nicht nur des Rates, sondern auch des Parlaments ist, an dem auch die Kommission mitgearbeitet hat, kann für eine Begriffsauslegung wohl nur sehr eingeschränkt allein auf das Verständnis nur einiger nationaler Mitglieder des Rates-Arbeitsausschusses abgestellt werden. Nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen ist ein Unionsrechtsakt so weit wie möglich in einer Weise auszulegen, die seine Gültigkeit nicht in Frage stellt, und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht steht (EuGH, Urt. v. 16.09. 2010, Rs. C 149/10 − Chatzi, Rn 43, Slg. 2010 I‑8489 = EuZW 2011, 62).

42    Bislang hat die deutsche Literatur und Rechtsprechung lange Zeit die Ansicht vertreten, dass die Ausgleichsleistung ein „pauschalierter Schadensersatz“ sei (Schmid, RRa 2004, 198, 202; Staudinger/ Schmidt-Bendun, NJW 2004, 1897, 1899; Weise/Schubert, TranspR 2006, 340, 343; Tonner, NJW 2006, 1854, 1856; Führich, MDR 7/2007, Beilage S. 8). Nun hat aber der EuGH in seinem Urteil vom 23.10.2012 (verb. Rs C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und Rs. C-629/10 – TUI u.a. . /. CAA, Rn. 74, RRa 2012, 272) klargestellt, dass die Ausgleichsleistung dem Ausgleich eines von Fluggästen erlittenen Zeitverlustes dient, also weniger den materiellen Schaden, sondern einen immateriellen Schaden ausgleicht. Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses schiede bei Beurteilung nach deutschem Recht eine Anrechnung aus, wenn der Fluggast auch einen materiellen Schaden (z.B. die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten, die wegen Annullierung eines gebuchten Fluges angefallen sind) geltend macht. Der BGH hat beschlossen diese Frage wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Der Vorlagebeschlusss vom 30.07.2013 (X ZR 111/12 und X ZR 113/12, RRa 2013, 233 = TranspR 2013, 447) wurde aber nicht ausgeführt, weil das Luftfahrtunternehmen die Forderung jeweils anerkannt hat.

43    Zu berücksichtigen ist auch, dass die Verordnung grundsätzlich nur das Rechtsverhältnis zwischen einem Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen regelt; andere Rechtsverhältnisse will es nicht regeln, auch wenn in Art. 2 VO die Begriffe „Reiseunternehmen“ (lit. d) und „Pauschalreise“ (lit. e) erläutert werden. Das geschieht aber nur mit Blick auf Art. 13 VO, der ausdrücklich den Regress des Luftfahrtunternehmens regelt. Hätte der europäische Gesetzgeber gewollt, dass auch Ansprüche des Fluggastes gegen den Reiseveranstalter erfasst werden, wäre es ein Leichtes gewesen, in Art. 12 VO neben den weiter gehenden Schadensersatzansprüchen auch „Ansprüche gegen einen Reiseveranstalter“ aufzunehmen. Da dies nicht geschehen ist, muss im Rahmen der gebotenen engen Auslegung davon ausgegangen werden, dass mit „weiter gehenden Schadensersatzansprüchen“ nur solche Ansprüche gemeint sein sollen, die sich aus dem Rechtsver-hältnis zwischen Fluggast und Luftfahrtunternehmen ergeben. Ansprüche des Fluggastes gegen einen Reiseveranstalter auf Minderung haben daher unberücksichtigt zu bleiben.

4. Flugsteig

44    Mit „Flugsteig“ in Art. 2 j) VO ist der (immer seltener abgegrenzte) Ort gemeint, an dem sich die Fluggäste unmittelbar vor Antritt des Fluges versammeln, bevor diese gegen Vorzeigen ihrer Bordkarten das Flughafengebäude verlassen, um entweder über eine sogenannte Fluggastbrücke („Finger“) das Flugzeug zu betreten oder zu Fuß oder mit einem Bus über das Vorfeld zum Flugzeug zu gelangen. Das AG Hamburg hat zutreffend ausgeführt, dass der Bereich der Sicherheitskontrolle oder der Laden- und Gastronomiebereich (shopping area) nicht dazu zählt (Urt. v. 09.05.2014 – 36a C 462/13RRa 2014, 249 = BeckRS 2014, 18885). Vom „Flugsteig“ zu unterscheiden ist der „Abfertigungsschalter“ (check-in-counter), an dem Fluggäste sich „zur Abfertigung einfinden“, d.h. wo sie ihre Reisedokumente vorlegen, ggf. mitgebrachtes Reisegepäck abgegeben und die Bordkarten erhalten. Das kann in Ausnahmefällen (!) auch am Flugsteig des Anschlussfluges geschehen, z.B. wenn bei Umsteigeverbindungen ein Fluggast im Transitbereich (erneut) eingecheckt werden muss.

Artikel 1 – Geltungsbereich

(1) Durch diese Verordnung werden unter den in ihr genannten Bedingungen Mindestrechte für Fluggäste in folgenden Fällen festgelegt:

a) Nichtbeförderung gegen ihren Willen, b) Annullierung des Flugs, c) Verspätung des Flugs.

(2) Die Anwendung dieser Verordnung auf den Flughafen Gibraltar er-folgt unbeschadet der Rechtsstandpunkte des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs in der strittigen Frage der Souveränität über das Gebiet, auf dem sich der Flugplatz befindet.

(3) Die Anwendung dieser Verordnung auf den Flughafen Gibraltar wird bis zum Wirksamwerden der Regelung ausgesetzt, die in der Gemeinsamen Erklärung der Minister für auswärtige Angelegenheiten des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs vom 2. Dezember 1987 enthalten ist. Die Regierungen des Königreichs Spanien und des Vereinigten Königreichs unterrichten den Rat über den Zeitpunkt des Wirksamwerdens.

Vorbemerkungen

I. Allgemeines

1    Am 17.02.2005 ist unter der Bezeichnung Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ein neues Regelwerk in Kraft getreten, das die Rechte von Fluggästen im europäischen – und eingeschränkt auch im internationalen – Luftverkehr verbessern soll. Es hat die bisherige Verordnung (EWG) Nr. 295/91 über Ausgleichszahlungen bei Nichtbeförderungen im Linienflugverkehr vom 04.02.1991 (sog. Überbuchungs-Verordnung) abgelöst. Die neue Verordnung, die in jedem Mitgliedstaat unmittelbar verbindlich ist und unmittelbar gilt (Art. 19 VO), regelt aber nicht nur – wie bisher ihre Vorgängerin – wie bisher ihre Vorgängerin – die Folgen der Nichtbeförderung infolge Überbuchung eines Fluges (BGH, Urt. v. 23.04.2009 – X ZR 78/08, RRa 2009, 239 = NJW 2009, 274), sondern auch die Fälle der Nichtbeförderung aus anderen Gründen sowie die Fälle der Verspätung und der Annullierung eines Fluges. (Zum Vergleich der Rechte von Fluggästen mit denen von Passagieren anderer Beförderungsmittel siehe Bollweg, RRa 2010, 106; Tonner, RRa 2013, 206).

2        Die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ist ein Mosaikstein in einem „System von Passagierrechten“, das sich zusammen mit dem Montrealer Übereinkommen, das selbst integraler Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung geworden ist (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA, Rn. 35 und 36, Slg 2006 I-403 = RRa 2006, 127 = NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112), und der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 n.F. gebildet hat. Auch wenn jedes dieser Rechtsinstrumente selbständig neben den anderen steht (anders früher Schmid, ZLW 2005, 373 ff.; NJW 2006, 1841), kann bei der Auslegung eines Begriffs geprüft werden, ob und wie sich andere in dem Bereich einschlägige Rechtsinstrumente auf die Auslegung dieses Begriffs auswirken können (so z.B. zur Auslegung des Begriffs „Flug“: EuGH, a.a.O., Rn. 42).

 2a     Weil die Verordnung selbstständig neben dem Montrealer Übereinkommen steht, schließen die in der Fluggastrechte-Verordnung getroffenen Regelungen als solche nicht aus, dass Fluggäste, denen ein Schaden entsteht, der einen Ausgleichsanspruch auslöst, auch unter den im Montrealer Übereinkommen vorgesehenen Voraussetzungen (Art. 19, 22 MÜ) Klage auf Ersatz dieses Schadens erheben können (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA u.a. ./. Department of Transport, Slg. I-403 = RRa 2006, 127 = NJW 2006, 351). Es ist einem Gericht daher möglich, ein Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des einem Fluggast wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrages entstandenen Schadens auch auf einer anderen Rechtsgrundlage als der der Fluggastrechte-Verordnung zu verurteilen, so z.B. unter den Voraussetzungen des Montrealer Übereinkommens oder des nationalen Rechts (EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-83/10 – Sousa Rodríguez ./. Air France, RRa 2011, 282 = NJW 2011, 3776; im Anschluss daran: BGHS 5.1.2016 – 16 C 233/15d, RRa 2016, 98).

3       Die Fluggastrechte-Verordnung ist in jedem Mitgliedsstaat unmittelbar geltendes Recht, aber nicht nur in der Fassung des Verordnungstextes. Da allein der EuGH nach Art. 267 Abs. 1 AEUV das Recht hat, endgültig über die Wirksamkeit und die Frage, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite eine Vorschrift eines Sekundarrechtsakts seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre zu entscheiden, ist die Verordnung in der Fassung anzuwenden, wie sie der EuGH durch seine Rechtsprechung gestaltet hat (so auch LG Düsseldorf, Urt. vom 13.12.2013 – 22 S 232/12, RRa 2014, 208). Die Urteile des EuGH wirken nicht nur inter partes; sie haben über das Ausgangsverfahren hinausgehende (faktische) Bindungswirkung (sog. erga-omnes-Wirkung) für alle Spruchkörper des gesamten Binnenmarktes (so auch: Staudinger, RRa 2010, 10 (11); LG Stuttgart, Urt. v. 20.04.2011 – 13 S 227/10, RRa 2011, 234; Urt. v. 07.11.2012 – 13 S 95/12, RRa 2013, 131). Da die Missachtung durch ein nationales Gericht einen Verstoß gegen Europa- und Verfassungsrecht darstellt, ist ein nationales Gericht an einer abweichenden Entscheidung unter Zugrundelegung einer andere Rechtsauffassung zur Auslegung der Verordnung gehindert (so zutreffend: LG Düsseldorf, a.a.O.).

4       Soweit eine Rechtsfrage im Rahmen der Anwendung von Unionsrecht ungeklärt ist, hat jedes letztinstanzlich entscheidende Gericht im Zweifel die Frage dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens vorzulegen (Art. 267 AEUV). Das gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn die Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die Antwort des EuGH im Hinblick auf seine bisherige Judikatur derart offensichtlich ist, dass sich die richtige Auslegung der Norm allen Gerichten in allen Mitgliedstaaten praktisch aufdrängen muss, also kein Raum mehr für vernünftige Zweifel besteht. In diesem Fall ist das letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht von der Vorlageverpflichtung befreit (sog. acte-clair-Theorie). Davon ist aber nicht auszugehen, wenn unterschiedliche Auffassungen in der Rechtsprechung oder der Literatur vertreten werden.

5       Der EuGH hat mehrfach entschieden, dass die Gerichte die Vorschriften eines Sekundarrechtsakts in der Auslegung des EuGH auch auf Rechtsverhältnisse anwenden können und müssen, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (EuGH, Urt. v. 03.10.2002, Rs. C‑347/00 – Barreira Pérez, Slg. 2002, I‑8191, Rn. 44; EuGH, Urt. v. 17.02. 2005, Rs. C‑453/02 – Linneweber und Akritidis, und C‑462/02, Slg. 2005, I‑1131, Rn. 41; EuGH; Urt. v. 23.10.2012 – verb. Rs. C‑581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C‑629/10 – TUI u.a. ./. CAA, Rn. 88 ff., RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671). In Einzelfällen kann sich der EuGH aber unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit (dazu: EuGH, Urt. v. 06.03.2007, Rs. C‑292/04 – Meilicke u. a., Slg. 2007 I‑1835, Rn. 37) veranlasst sehen, die für jeden Betroffenen bestehende Möglichkeit zu beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen (EuGH, Urt. v. 23.05.2000, Rs. C‑104/98 – Buchner u. a., Slg. 2000, I‑3625, Rn. 39, EuGH, Urt. v. 17.02. 2005, Rs. C‑453/02 – Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I‑1131, Rn. 42; EuGH; Urt. v. 23.10.2012, verb. Rs. C‑581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C‑629/10 – TUI u.a. ./. CAA, Rn. 88, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671). In diesem Fall hat der Gerichtshof jedoch im Urteil selbst einen einheitlichen Zeitpunkt festzulegen, von dem an die von ihm gegebene Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts wirksam werden soll.

6       Die Fluggastrechte-Verordnung legt lediglich Mindestrechte fest, bei denen es sich um gesetzliche Ansprüche handelt; vertragliche Beziehungen zwischen Fluggast und Luftfahrtunternehmen müssen nicht bestehen. Es ist aber kein umfassendes Regelwerk, das Ausgleichszahlungen für alle Fälle vorsieht, in denen der Fluggast nicht befördert wird. Ob ein Luftfahrtunternehmen eine weitere Einstandspflicht trifft, bleibt einer Überprüfung nach dem nationalen Vertragsrecht vorbehalten (BGH, RRa 2009, 239; EuGH, Urt. v. 23.10.2012, verb. Rs. C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C-629/10 – The Queen ./. Civil Aviation Authority, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671; ebenso Schuster, RRa 2014, 2 ff.)

7    Nichtbeförderungen, Annullierungen sowie große Verspätungen von Flügen sind für Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten. Absicht der Kommission war es, diese Unannehmlichkeiten zu verringern (siehe Erwägungsgrund (12 VO). Die Verordnung zielt darauf ab, nicht nur ein hohes Schutzniveau für Fluggästesicherzustellen, sondern auch, es zu erhöhen. Diese Zielrichtung wurde u.a. in den Erwägungsgründen 1 und 4 VO ausdrücklich verankert und muss bei der Auslegung und Anwendung der Verordnung beachtet werden. Die Interessen der Luftfahrtunternehmen werden dagegen nicht ausdrücklich erwähnt; doch wird in Erwägungsgrund 4 VO deutlich gemacht, dass mit dem Schutz der Fluggäste auch erreicht werden soll, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt, was letztlich einem fairen Wettbewerb dient. Die weiteren Interessen der Luftfahrtunternehmen haben aber – wenn auch nicht immer auf den ersten Blick sichtbar – in den einzelnen Vorschriften, insbesondere bei den Entlastungsgründen (Art. 5 Abs. 3 VO) erkennbar Berücksichtigung gefunden.

8     Um das hohe Schutzniveau für die Fluggäste sicherzustellen, hat der europäische Gesetzgeber bestimmt, dass die Verpflichtungen gegenüber Fluggästen gemäß dieser Verordnung – und damit umgekehrt die Rechte der Fluggäste – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden dürfen (Art. 15 Abs. 1 VO). Wird dennoch eine abweichende oder restriktive Bestimmung bei einem Fluggast angewendet oder wird der Fluggast nicht ordnungsgemäß über seine Rechte unterrichtet und hat er aus diesem Grund einer Ausgleichsleistung zugestimmt, die unter der in dieser Verordnung vorgesehenen Leistung liegt, so ist der Fluggast weiterhin berechtigt, die erforderlichen Schritte bei den zuständigen Gerichten oder Stellen zu unternehmen, um eine zusätzliche Ausgleichsleistung zu erhalten (Art. 15 Abs. 2 VO).

9     Dass die Verordnung kein abschließendes Regelwerk ist, ergibt sich schon aus ihrem eigenen Wortlaut (Art. 1 Abs. 1), wonach nur „Mindestrechte für Fluggäste“ festgelegt werden sollen. Das ist aber keine Mindeststandardklausel wie sie in verschiedenen verbraucherrechtlichen EU-Richtlinien zu finden ist. Da die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 in jedem Mitgliedstaat unmittelbar gilt, kann ein Mitgliedsstaat daher den in der Verordnung festgelegten Standard des Verbraucherschutzes durch Änderungen (z.B. die Anhebung der Höhe der Ausgleichsleistungen) zwar erhöhen, nicht aber absenken (so schon Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Kap. 15, Art.1 Rn. 23). So verstanden sind mit dem Begriff „Mindestrechte“ nur die Rechte gemeint, die Luftfahrtunternehmen ihren Passagieren in jedem Fall gewähren müssen; zugunsten des Fluggastes können sie aber weitergehende Rechte einräumen (so auch Tonner, a.a.O.).

10    Es fragt sich aber, ob die Bestimmungen der Verordnung mit Art. 29 S. 2 des Montrealer Übereinkommens kollidieren oder harmonieren. Diese Frage stellt sich zwar nicht, soweit es sich um Ansprüche von Fluggästen annullierter Flüge und um Fluggäste handelt, denen die Beförderung verweigert wurde, weil diese Sachverhalte im Montrealer Übereinkommen nicht geregelt sind. Anders verhält es sich bei der Verspätung: Kritiker der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 sehen einen Konflikt, weil nach ihrer Meinung die Verspätung und ihre Rechtsfolge (Ersatz des materiellen Schadens) bereits in Art. 19 MÜ abschließend geregelt sind (vgl. für viele: Müller-Rostin, NZV 2007, 221, 225; Hobe/Müller Rostin/Recker,ZLW 2010, 152 ff. m.w.N.).). Dies hat der EuGH in der sog. Sturgeon-Entscheidung (19.11.2009, Rs. C-402/0, verb. mit Rs. C-432/07 – Böck u.a. ./. Air France, Slg. 2009 I-10923 = RRa 2009, 262 = NKW 2010, 43 = ZLW 2010, 75) anders gesehen und diese Rechtsansicht im 23.10.2012, verb. Rs. C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C-629/10 – TUI ./. CAA, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671) bestätigt. Denn die Fluggastrechte-Verordnung will nur die Folgen einer Verlängerung der Reisezeit und die Unannehmlichkeiten regeln, die durch einen verspäteten Abflug oder eine ungeplante Zwischenlandung entstehen und zu einer verspäteten Ankunft am Endziel führen. Eine Konkurrenz mit dem Schadenersatzanspruch aus Art. 19 MÜ ist daher von vorneherein ausgeschlossen (so auch Janköster S. 323; Reuschle Art. 19, Rn. 67).

11   Der Anspruch auf eine Betreuungsleistung nach Art. 6 i.V.m. Art. 9 VO ist kein (pauschalierter) Schadensersatzanspruch; es gibt daher keine Kollision mit Art. 19 MÜ.

12   Die Rechtsnatur des Ausgleichsanspruches ist dagegen nicht eindeutig geklärt.

13   Sieht man darin einen Strafschadensersatzanspruch, wie er im angloamerikanischen Recht als punitive damage bekannt ist (dazu Müller, punitive damages und deutsches Recht [2000]), so stellt sich die Frage, ob er als solcher – da im deutschen Recht ein Fremdkörper – gegen das Grundgesetz verstößt. Als Strafschadensersatzanspruch könnte die Ausgleichsleistung aber nur angesehen werden, wenn die Festsetzung der Höhe des Anspruchs in das Ermessen des Gerichts gestellt und damit ein besonders verwerfliches Verhalten des Luftfahrtunternehmen zur Abschreckung geahndet werden könnte (so zutreffend: Staudinger/Schmidt-Bendun NJW 2004, 1897 (1899)). Die Höhe der Ausgleichsleistung ist aber in Art. 7 VO – nach Flugentfernungen gestaffelt – festgelegt; ein richterliches Ermessen ist somit ausgeschlossen. Es fehlt also schon ein typisches Merkmal des Strafschadensersatzanspruches.

14    Ein Abschreckungsgedanke schlägt sich aber in der Regelung selbst nicht nieder; nur die Höhe der Sanktionen gegen die Luftfahrtunternehmen, die gegen die Verordnung verstoßen, sollen abschreckend sein (siehe Erwägungsgrund 21). Da ihm also die wesentlichen Merkmale eines Strafschadensersatzanspruches fehlen, kann der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 VO auch nicht als solcher bewertet werden.

15    Art. 12 Abs. 1 S. 2 VO bestimmt, dass eine gezahlte Ausgleichsleistung auf einen weiter gehenden Schadensersatzanspruch angerechnet werden kann. Somit ist der Anspruch auf Ausgleichsleistung jedenfalls kein Anspruch sui generis, sondern ein Schadensersatzanspruch. Da der europäische Gesetzgeber aber die Höhe des Ausgleichs nicht in ein Verhältnis zu einem konkret entstandenen Schaden setzt, sondern pauschale Beträge festsetzt, wurde der Anspruch in der Literatur lange Zeit als pauschalierter (Mindest-)Schadensersatzanspruch angesehen (vgl. für viele: Führich, Reiserecht, Rn. 1048; ders., MDR 7/2007, Beilage, S. 8; Peterhoff, TranspR 2007, 130, 106; Schmid, RRa 2004, 198, 202, ders., ZLW  2005, 373, 379; Staudinger/Schmidt-Bendun, NJW 2004, 1897, (1899); Tonner, NJW 2006, 1854, (1856); Weise/Schubert, TranspR 2006, 340, 343; LG Frankfurt, Urt. v. 13.10.2006 – 3-2 O 51/06, RRa 2007, 82; AG Erding, Urt. v. 15.11.2006, RRa 2007, 85; AG Dortmund, Urt. v. 04.03.2008, RRa 2008, 188; AG Frankfurt, Urt. v. 07.10.2010, RRa 2011, 140. Wegen anderer Ansichten siehe Hausmann, Europäische Fluggastrechte [2012], S. 358).

16   Der Anspruch gemäß Art. 7 VO i.V.m. Art. 4 und 5 VO wird aber in der deutschen Amtssprache nicht als „Schadensersatz“, sondern (bewusst!) als „Ausgleichsleistung“ bezeichnet: Die Leistung soll etwas ausgleichen. Mit dieser Wortwahl sollte offensichtlich – klarer als in der englischen Sprache – deutlich gemacht werden, dass mit der Zahlung der Ausgleichsleistung etwas anderes ausgeglichen werden soll als ein materieller Schaden. Dieses Verständnis hat der EuGH in seinem Urteil vom 19.11.2009 (verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432 – Böck u.a. ./. Air France, Rn. 44, Slg 2009 I-10923 = RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43 = ZLW 2010, 75) bestätigt: Er hat darauf hingewiesen, , „dass die Verordnung Nr. 261/2004 darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder von einer Annullierung oder großen Verspätung eines Fluges betroffen sind, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind“.

17   In der Rs. 402/07 – Sturgeon hat der EuGH in Rn. 52 und 61 deutlich gemacht, dass eine Unannehmlichkeit wie ein Zeitverlust nicht als „Schaden …, der durch Verspätung … entsteht“ i.S.d. Art. 19 MÜ qualifiziert werden kann und daher vom Geltungsbereich des Art. 29 MÜ nicht erfasst wird (so auch schon EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA (Slg 2006 I-403 = RRa 2006, 127 NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112).

18    In der Entscheidung vom 23.10.2012 (verb. Rs. C-581/10 – Nelson ./. Lufthansa und C-629/10 – TUI u.a. . /. CAA, RRa 2012, 272 = NJW 2013, 671) hat der Gerichtshof unter Verweis auf sein IATA-Urteil (Rs. C-344/04, → Rn. 17) betont, dass die Ausgleichsleistung wegen einer Verspätung eine Kompensation für den Zeitverlust und Unannehmlichkeiten ist. Ein Zeitverlust ist aber – so der EuGH – kein infolge der Verspätung entstandener Schaden, sondern „stellt – wie andere Begleiterscheinungen der Fälle von Nichtbeförderung, Flugannullierung oder großer Verspätung, zu denen etwa ein Mangel an Komfort oder der Umstand gehört, vorübergehend nicht über normalerweise verfügbare Kommunikationsmittel zu verfügen – eine Unannehmlichkeit dar.“ (Rn. 51). Somit könne der mit der Verspätung eines Fluges verbundene Zeitverlust, der eine Unannehmlichkeit i.S.d. Verordnung (EG) Nr. 261/2004 darstellt, nicht als „Schaden …, der durch Verspätung … entsteht“ i.S.v. Art. 19 MÜ qualifiziert werden, und nicht in den Anwendungsbereich des Art. 29 MÜ fallen. Die Ausgleichsleistung muss daher so angesehen werden, dass mit ihr (wenigstens überwiegend) immaterielle Schäden ausgeglichen werden sollen. Damit stellt sich – jedenfalls bei Anwendung deutschen Rechts – die Frage, ob eine Anrechnung auf einen materiellen Schadensersatzanspruch überhaupt möglich ist. (Siehe dazu den Vorlagebeschluss des BGH vom 30.07.2012 – X ZR 111/12, RRa 2013, 233 = openJur.)

II. Die Grundstruktur der Verordnung

19    Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen hat nicht mehr – wie bisher unter Geltung der Verordnung (EG) Nr. 295/91 – nur für den Fall der Nichtbeförderung wegen Überbuchung (Art. 4 VO), sondern jetzt auch für sonstige Nichtbeförderungen sowie für den Fall der Annullierung eines Fluges (Art. 5 VO) bestimmte Ausgleichs-, Unterstützungs- und Betreuungsleistungen zu erbringen, sofern es sich nicht entlasten kann (Art. 5 Abs. 3 VO). Diese Ansprüche des Fluggastes können weder eingeschränkt noch ausgeschlossen werden (Art. 15 VO).

20    Bei der Verspätung eines Fluges (Art. 6 VO) sind nach dem Wortlaut der Verordnung nur Unterstützungs- und Betreuungsleistungen anzubieten (Art. 9 VO), die nach Entfernungskilometern gestaffelt sind, wenn sich der Abflug um zwei und mehr Stunden verzögert; eine Ausgleichleistung ist in diesen Fällen nach dem Wortlaut der Verordnung nicht vorgesehen. Auf Vorlage des BGH einerseits und des HG Wien andererseits hat der EuGH in seinem bahnbrechenden „Sturgeon-Urteil“ (verb. Rs. C-402/07 – Sturgeon ./. Condor und C-432//07 – Böck u.a. ./. Air France, Slg 2009 I-10923 = RRa 2009, 282) entschieden, dass – entgegen dem Wortlaut der Verordnung – Fluggästen auch bei einer großen Verspätung Ausgleichsansprüche in analoger Anwendung des Art. 7 Abs. 1 VO zustehen, sofern sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden erreichen und somit einen Zeitverlust von mindestens drei Stunden erleiden. Anders als die Generalanwältin, die einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz gesehen hat, wurden vom Gerichtshof  die Rechtsfolgen einer Annullierung  primär rechtskonform auf den Tatbestand einer großen Verspätung entsprechend angewendet.

21   Und noch eine wesentliche Neuerung hat die Verordnung gebracht: Sie gilt nun auch für Nicht-Linienflüge, d. h. auch für Flugdienste im sog. Ferienflugverkehr, insbesondere für Luftbeförderungen, die als Teilleistung im Rahmen einer Pauschalreise durchgeführt werden.

 III. Die in der Verordnung nicht geregelten Rechtsprobleme

 1. Die Aktiv- und Passivlegitimation

22    Grundsätzlich ist der Fluggast, der befördert worden ist bzw. oder befördert werden sollte, Inhaber des Ausgleichsanspruchs und damit aktivlegitimiert. Ungeklärt und streitig ist aber, ob das auch gilt, wenn der Fluggast den Flugschein nicht bezahlt hat. Diese Frage stellt sich, wenn der Fluggast als Arbeitnehmer oder Beauftragter im Rahmen einer Dienstreise befördert wurde und der Flugschein von seinem Arbeitgeber oder Auftraggeber für einen Mitarbeiter oder Auftragnehmer gekauft und bezahlt wurde. Das AG Emden hat entschieden, dass Ausgleichsansprüche nach Art. 7 VO und Erstattungsansprüche nur dann dem Fluggast zustünden, wenn dieser selbst Vertragspartner der ausführenden Fluggesellschaft sei. Buche der Arbeitgeber das Ticket, sei der geschäftsreisende Arbeitnehmer lediglich Dritter und nicht anspruchsberechtigt (Urt. v. 27.01.2010 – 5 C 197/09, RRa 2010, 135 mAnm Schmid RRa 2010, 136; siehe dazu auch Brecke ZLW 2012, 358 ff.).

23    Dem kann nicht gefolgt werden, weil es nicht darauf ankommt, dass der Fluggast Vertragspartner des ausführenden Luftfahrtunternehmens ist oder nicht; auf vertragliche Beziehungen stellt die Verordnung nicht ab (so auch LG Köln, Urt. v. 09.04.2013 – 11 S 241/12, RRa 2014, 34). Entscheidend ist, dass er „Fluggast“ ist und die Unannehmlichkeiten der Nichtbeförderung, Verspätung oder Flugannullierung zu erdulden hatte. (Ausführlich dazu Brecke, ZLW 2012, 358 ff. und Schmid, RRa 2012, 136 f sowie LG Köln, a.a.O.).

24    Macht daher ein Mitarbeiter oder Auftragnehmer, der im Rahmen einer Geschäftsreise nicht oder verspätet befördert worden ist, gegenüber dem Luftfahrtunternehmen selbst keine Ansprüche geltend, ist das Unternehmen, das den Flug gebucht und bezahlt hat, gleichwohl nicht berechtigt, diese Ansprüche aus eigenem Recht gegenüber dem Luftfahrtunternehmen geltend zu machen; es bedarf der Abtretung der Ansprüche (so auch Brecke, a.a.O.).

25   Treten Reisende ihre Ansprüchen aus der Verordnung an den Reiseveranstalter ab, und macht dieser die Ansprüche für die Reisenden geltend, ist das als zulässige Nebenleistung i.S.d. § 5 Abs. 1 RDG anzusehen (LG Frankfurt, Urt. v. 8.11.2013 – 2-24 O 117/13).

 2. Die Passivlegitimation

26      Die Ansprüche aus Art. 7 VO richten sich nach dem Wortlaut der Verordnung (Art. 5 und 6 VO) ausschließlich gegen das „ausführende Luftfahrtunternehmen“ (so auch: BGH Beschl 11.3.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.; BGH 26.11.2009 – Xa ZR 132, RRa 2010, 85 = NVZ 2010, 137 ff.). Nach der Legaldefinition in Art. 2 lit. b) VO ist „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ ein Luftfahrtunternehmen, „das im Rahmen eines Vertrags oder im Namen einer anderen Person einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt“. Die Auslegung nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck ergibt, dass es für die Einordnung eines Unternehmens als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ iSd Verordnung maßgeblich auf den Auftritt vor Ort nach außen gegenüber dem Kunden ankommt.

26a     Nach Erwägungsgrund 7 VO sollen die Verpflichtungen aus der Verordnung dem Unternehmen obliegen, „das einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt, und zwar unabhängig davon, ob der Flug mit einem eigenen Flugzeug oder mit einem mit oder ohne Besatzung gemieteten Luftfahrzeug oder in sonstiger Form durchgeführt wird.“ Nach zutreffender Ansicht des AG Rüsselsheim (30.07.2014 – 3 C 5696/13-33, RRa 2015, 84 = BeckRS 2016, 07165) wird „aus dieser Formulierung das Bestreben des Verordnungsgebers erkennbar, dem aus Sicht der Flug- gäste ausführenden Unternehmen Einwendungen aufgrund interner rechtlicher und für den Fluggast nicht erkennbarer Strukturen und Vereinbarungen von vornherein zu versagen. So sollen sich die gegenüber dem Fluggast auftretenden Unternehmen nicht darauf berufen können, sie hätten Flugzeug und Besatzung tatsächlich lediglich gemietet oder aufgrund interner Vereinbarungen „sonstiger Form“ tatsächlich den Flug gar nicht ausgeführt. Die Unterscheidung zwischen der Durchführung nach außen gegenüber dem Kunden und der Durchführungsabwicklung nach innen ist in Erwägungsgrund 7 VO gut erkennbar angelegt.“

26b    Zu berücksichtigen ist bei der Auslegung auch, dass dem Regelungskonzept der Verordnung von dem Gedanken getragen ist, dass das bei der Flugabwicklung präsente Unternehmen in der Regel am besten in der Lage ist, die Verpflichtungen der Verordnung zu erfüllen. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die von der Verordnung vorgesehenen Unterstützungsleistungen tatsächlich vor Ort effektiv erfüllt werden. Aus diesem Grund werden nach dem Wortlaut allein dem ausführenden Luftfahrtunternehmen die Pflichten auferlegt (so zutreffend: BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff.; BGH, NVZ 2010, 137 ff.; AG Rüsselsheim, Urt. v. 30.7.2014 – 3 C 5696/13-33; RRa 2015, 84 = BeckRS 2014, 07165). Das ausführende Luftfahrtunternehmen wird aber dadurch nicht einseitig belastet, weil es gemäß Art. 13 VO bei seinen (internen) Vertragspartnern nach Maßgabe der jeweiligen Vereinbarung Rückgriff nehmen und sich schadlos halten kann (BGH, a.a.O.; AG Rüsselsheim, a.a.O.)

26c     Passivlegitimiert ist also nicht das Luftfahrtunternehmen, das den Luftbeförderungsvertrag mit dem Reisenden geschlossen hat (BGH, Beschl. v. 11.03.2008, RRa 2008, 175 = NJW 2008, 2119 ff., sondern allein das Luftfahrtunternehmen, das den Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt hat (Art. 2 lit. b VO). Dieses Unternehmen kann allerdings im Einzelfall identisch sein mit dem vertragsschließenden Luftfahrtunternehmen.

27     Führt ein zu 100% einem Mutterunternehmen gehörendes, aber rechtlich selbstständiges Tochterunternehmen einen Flug durch, ist nach Ansicht des AG Bremen (Urt. v. 10.10.2011 − 16 C 89/11, RRa 2012, 22 mit zust. Anm. Hoffmann/Maurer RRa 2012, 23) das Mutterunternehmen „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ i.S.d. Verordnung, weil es hinsichtlich der Durchführung der übertragenen Flüge unter Berücksichtigung des Innenverhältnisses faktisch Einfluss ausübe. Dies gilt nach Ansicht des AG Hannover (Urt. v. 06.12.2012 – 452 C 5686/12, RRa 2014, 56) jedenfalls dann, wenn bei einer Umsteigeverbindung (z.B. Hannover – Paris – Havanna) auf dem Flugschein als „Luftfahrtunternehmen“ für beide Flüge nur das Mutterunternehmen angegeben wird.

27a    Wenn ein Luftfahrtunternehmen einen unter dem ihm zugewiesenen IATA-Airline-Code (z.B. LH für Lufthansa oder DE für Condor) verkauft und das auch auf der Buchungsbestätigung so (ohne einen aufklärenden Hinweis) angibt, ist es als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ auch dann anzusehen, wenn es den Flug aufgrund einer internen Absprache von einem anderen Luftfahrtunternehmen durchführen lässt. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich dabei um ein selbständiges, aber zum Konzern gehörendes Luftfahrtunternehmen handelt (so auch AG Rüsselsheim, Urt. v. 30.7.2014 – 3 C 5696/13-33, RRa 2015, 84 = BeckRS 2016, 01765 für die Durchführung eines Condor-Fluges durch das zum Thomas-Cook- Konzern gehörende Luftfahrtunternehmen Thomas Cook Airline UK).

28    Im Falle des Code-Sharing-Fluges ist nur dasjenige Luftfahrtunternehmen, das den Flug tatsächlich durchführt oder nach den Angaben in der Buchungsbestätigung oder im Flugschein ausführen sollte, ausführendes Luftfahrtunternehmen im Sinne des Art. 2 lit. b VO und damit im Falle der Annullierung des Fluges zu Unterstützungsleistungen und Ausgleichsleistungen verpflichtet (BGH, Urt. v. 28. 05. 2009 – Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 = NJW 2009, 2743; 26.11.2009 – Xa ZR 132/08, RRa 2010 = NJW 2010, 1522, 85; LG Linz 24.2.2011 – 14 R 120/10f, RRa 2011, 156. Siehe dazu auch Kober-Dehm/Meier-Beck RRa 2010, 250 (251 f.); Schmid NJW 2007, 261 (267)).

29     Ungeklärt ist dagegen, wer passivlegitimiert ist, wenn ein Luftfahrtunternehmen, das planmäßig als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ vorgesehen war, kurzfristig durch ein anderes Luftfahrtunternehmen ersetzt wird. Zum Montrealer Übereinkommen hat das LG Darmstadt (Urt. v. 20. 1. 2010 – 7 S 136/09, ZLW 2010, 319 = TranspR 2010, 194 = BeckRS 2010, 12898) entschieden, dass das ersatzweise befördernde Luftfahrtunternehmen als „ausführender Luftfrachtführer“ anzusehen ist. Ob diese Rechtsansicht auch im Rahmen der sog. Fluggastrechte-Verordnung gelten kann, erscheint allerdings zweifelhaft, denn Art. 2 lit. b VO definiert das ausführende Luftfahrtunternehmen als dasjenige, „das (…) einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt“. Daraus ist abzuleiten, dass nicht das ersatzweise den Flug durchführende Luftfahrtunternehmen als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ angesehen werden muss, sondern nur dasjenige, das den Flug durchführen sollte, aber nicht durchgeführt hat.

30    Bei anderer Auslegung besteht die Gefahr, dass Passagierrechte bei Rückflügen in das Gebiet der Europäischen Union durch Manipulation verkürzt werden könnten. Wenn nämlich ein „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“, das den Flug durchzuführen beabsichtigt hat, ein nicht-europäisches Luftfahrtunternehmen einsetzt, hätte der Passagier plötzlich keine Rechte mehr, weil der Flug jetzt durch ein „Nicht-EU-Luftfahrtunternehmen“ von einem Startflughafen außerhalb des Gebietes der Europäischen Union (z.B. Antalya) in das Gebiet eines Mitgliedstaates durchgeführt würde. Die bloße Möglichkeit einer solchen „Manipulation“ steht nicht im Einklang mit dem Zweck der Verordnung, nämlich der Erhöhung des Schutzes der Passagiere. Wenn also ein Luftfahrtunternehmen A einen Flug durchführen sollte, wegen eines technischen Problems jedoch das Luftfahrtunternehmen B mit der ersatzweisen Durchführung beauftragt (sog. Subcharter), ändert das nichts daran, dass das Luftfahrtunternehmen A. „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ i.S.d. Verordnung ist (AG Frankfurt, Urt. v. 19.04. 2013 – 32 C 1916/12-18, RRa 2014, 104 L).

31    Schon im Jahr 2008 hat der BGH (Beschl. v. 11. 3. 2008 − X Z 49/07, RRa 2008, 175) klargestellt, dass ein Reiseveranstalter, der zwar „vertraglicher Luftfrachtführer“ i.S.d. Montrealer Übereinkommens sein kann, kein „ausführendes Luftfahrtunternehmen“i.S.d. Verordnung ist. Infolgedessen ist ein Reiseveranstalter für Ansprüche aus der Verordnung nicht passiv-legitimiert (so schon AG Düsseldorf, Urt. v. 27.03. 2007 − 230 C 16700/09, RRa 2008, 142 = BeckRS 2008, 13531; AG Oberhausen, Urt. v. 11.12.2006 – 35 c 2313/06, RRa 2007, 91); BGHS Wien, Urt. v. 23.04.2014 – 11 C 413/13k; ebenso: Keiler, ZVR 2011, 138).

32    Die Verordnung macht aber in ihrem Erwägungsgrund 7 klar, dass die durch sie geschaffenen Verpflichtungen, auch dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegen, das den Flug durchzuführen beabsichtigt (hat) und zwar unabhängig davon , ob der Flug mit einem eigenen oder mit einem (mit oder ohne Besatzung) gemieteten Luftfahrzeug oder in anderer Form durchgeführt wird.

32a     Wenn das in Anspruch genommene Luftfahrtunternehmen im vorprozessual geführten Schriftverkehr mit dem Fluggast seine Einstandspflicht nicht sogleich mit dem Hinweis darauf abgelehnt hat, nicht ausführendes Luftfahrtunternehmen zu sein, erweckt es durch dieses Verhalten den Eindruck, es betrachte sich als das ausführende Luftfahrtunternehmen. Daher obliegt es ihm, das Gegenteil zu beweisen (LG Düsseldorf, Urt. vom 13.12.2013 – 22 S 232/12).

32b     Der Kläger kann das Luftfahrtunternehmen aber auch auf Ersatz des Schadens verklagen, der bei ihm dadurch eingetreten ist, dass er das Luftfahrtunternehmen aufgrund seines vorgerichtlichen Verhaltes als richtigen Anspruchsgegner für einen Anspruch aus der Fluggastrechte-Verordnung angesehen und dadurch unnütze Kosten aufgewendet hatte, die nicht  entstanden wären, wenn die Beklagte sofort offenbart hätte, dass sie nicht passivlegitimiert ist (LG Düsseldorf, a.a.O.)

3. Die Verjährung der Ansprüche

33     Der BGH (Urt. v. 10.12. 2009 − Xa ZR 61/09, RRa 2010, 90 = NJW 2010, 1521; so zuvor schon: Staudinger/Schmidt-Bendun, NJW 2004, NJW 2004, 1897, 200; Staudinger, NJW 2007, 3392 f.ders., RRa 2009, 195; Weise/Schubert, TranspR 2006, 340, 344) hat zutreffend entschieden, dass die Ausschlussfrist des Art. 35 Abs. 1 MÜ weder unmittelbar noch entsprechend für Ausgleichsansprüche nach der sog. Fluggastrechte-Verordnung herangezogen werden kann, weil die beiden Regelwerke inhaltlich unterschiedliche Ansprüche betreffen und nebeneinander stehen (a.A. noch LG Darmstadt, Urt. v. 24.04. 2009 − 7 S 260/08, RRa 2009,193 = BeckRS 2009, 27196 mit krit. Anm. Staudinger RRa 2009, 193).

34     Diese Rechtsauffassung hat der EuGH aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Audiencia Provincial de Barcelona (Spanien) am 22.11.2012 bestätigt und dahingehend entschieden, dass − im Hinblick auf die Frist für die Geltendmachung von Ansprüchen – nicht Art. 35 MÜ (zweijährige Ausschlussfrist) herangezogen werden kann, sondern das jeweils ergänzend anwendbare nationale Recht gilt(Rs. C-139/11 – Moré ./. KLM, RRa 2013, 17 = NJW 2013, 365 = EuZW 2013, 156 = ZLW 2013, 503).

35     Bei Anwendung deutschen Rechts gilt für Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung daher die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB von drei Jahren,wenn ihnen die Annullierung eines durch Luftbeförderungsvertrag mit dem Luftfahrtunternehmen versprochenen Fluges zugrunde liegt (BGH, Urt. v. 10.12.2009 − Xa ZR 61/09, RRa 2010, 90 = NJW 2010, 1526 = ZLW 2009, 42; AG Frankfurt, Urt. v. 24.02.2014 – 29 C 3591/13/44; so schon: Führich, Sonderbeilage zu MDR 7/ 2007, 1 (14); Weise/ Schubert, TranspR 2006, 340, (344); A. Staudinger/ Schmidt-Bendun, NJW 2004, 1897, 1900). Daher ist eine Klausel in den Allgemeinen Beförderungsbedingungen eines Luftfahrtunternehmens, mit der das Klagerecht des Fluggastes entsprechend Art. 35 Montrealer Übereinkommen auf 2 Jahre verkürzt werden soll, unwirksam (AG Bremen, Urt. v. 22.10.2012 – 9 C 0270/12; Staudinger/Bauer/Rüben, NJW 2013, 3762). Die Verjährungsfrist beginnt a) mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und b) der Gläubiger von den Umständen, die den Anspruch begründen, und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 BGB).

36    Der BGH hat in seinem Urteil vom 10.12.2009 − Xa ZR 61/09, Rn.33, RRa 2010, 90 = NJW 2010, 1521) aber ausdrücklich offen gelassen, ob dies auch bei Annullierung eines Fluges gilt, der im Rahmen einer Pauschalreise durchgeführt wird oder ob dann die Verjährungsfrist aus § 651g Abs. 2 BGB Anwendung findet. In der Literatur wird das angenommen (siehe z.B. Staudinger/Schmidt-Bendun NJW 2004, 1897 (1900); Weise/Schubert TranspR 2006, 340 (344); Hausmann S. 502; aA Schmid/Hopperdietzel NJW 2009, 3085 (3086); AG Rüsselsheim 08.01.2014 – 3 C 3189/13-36, RRa 2014, 182 = BeckRS 2014, 16266). Dem kann nicht gefolgt werden. Zum einen ist die Annahme von Staudinger/Schmidt-Bendun (aaO), die Tatbestände der Annullierung, Nichtbeförderung und Verspätung würden „erst nach Abschluss des Reisevertrages erfüllt“, nicht zutreffend, weil bei einer Flugpauschalreise ein Reisevertrag erst mit Ankunft des Fluges am Zielort erfüllt ist. Zum anderen würden die Fluggäste, die den Flug direkt beim Luftfahrtunternehmen gebucht haben, gegenüber den Fluggästen, die den Flug im Rahmen einer Pauschalreise gebucht haben, privilegiert werden. Für diese Ungleichbehandlung gibt es aber keinen sachlich rechtfertigenden Grund. Der kann – entgegen Hausmann S. 503) auch nicht darin gesehen werden, dass es einen „Verstoß gegen das Reiserechtsregime“ darstellte, würden einzelne Leistungsstörungen im Rahmen der Pauschalreise anderen als den abschließenden Regelungen der §§ 651c ff. BGB unterworfen und „sich für die Beteiligten die Vorhersehbarkeit im Hinblick auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme erhöhte“, wenn sämtliche Rechte aus der Pauschalreise nach Ablauf von zwei Jahren (nach § 651m BGB ggf. schon nach einem Jahr!) ausgeschlossen wären.

37     Der Anwendung des § 651g Abs. 2 BGB steht entgegen, dass diese Bestimmung nur die reisevertraglichen Gewährleistungsansprüche aus „§§ 651c bis § 651f“ BGB, nicht aber sonstige Ansprüche (wie z.B. einen Schadensersatzanspruch wegen Personenschadens oder einen Anspruch aus § 812 BGB) erfasst (so auch Führich Reiserecht [6. Aufl. 2010], Rn. 463 mwN; MüKoBGB/Tonner § 651g, Rn. 38, jeweils mwN). Da der Anspruch auf Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO aber fraglos kein reisevertraglicher Gewährleistungsanspruch ist, kann die reisevertragliche Verjährungsfrist darauf nicht erstreckt werden (so auch: AG Rüsselsheim 8.1.2014 – 3 C 3189/13-36, RRa 2014, 16266 = BeckRS 2014, 16266; AG Frankfurt a.M. 24.02.2014 – 29 C 3591/13-44). Das LG Frankfurt a.M. (29.04.1998 – 2-1 S 45/96, NJW-RR 1998, 1589, 1590) hat zutreffend eine Analogie zu § 651g BGB jedenfalls dann verneint, wenn europäisches Sachrecht (und dazu zählt die Fluggastrechte-Verordnung) Anwendung findet.

38     Richtigerweise ist allein darauf abzustellen, welche Hauptpflichten das ausführende Luftfahrtunternehmen gegenüber dem Fluggast hatte. Das ist vor allem die Pflicht zur(sicheren und pünktlichen) Beförderung des Fluggastes. Dabei kann nicht entscheidend sein, ob sich diese Pflicht unmittelbar aus dem Luftbeförderungsvertrag (Werkvertrag i.S.d. § 635 ff. BGB) oder mittelbar aus dem Flugzeugbereitstellungsvertrag (sog. „Chartervertrag“)ergibt, der zwischen dem Luftfahrtunternehmen und dem Reiseveranstalter geschlossen wird und ein Vertrag zugunsten Dritter ist (BGH, Urt. vom 17.01.1985 − VII ZR 63/84, BGHZ 93, 271 = NJW 1985, 1457; BGH, Urt. v. 25.04.2006 − VI ZR 279/05), ergibt. Siehe dazu ausführlich:Gansfort, RRa 1994,2; Schmid, RRa 1994,7; Schwenk, RRa 1997,3 (9).

39     Für dieses Verständnis der tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhänge spricht schon Erwägungsgrund 5 der Verordnung, wonach der Schutz der Verordnung gerade nicht auf die Fluggäste im Linienflug (auf Basis eines Luftbeförderungsvertrages) beschränkt sein soll, sondern ausdrücklich auch die Fluggäste im Bedarfsluftverkehr, einschließlich der Flüge im Rahmen von Pauschalreisen (auf der Grundlage von Chartervertrag und Pauschalreisevertrag) erfasst, da es im Gebiet der Europäischen Union nur noch „Flugdienste“ gibt und die Unterscheidung zwischen Linienflugverkehr und Bedarfsluftverkehr auch in Drittstaaten an Bedeutung verliert. Folgerichtig haben nach Art. 8 VO alle Fluggäste Anspruch auf Unterstützungsleistung, gleich ob sie im Rahmen eines Pauschalreisevertrages oder aufgrund eines Luftbeförderungsvertrages befördert werden bzw. befördert werden sollten.

 4.    Die Gerichtszuständigkeit

40     Nicht geregelt hat die Verordnung, wo der Fluggast seine Rechte gerichtlich durchsetzen kann oder soll. Das war unproblematisch, solange das (höherrangige) Europäische Gerichtsstandsübereinkommen (EuGVÜ) noch in Kraft gewesen ist; dieses ist aber mit Wirkung vom 01.03.2002 in seinem Anwendungsgebiet zusammen mit dem sog. Lugano-Übereinkommen (LGVÜ) durch die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO oder „Brüssel I-VO, ABl. Nr. L 351 vom 20.12.2012, S. 1 – 32 abgekürzt), ersetzt worden, so dass eine eigene Gerichtsstandsregelung in der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 jetzt nicht mehr mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht kollidieren würde.

41     Die Gerichtsstandsregelung des Art. 33 des Montrealer Überein- kommens (MÜ) gilt nur, wenn Ansprüche aus diesem Übereinkommen geltend gemacht werden. Für Ansprüche, die aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 hergeleitet werden, gilt Art. 33 MÜ also nicht, auch nicht analog (so auch OLG München, Urt. v. 16.05.2007 – 20 U 164/07, RRa 2007, 182 = NJW 2007, 3214, LG Lübeck, Urt. v. 23.04.2010 – 14 S 264/09, RRa 2011,46).

42     Auf Ansprüche aus der Verordnung werden bei einer Inlandsbeförderung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland die Gerichtsstandsregelungen der Zivilprozessordnung (ZPO) angewendet, bei solchen innerhalb Österreichs diejenigen der österreichischen Zivilprozeßordnung (öZPO).

43     In anderen Fällen ist zu unterscheiden, ob das beklagte Luftfahrtunternehmen seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Drittstaat (d.h. einem Staat außerhalb der Europäischen Union) hat. Im ersten Falle kommt die Verordnung EuGVVO oder Brüssel I-VO zur Anwendung, im zweiten Falle sind es die Gerichtsstandsregelungen nach der Zivilprozessordnung (ZPO), soweit der Fall in Deutschland anhängig gemacht wird. Das Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) gilt noch im Verhältnis zu Dänemark. Im Verhältnis zur Schweiz und den EWR-Staaten (Norwegen, Island, Liechtenstein) sowie zu Polen ist ein im Wesentlichen inhaltsgleiches Übereinkommen, das Luganer Übereinkommen, anzuwenden.

44     Auf Vorlage des BGH (Beschl. v. 22.04.2008 – X ZR 76/07, RRa 2008, 177 = NJW 2008, 2121) musste sich der Europäische Gerichtshof mit der Frage des Gerichtstands befassen. Er vertrat die Meinung, dass ein Fluggast eines innergemeinschaftlichen Fluges mit einem  Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft zur Durchsetzung seines Rechtsanspruchs auf einen Anspruch nach Art. 7 VO Klage entweder am allgemeinen oder am besonderen Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach Art. 5 Nr. 1 lit. b VO 44/2001 (Brüssel I-VO) erheben kann, und zwar wahlweise beim Gericht des Abflugs- oder des Ankunftsorts (EuGH, Urt. v. 09.07.2009, Rs. C-204/08 − Rehder v. Air Baltic, Slg. 2009, I-6073 = RRa 2009, 234 = EuZW 2009, 569; vgl. auch die Anm. von Kummer, RRa 2009, 267, 268 f. zu den Schlussanträgen der Generalanwaltschaft sowie Mankowski, TranspR 2009, 303; Staudinger, RRa 2009, 219). Dieser Gerichtsstand gilt auch für einen Reiseveranstalter, wenn er zusammen mit dem Luftfahrtunternehmen  wegen eines verspäteten Rückfluges gesamtschuldnerisch auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird (OLG Frankfurt, Urt. v. 30.07.2012 – 11 AR, 142/12, NJW-RR 2013, 59).

44a     Wenn also ein segmentierter Flug von einem einzigen Luftfahrtunternehmen ausgeführt wird, ist bei der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit insgesamt auf die zurückgelegte Strecke abzustellen (ebenso: AG Frankfurt a.M., Urt. v. 27.11.2014 – 31 C 3804/13 -23, RRa 2015, 80). A.A. ist dagegen das LG Berlin, das die Ansicht vertritt, dass bei einem Flug von Santo Domingo über Paris nach Berlin, der insgesamt von einem Luftfahrtunternehmen ausgeführt wird, kein (internationaler) Gerichtsstand bei einem Gericht in Berlin gegeben ist, wenn der erste Flug verspätetet wird und der Fluggast den (nicht verspäteten) Anschlussflug von Paris nach Berlin nicht erreicht und deswegen mit großer Verspätung am Endziel ankommt (Urt. v. 02.12.2015 – 84 S 7/15). Das Gericht deutet aber an, dass die Rechtslage aber u.U. anders zu beurteilen wäre, wenn der Anschlussflug auf den Zubringerflug gewartet hätte und der Fluggast deswegen das Endziel Berlin erreicht.

44b     Wird dagegen die Beförderung eines Fluggastes von einem Mitgliedstaat über einen anderen in einen dritten Mitgliedsstaat im Rahmen einer einheitlichen Buchung von zwei Luftfahrtunternehmen durchgeführt, ist nach Ansicht des LG Stuttgart (Urt. v. 10.12.2014 – 13 S 115/14, RRa 2015, 21, Rev. zugel.) bei großer Verspätung des zweiten Fluges für eine Klage auf Ausgleichsleistung nach Wahl des Klägers ausschließlich das Gericht des Abflugortes oder des Ankunftsortes des zweiten Fluges zuständig (ebenso: AG Frankfurt, a.a.O.; LG Bremen, Urt. vom 05.06.2015 – 3 S 315/14, NJW-RR 2015, 1402 = RRa 2016, 72). Der Ansicht des LG Stuttgart folgt auch das LG Frankfurt (Urt. vom 20.08.2015 – 2-24 S 31/15 – RRa 2016, 21) und hält für den Kläger, der das falsche, nämlich die erste Teilstrecke abfliegende Unternehmen verklagt hatte, den Trost bereit, dass es ihm die sog. Small-Claims-Verordnung (Verordnung [EG] Nr. 861/2007) ermögliche, Ansprüche gegen das zweite Unternehmen einfach, kostengünstig und schnell durchzuführen. Im Übrigen sei diese Entscheidung auch interessengerecht, da zum einen der buchende Kunde dann, wenn er keinen Direktflug auswählt, damit rechnen müsse, dass das vertragliche Luftfahrtunternehmen sich für Teilstrecken anderer Unternehmen bediene, während das ausführende Luftfahrtunternehmen lediglich Klagen an den Orten ausgesetzt sehen soll, die einen Bezug zu dem durchgeführten Flug aufwiesen.

45     Im Übrigen ist es herrschende Meinung, dass eine gerichtliche Zuständigkeit sowohl am Ort des Startflughafens als auch am Ort des Endziels gegeben ist, jedenfalls soweit mehrere Flugabschnitte durch dieselbe Fluggesellschaft durchgeführt werden. Blankenburg (RRa 2013, 61, 63) verweist auf die sich daraus ergebende Problematik, dass zwar die Zuständigkeit bejaht wird, jedoch im Anschluss die materielle Anwendbarkeit der Verordnung abgelehnt wird (wie LG Frankfurt, Urt. v. 05.01.2012 – 2-24 S 145/11, RRa 2012, 87, 89, bestätigt durch BGH, Urt. v. 13.11.2012 – X ZR 14/12 – ZLW 2013, 525). Die in diesem Zusammenhang oft zitierte Entscheidung des BGH aus dem November 2012 (Urt. v. 13.11.2012 − X ZR 12/12, Rn. 8, RRa 2013,19) ist nicht einschlägig, da die Zuständigkeit der Vorinstanzen in entsprechender Anwendung von § 39 ZPO bejaht worden ist, da sich das beklagte Unternehmen rügelos zur Sache eingelassen hatte.

46   Werden  Luftfahrtunternehmen mit Sitz außerhalb der Europäischen Union auf eine Ausgleichsleistung nach der Fluggastrechte-Verordnung in Anspruch genommen, sind bei einem geplanten oder tatsächlichen Abflug von einem in Deutschland gelegenen Flugplatz die deutschen Gerichte zuständig. Die internationale Zuständigkeit ist in diesem Fall nicht nach der Brüssel I-Verordnung zu bestimmen, sondern nach den Zuständigkeitsregeln der Zivilprozessordnung; es gilt somit der Ort des besonderen Gerichtsstands des Erfüllungsortes (§ 29 Abs. 1 ZPO). Da sich der Anspruch auf Ausgleichszahlung aus Gemeinschaftsrecht ableitet und damit unabhängig von der der Beförderung zugrundeliegenden vertraglichen Beziehung besteht, ist die Frage, wo die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist, anhand von gemeinschaftsrechtlichen und nicht nach vertragsrechtlichen Maßstäben zu beantworten. Daher ist zur Bestimmung des Erfüllungsortes Art. 5 Nr. 1 lit. b, 2. – Brüssel I-VO heranzuziehen. Danach kann die Klage auf Ausgleichszahlung sowohl am Ort der vertragsgemäßen Leistungserbringung und damit am Abflugort (BGH, Urt. v. 18.01.2011 – X ZR 71/10, BGHZ 188, 85 = RRa 2011, 79 = NJW 2011, 2056) als auch am Ort der vertragsgemäßen Ankunft des Fluges erhoben werden (OLG Koblenz, Urt. v. 11.01.2008 − 10 U 385/07, RRa 2008, 181; LG Hannover, Urt. v. 18.01.2012 – 14 S 52/11, RRa 2012, 185 m. krit. Anm. Staudinger; Zivilgericht Basel-Stadt, Urt. v. 20.06.2011, RRa 2011, 286, das dementsprechend, da auch der schweizerische Sektor des Flughafens „Basel-Mulhouse-Freiburg“ auf französischem Hoheitsgebiet liegt und sich der Abflugort und damit der Erfüllungsort auf französischem Boden befindet, französisches Recht für anwendbar erklärt und nicht ein schweizerisches, sondern ein französisches Gericht für zuständig erklärt.). Bei einem einheitlich gebuchten Direktflug (z.B. von New York über Amsterdam nach Berlin) ist auch der Zielflughafen (im Beispiel: Berlin) Erfüllungsort der geschuldeten Beförderungsleistung (so auch: AG Wedding, Urt. v. 27.06.2011 – 19 C 84/11). Ausführlich zum Erfüllungsortsgerichtstand: Staudinger, RRa 2009, 219 ff.  Zur internationalen Zuständigkeit und Anwendbarkeit der Fluggastrechte-Verordnung bei Zwischenlandungen siehe Staudinger, RRa 2010, 154, ff.).

47     Aus Sicht des Verbrauchers wäre es wünschenswert, wenn er einen Gerichtsstand bei dem Gericht hätte, in dessen Gerichtsbezirk er seinen ständigen Wohnsitz begründet hat. Ein solcher Gerichtstand würde aber mit der Gerichtsstandsregelung des Art. 33 MÜ, das höherrangiges Recht darstellt, kollidieren, weshalb auch Art. 15 Abs. 1 Brüssel I-VO für Beförderungsverträge nicht gilt (siehe dazu Tonner, Die EU-Flugastrechte-Verordnung und das Montrealer Übereinkommen, VuR 2001, 203, 205).

48     Da aber Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft auch in einem Mitgliedstaat tätig werden können, in dem sie nicht ihren Sitz haben, ist es für einen Fluggast wenig komfortabel, wenn er diese Unternehmen an ihrem Unternehmenssitz verklagen muss. Sicher ist einem deutschen Fluggast auch eine Klage in Dublin, London oder an anderen Orten im europäischen Ausland zumutbar, doch schreckt das viele Verbraucher ab. Angesichts der oft recht niedrigen Streitwerte ist der Aufwand einer Klage im Ausland zu groß, zumal die Klageschrift übersetzt werden muss. Unter dem Gesichtspunkt eines vernünftigen Verbraucherschutzes sollte daher von einem ausländischen Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft, das Flugdienste zu, von oder in einem anderen Mitgliedstaat anbietet, verlangt werden, dass es eine Niederlassung in dem Mitgliedsstaat begründet, zu, aus oder in dem es Flugdienste anbietet. Will man das nicht oder hat das Luftfahrtunternehmen eine solche Niederlassung nicht begründet, könnte alternativ oder ersatzweise ein Gerichtsstand am Abgangs- oder Bestimmungsort des Fluges in Betracht gezogen und in der Fluggastrechte-Verordnung festgeschrieben werden.

48a     Auf einer Flugreise von D über E nach F, bei dem die erste Teilstrecke vom Luftfahrtunternehmen A, die zweite vom Luftfahrtunternehmen B durchgeführt wird, ist bei einer Klage gegen das Unternehmen A wegen Verspätung des ersten Fluges am Ankunftsort F der nachfolgenden Teilstrecke ist nach Ansicht des LG Frankfurt (Urt. v. 20.08.2015 – 2-24 S 31/15) kein internationaler Gerichtsstand begründet.

48b     Ebenso haben bei einem vergleichbaren Sachverhalt das AG Nürtingen (Urt. v. 16.06.2014 – 11 C 6/14) und das LG Stuttgart Urt. v. 10.12.2014 – 13 S 115/14, RRa 2015, 21) entschieden. Der Kläger hatte bei der Fluggesellschaft A unter deren Flugnummern eine Flugverbindung von Stuttgart über Paris nach Helsinki gebucht. Die Beförderung von Paris nach Helsinki erfolgte im Wege des Code-Sharing durch F. Der Flug auf dieser zweiten Teilstrecke hatte eine Verspätung von mehr als drei Stunden. Das LG Stuttgart hat in diesem Fall lediglich einen Gerichtsstand am Abflug- oder Ankunftsort des zweiten Fluges bejaht.

48c     Anders als die Vorinstanzen ist der BGH der Ansicht, dass bei diesem Sachverhalt ein Gerichtsstand ebenso am Abflugort der ersten Teilstrecke, also am Flughafen Stuttgart, eröffnet sei. Zum einen dürfte eine Klage auf Ausgleichszahlung auch dann im Gerichtsstand des der Luftbeförderung zugrundeliegenden Vertrags erhoben werden können, wenn das nach der Fluggastrechte-Verordnung verpflichtete ausführende Luftfahrtunternehmen nicht zugleich der Vertragspartner des Fluggastes ist. Dafür spricht bereits, dass die Ansprüche nach der Fluggastrechteverordnung eine vertragliche Grundlage der Beförderungsleistung voraussetzen. Zum anderen dürfe bei einer nach dem Vertrag mehrgliedrigen Flugverbindung ohne nennenswerten Aufenthalt auf den Umsteigeflughäfen der Abflugort der ersten Teilstrecke auch dann als zuständigkeitsbegründender Erfüllungsort anzusehen sein, wenn die Klageansprüche aus Ereignissen auf einer anderen Teilstrecke resultieren. Dies entspräche einer konsequenten Anknüpfung an die vertragliche Grundlage der Beförderungsleistung. Dem ist zuzustimmen. Folgerichtig hat der BGH beschlossen, die Rechtsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen (Beschl. v. 18.08.2015 – X ZR 2/15, RRa 2015, 297).

49     Für ein schweizerisches Luftfahrtunternehmen, das (wie die Swiss International Airlines) im Kanton Basel-Stadt seinen Sitz hat, ist nach Art. 2 Abs. 1 des Lugano-Übereinkommens das Zivilgericht Basel-Stadt zuständig. Wenn aber ein nicht schweizerisches Luftfahrtunternehmen bei einem Flug von oder nach Basel am Erfüllungsort (Ort des Abflugs oder der Ankunft) verklagt werden soll, ist dieses Gericht nicht zuständig, weil sich der Flughafen Basel-Mulhouse-Fribourg samt seinem Schweizer Sektor auf französischem Staatsgebiet befindet. Bei einem Flug von Basel zu einem deutschen Verkehrsflughafen oder umgekehrt wäre eine Klage daher bei dem zuständigen französischen oder deutschen Gericht zu erheben (Zivilgericht Basel-Stadt, Urt. v. 20.06.2011, Baseler Juristische Mitteilungen (BJM) 2012, 98 ff. = ASDA-Bulletin 145/2013, 81 ff; vgl. dazu auch AG Hannover, Urt. v. 28.03.2014 – 562 C 9420). Ausführlich dazu Burckhardt, ASDA-Bulletin 145/2013, S.74 ff. und Kost, ASDA-Bulletin 144/2012, 22 ff. Siehe dazu auch die ausführliche und informativer Begründung des BGH im Vorlagebeschluss vom 09.04.2013 (X ZR 105/12, RRa 2013, 183 = TranspR 2013, 307); siehe auch die Zusammenfassung bei: Hausmann, Europäische Fluggastrechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung von Flügen. Verordnung (EG) Nr. 261/ 2004, 2012).

49a   Nach der Rechtsprechung des BGH (Urt. vom 19.05.2015 – XI ZR 27/14, NJW 2015, 2667) und des EuGH (Urt. vom 27.02.2014, Rs. C-1/13 – Cartier parfums – lunettes SAS ./. Ziegler u.a., Rn 36 m.w.N.) kann die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte auch nach Art. 24 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO durch rügelose Einlassung begründet werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn die beklagte Partei es unterlässt, bereits im Klageerwiderungsschriftsatz eine entsprechende Rüge zu erheben. Nachträgliche Rügen, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, genügen nicht, um die so begründete internationale Zuständigkeit zu beseitigen. Etwas anderes gilt, wenn außerhalb des Geltungsbereichs des Art. 26 EuGVVO die rügelose Einlassung auf der Grundlage von § 39 ZPO angenommen werden soll. Hier kann die beklagte Partei die Rüge so lange erheben, als sie noch nicht mündlich zur Hauptsache verhandelt hat.

5.    Schwierigkeiten bei der Klagezustellung

50    Es sollte den Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft auch aufgegeben werden, in jedem Mitgliedsstaat, zu, von oder in dem es Flugdienste anbietet, einen Repräsentanten zu benennen, an den rechtswirksam Klagen zugestellt werden können. Wenn gleichzeitig zur Pflicht gemacht würde, dass dieser Repräsentant entweder Angehöriger des Mitgliedstaates ist, jedenfalls aber dessen Sprache beherrschen muss, wäre die Zustellung einer Klage in der Amtssprache des angerufenen Gerichts sehr viel leichter möglich.

51     Ob ein ausländisches Luftfahrtunternehmen berechtigt ist, nach Art. 8 der EuZustVO (Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten) berechtigt ist, die Annahme zu verweigern, wenn die Klage in deutscher Sprache abgefasst ist, wird teilweise bezweifelt. Das AG Erding hat entschieden, dass ein ausländisches Luftfahrtunternehmen nicht berechtigt sei, die Annahme einer ihm zugestellten Klageschrift, die in deutscher Sprache abgefasst und der keine Übersetzung beigefügt ist, zu verweigern, wenn es ihm aufgrund der im gesamten Unternehmen faktisch vorhandenen Sprachkenntnisse möglich ist, die deutsche Sprache hinreichend zu verstehen (Versäumnisurt. v. 05.12.2013 – 4 C 1702/134, RRa 2014, 183). Ob im Einzelfall tatsächlich von ausreichenden Sprachkenntnissen ausgegangen werden kann, dürfte schwierig darzulegen sein. Die Entscheidung des EuGH (Urt. v. 08.05.2008 – C 14/07 – NJW 2008, 1721), ergangen auf eine Vorlage durch den BGH (Beschl. vom 21.12.2006 – VII ZR 164/05 – NJW 2007, 775) läßt die Frage offen, auf wessen Sprachkenntnisse bei juristischen Personen abzustellen ist. Das OLG Frankfurt (Beschl. v. 1.7.2014 – 6 U 104/14, GRUR-RR 2015, 183) hat die Ansicht vertreten, dass selbst das Vorhalten deutschsprachigen Personals auf einer in Deutschland stattfindenden Messe nicht die Annahme rechtfertigt, dass auch das für die Entgegennahme von Zustellungen im Heimatland eingesetzte Personal der deutschen Sprache mächtig ist. Es kann daher nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass bei einem international tätigen Luftfahrtunternehmen die insoweit erforderlichen Sprachkenntnisse vorhanden sind, weswegen es sich empfiehlt, jeweils eine Übersetzung der Klageschrift in die Landessprache beizufügen.

51a   Nach der zutreffenden Ansicht des AG Erding ist ein ausländisches Luftfahrtunternehmen nicht berechtigt, die Annahme einer ihm zugestellten Klageschrift, die in deutscher Sprache abgefasst und der keine Übersetzung beigefügt ist, zu verweigern, wenn es ihm aufgrund der im gesamten Unternehmen faktisch vorhandenen Sprachkenntnisse möglich ist, die deutsche Sprache hinreichend zu verstehen (Versäumnisurt. v. 05.12.2013 – 4 C 1702/134, RRa 2014, 183).

IV. Die Auslegung der Verordnung

52     Nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ist jeder Unionsrechtsakt (und damit auch die Fluggastrechte-Verordnung) so weit wie möglich in einer Weise auszulegen, die seine Gültigkeit nicht in Frage stellt und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht steht (EuGH, Urt. v. 16. 09. 2010, Rs. C‑149/10 − Chatzi, Slg. 2010 I‑8489, Rn. 43; Urt. v. 31.01.2013, Rs. C 12/11 – McDonagh ./. Ryanair, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223 ). Dabei sind die Ziele des Rechtsakts, die in den Erwägungsgründen niedergelegt sind (hohes Schutzniveau für die Fluggäste), in den Vordergrund zu stellen.

53    Schließlich darf die Auslegung nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dem Diskriminierungsverbot, dem Gleichheitsgrundsatz und den Art. 16 und 17 der Grundrechtscharta zuwiderlaufen (EuGH Urt. v. 31.01.2013, Rs. C 12/11 – McDonagh ./. Ryanair, Rn. 44, RRa 2013, 81 = NJW 2013, 921 = EuZW 2013, 223; EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Rs. C‑344/04 − IATA und ELFAA, Slg. 2006, I‑403) 

54    Der deutsche Text der Verordnung ist keine bloße nicht-amtliche Übersetzung, sondern in einer Amtssprache der Europäischen Union verfasst und somit zunächst aus sich heraus auszulegen. Der Rechtsvergleich mit Texten anderer Amtssprachen kann allenfalls ergänzend betrachtet werden.